70 Jahre Grundgesetz - Warum Freiheit, warum Demokratie?

Zu seinem 70. Geburtstag wollen die Lobeshymnen auf das Grundgesetz nicht enden. Doch damit einher geht auch die Gefahr einer satten Selbstzufriedenheit und der Erstarrung der politischen Debatte. Warum wir den Meinungen Andersdenkender wieder mehr Raum geben müssen

Die Lobeshymnen auf das Grundgesetz wollen nicht enden / picture alliance
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Autoreninfo

Otto Depenheuer ist Professor für Öffentliches Recht, Allgemeine Staatslehre und Rechtsphilosphie an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität von Köln. 

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Keine Verfassung Deutschlands ist mehr gelobt, ausgiebiger gewürdigt und aufwendiger gefeiert worden als das „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“, das am 23. Mai 1949 verkündet und mit Ablauf dieses Tages in Kraft getreten ist. Es symbolisiert und fundiert eine einzige Erfolgsgeschichte: eine Zeit stabilen Friedens, maximaler der Entfaltung individueller Freiheitsräume, eines nahezu  ungebrochenen wirtschaftlichen Aufstiegs mit dem Ergebnis eines historisch unvergleichlichen Wohlstands, sowie einer stabilen Integration in die internationale Gemeinschaft, die Deutschland vom verfemten Paria zum geachteten Partner hat werden lassen.

Vom Glück getragen, vom Erfolg verwöhnt, wollen die Lobeshymnen auf das Grundgesetz nicht enden. Das zeigt schon ein Blick auf die GG-Jubiläen in 70 Jahren: alle 5 bzw. 10 Jahre finden entsprechende Feierstunden, Kongresse, Symposien statt, werden Festschriften, Sammelwerke und Einzelstudien publiziert, alle mit dem immer gleichen gleichen Tenor: „eine großartige Verfassung“. In 70 Jahren summieren sich die Huldigungen zu beachtlichem Umfang und ließen sich leicht zu einer Hagiographie des Grundgesetzes verdichten. Im Folgenden sei einmal eine gegenläufige Perspektive eingenommen, die im Erfolg des Grundgesetzes ein verfassungsrechtliches Problem sieht.

Wie die Bibel verehrt

Während die Politik die Lasten „verfassungsgebotener und verfassungskonformer“ Entscheidungen zu tragen hat, kann die Verfassung immer ganz bei sich selbst bleiben: losgelöst von den heiklen Problem praktischer Umsetzung erwächst ihr so nach und nach eine neue Qualität zu: die Funktion der Unverfügbarkeit, des Absoluten, ja des Sakralen. Sie wird zwischenzeitlich verglichen und verehrt wie die Bibel. Immer mehr Menschen suchen im Grundgesetz das „Ewige“, obwohl die Verfassung in Art. 146 GG ausdrücklich ihr Ende vorsieht. Ungeachtet dessen wird das GG zum letzten Anker des „Unverfügbaren“ in unsicheren Zeiten: „Himmel und Erde werden vergehen, aber die Verfassung wird bestehen.“

Man könnte das alles als Marotte abtun, wenn es nicht faktische Folgen hat: ich nenne nur die Gefahren satter Selbstzufriedenheit, die kategorische Unterschutzstellung verfassungsrechtlicher Errungenschaften mit der Folge einer zunehmenden Sklerosierung und Moralisierung der politischen Debatte. Man kann und will das Gegenteil der bisher Erreichten nicht mehr denken. Die Folge: Verlust an politischer Urteilskraft und vor allem des Vermögens, die Alternativen seiner selbst auch nur zu denken.

Risiko der freiheitlichen Verfassungsordnung

Eine derartige mentale Erstarrung des politischen Denkens ist aber das Gegenteil dessen was eine freiheitliche Verfassung erreichen will. Sie kann unversehens zum Risiko der freiheitlichen Verfassungsordnung werden, dann nämlich, wenn sich die geschichtlichen – die geopolitischen, die technologischen, die ökonomischen – Rahmendaten substantiell verändern. Da geschichtliche Prozesse sich zu ereignen pflegen, ohne danach zu fragen, ob sie verfassungsrechtlich zulässig und politisch genehm sind, empfiehlt es sich, darauf politisch zu reagieren.

Aber das Selbstverständnis, im Besitz der denkbar besten Verfassung aller Zeiten zu sein, die jahrelang als ideelles deutsches Exportgut anderen Staaten der ganzen Welt angedient wurde, steht einer offenen Diskussion, die alle Optionen frei diskutiert und demokratisch entscheidet, tendenziell im Wege. Daher einige wenige Bemerkungen zum Zustand der grundgesetzlichen Demokratie und dies ganz im Sinne des Grundgesetzes: dieses versteht sich als Arbeitsverfassung, der Lobhudelei eher unangenehm ist, die vielmehr aktiv gelebt, stetig verbessert, in ihren Inhalten stets offen diskutiert werden will.

Alles irgendwie „alternativlos“

Glaubt man dem veröffentlichten Meinungsbild, dann leben wir in der lebendigsten Demokratie der deutschen Geschichte. In einem eigenartigen Kontrast dazu stehen zwei Befunde: Immer weniger werden zentrale politische Entscheidungen im politischen Raum diskutiert und im demokratisch legitimierten Deutschen Bundestag getroffen: EURO-Rettung, Atomausstieg, Grenzöffnung, Rechtsschreibreform, 40mg CO2-Ausstoss etc. In allen Fällen gab es vor der Entscheidung keine öffentliche Diskussion, keinen öffentlich ausgetragenen Streit widerstreitender Meinungen, keine Abwägung mit gegenläufigen, aber auch legitimen Interessen. Alles war irgendwie „alternativlos“.

Das hat natürlich zu Teilen strukturelle Gründe, denen man sich weithin nicht entziehen kann. So können nationalstaatlich verfasste Demokratien transnationale Märkte schwer regulieren und ihre zunehmende Einbindung in internationale Organisationen (EU/UNO/WTO) verengen demokratische Kontrollmöglichkeiten. Aber all das müsste zur Frage führen, wie das demokratische Ideal in der heutigen Welt überhaupt noch verwirklicht werden kann oder ob über Alternativen nachgedacht werden müsste. Aber auch insoweit der ernüchternde Befund: keine politische Debatte. Die Situation ließe sich so formulieren: je wesentlicher eine politische Entscheidung ist, desto mehr entzieht sie sich der öffentlichen Diskussion und demokratischen Legitimation. Und kaum einer regt sich auf.

Immer mehr Tabuzonen

Gleichzeitig verengt sich auch noch das Feld der öffentlichen Diskussion. Eine gerade heute in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentliche Studie des Allensbacher Instituts für Demoskopie kommt zu dem Ergebnis, dass eine Mehrheit der Bürger der Auffassung ist, dass der Raum für die Meinungsfreiheit kleiner wird und immer mehr Themen zu Tabuzonen werden. Fast zwei Drittel der Bürger sind überzeugt, man müsse heute „sehr aufpassen, zu welchen Themen man sich wie äußert“, da es viele ungeschriebene Gesetze gebe, welche Meinungen akzeptabel und zulässig sind.

Beide Befunde nagen an den Fundamenten einer lebendigen Demokratie und wären schon deswegen eines vertieften Nachdenkens über den Zustand unserer Demokratie würdig. In unserem Zusammenhang entscheidend: die großen Entscheidungen unterlaufen das demokratische Ideal der Mitbestimmung, während die political correctness das Meinungsspektrum verengt. Wenn aber derart die wirkliche politische Debatte verkümmert oder schon gar nicht mehr stattfindet, dann verwundert es schon weniger, wenn die Unterhaltungsindustrie Ersatzangebote für das demokratische Engagement in Form des beliebigen Mitredens und Abstimmens bereitstellt: Man spielt Demokratie, während sie uns gleichzeitig aus den Händen entgleitet.

Keine politische Rückversicherung

Daher müsste eine auch staatstheoretisch viel zu selten gestellte Frage erneut gestellt: Warum überhaupt Freiheit, warum Demokratie? Wir sind es gewohnt, diese zentralen Eckpunkte unserer politischen Ordnung als ebenso selbstverständliche wie glanzvolle Errungenschaften der Neuzeit darzustellen und der ganzen übrigen Welt zur Nachahmung zu empfehlen. Tatsächlich aber sind sie nur der spröde Ersatz für eine elementare Verlusterfahrung, die heute einmal mehr in seiner ganzen Tragweite erkennbar wird, nämlich der Verlust der transzendenten religiösen Wahrheit im Verlauf der Reformation.

Der Schmerz dieser ersten „Entzweiung“ (Hegel) wird deutlich, wenn man daran erinnert, dass diese Verlusterfahrung zu den blutigsten Kriegen auf deutschem Boden geführt und der Hälfte der Bevölkerung das Leben gekostet hat. Im Ergebnis können sich die Menschen seither nur noch für sich selbst, nicht aber mehr als politische Gemeinschaft an Gott oder einer vorgegebenen Wahrheit orientieren. Die politische Welt ist existentiell auf sich allein gestellt: es gibt keine transzendente Rückversicherung.

Freiheit ist Willkür, Mehrheit ist Zufall

Aus der bitteren Erkenntnis, dass keiner um die Wahrheit weiß, und man sie allenfalls glauben kann, folgt als Konsequenz, dass die Wahrheit im modernen Staat keinen öffentlichen Status mehr hat. Diesen Verlust kompensiert der moderne, säkulare Staat mit einer genialen Antwort: nämlich Grundrechte, das heißt die Freiheit des Einzelnen zur Selbstbestimmung („jeder kann glauben, was er will“) und Demokratie, das heißt kollektive Selbstbestimmung der Bürger nach Maßgabe des Mehrheitsprinzips beim Erlass von Rechtsgesetze, damit die Freiheit eines jeden mit der anderer zusammen bestehen kann (Kant). Beides hat aber mit Wahrheit nichts zu tun: Freiheit ist Willkür, Mehrheit ist Zufall (Luhmann).

Dieser Befund hat aber auch sein Gutes: Wenn alle wissen, dass nicht nur wir selbst, sondern alle anderen die Wahrheit nicht kennen, dann empfiehlt es sich, dem anderen auch zuhören, dann wird es interessant, was und warum er etwas anderes sagt und denkt als man selbst, kurz: man kann im und durch Gespräch und Diskussionen „lernen“ und gute Lösungen für allfällige Probleme finden.

Demokratie in Gefahr

Die angesprochene Tendenz zur Verfassungssakralisierung zeigt wie gefährdet Demokratie auch heute ist. Die Menschen haben den Verlust der religiösen Wahrheit noch längst nicht verkraftet. Sie glauben das zwar, lechzen insgeheim aber nach Gewißheit und viele glauben, sie in der Verfassung zu finden. Das muss dann freilich zu problematischen Formen der Regression der öffentlichen Debatte führen. Wenn in dieser Debatte nicht mehr jede ernsthafte Meinung anderer unvoreingenommen zur Kenntnis genommen wird, man sich nicht mehr ergebnisoffen auseinandersetzt, sondern abweichende Meinungen moralisch diskreditiert oder in Form der political correctness zum Schweigen bringt, dann gerät die Demokratie ernsthaft in Gefahr: dann erhebt wiederum ein neuer Wahrheitsanspruch  im Gewand moralischer Überlegenheit einen Herrschaftsanspruch.

Anders formuliert: wenn wir unsere grundgesetzliche Demokratie aus Angst nicht auch gegen grundsätzliche Infragestellungen diskursiv verteidigen können oder wollen, gerade dann werden wir sie auch auf Dauer nicht bewahren können. Entweder können wir unsere vom Grundgesetz normierte politische Ordnung auch heute als erfolgreiche praktisch unter Beweis stellen und theoretisch überzeugend begründen, oder wir haben sie schon verloren. Entweder haben wir die besseren Argumente oder wir haben sie nicht. Maßstab für eine lebendige Demokratie ist also nicht eine „Wünsch-Dir-Was-Demokratie“, sondern eine, die sich selbst immer wieder kritisch die politischen Grundfragen an sich selbst stellt, um sich in der Zeit erfolgreich zu behaupten.

Zugegeben, das verlangt viel Disziplin: Zuhören – Verstehen – Denken – Argumentieren. Demokratie war nie und ist auch heute kein Selbstläufer. Auch insoweit gilt, dass man diese Errungenschaft stets neu erwerben muss, um sie auch wirklich zu besitzen (Goethe). Dazu bedarf es Persönlichkeiten, die den Mut zum Zuhören, Denken und zum öffentlichen Wort haben, die die Welt verstehen wollen und bereit sind, die eigene Position in Frage zu stellen, um den Herausforderungen der Zukunft Rechnung tragen zu können. Dies zu ermöglichen, das ist zugleich Herausforderung wie Leistung von Demokratie, Freiheit und Parlamentarismus.

Agree to disagree

Mir scheint, dass wir auch heute wieder mehr authentischen Persönlichkeiten in und außerhalb des Parlaments brauchen, die zuhören wollen, nachdenken können, und die die „ehrliche Meinung Andersdenkender“ (Konrad Adenauer) nicht vorschnell abtun, nicht moralisch diskreditieren oder in die Fallgruben der politicall correctness laufen lassen, sondern sie zum Gegenstand eigenen Nachdenkens, des Verstehens machen und sich dann eine eigene Meinung bilden und diese wiederum in die Debatte einführen.

Gerade heute, wo große Teile der Bevölkerung der öffentlichen Diskussion misstrauen, erscheint mir diese für den Zusammenhalt des Gemeinwesens so zentrale Integration aller Meinungen, das agree to disagree, dringend und notwendiger zu sein denn je. Möge zum Glück der Verfassung heute in Politik und Gesellschaft der Mut zur freien, offenen und unbefangenen Diskussion gestärkt werden. Dann braucht man sich um das Grundgesetz auch in Zukunft und unter veränderten Umständen keine Sorgen zu machen.

 

Dies ist ein Auszug aus Otto Depenheuers Festrede „Das Glück des Grundgesetzes“, die er am 23. Mai 2019, im Plenarsaal des Bundesrates hielt.
70 Jahre zuvor war dies der Sitzungssaal des Parlamentarischen Rates, wo das Grungesetz feierlich ausgefertigt und verkündet wurde.

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