Grünen-Streit über Identitätspolitik - „Den Aktivisten mangelt es an Selbstreflektion“

Über dreißig Grünen-Politiker wenden sich in einem Aufruf gegen linke Identitätspolitik, darunter Boris Palmer und Rebecca Harms. Die Initiatorin, Mitglied der Grünen seit 1980, erklärt, wie der Diskurs über die Interessen von Minderheiten in Unfreiheit umschlagen kann.

Tolle Show oder unzulässige kulturelle Aneignung? Indianer-Darsteller bei der traditionellen „Apachen-Show“ in Neu Damerow/Mecklenburg-Vorpommern 2019 / dpa
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Die Bremer Grünen-Politikerin Helga Trüpel gehört zu den Initiatoren eines Aufrufs mit dem Titel „Ohne Angst verschieden sein“, der sich in deutlichen Worten gegen linke Identitätspolitik wendet. Er ist unterschrieben von etwa 35 Grünen-Mitgliedern, darunter Prominente wie Rebecca Harms und Boris Palmer. Trüpel ist seit 1980 Mitglied der Grünen, war in Bremen Kultursenatorin und bis 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments. Heute ist sie ehrenamtlich tätig, unter anderem als Vorsitzende der Europa-Union. Den Text des Aufrufs finden Sie am Ende des Interviews.

Frau Trüpel, Sie schreiben in ihrem Aufruf: „Wir haben uns immer gegen rechte Identitätspolitik eingesetzt, sind den Pegida- Aufmärschen entschieden entgegengetreten. Aber genauso wenden wir uns auch gegen linke Identitätspolitik!“ Das ist harter Tobak für die Grünen. Was hat Sie dazu bewogen?

Wir stehen für die berechtigten Interessen der LGBTQI -Bewegung und anderer Minderheiten und wollen ihre völlige rechtliche Gleichstellung. Aber wir müssen über die Frage diskutieren: Was halten wir für eine freiheitliche Kultur? Wie gehen wir mit den berechtigten Interessen von Minderheiten um, aber wo schlägt dieser Diskurs in neue Unfreiheit um?

Aber was hat Sie denn konkret „getriggert“, diesen Aufruf zu veröffentlichen?

Die Grünen-Politikerin Helga Trüpel

Vor über einem Jahr hat die Grünen-Politikerin Marina Weisband auf dem Neujahrsempfang der Grünen in Bremen gesagt, wir müssten eine einfachere Sprache sprechen, um die Menschen zu erreichen. Gleichzeitig hat sie immer von Lehrer*Innen gesprochen. Da dachte ich erstmals: Da ist doch ein Widerspruch. Dann kam die Debatte um die Frage, wer das Gedicht von Amanda Gorman übersetzen darf, die Auseinandersetzungen um Cancel Culture in den USA, dann die Diskussion um Wolfgang Thierses Debattenbeitrag. Konkreter Anlass für die Entscheidung, innerhalb der Grünen eine Debatte zu fordern, war die Causa Bettina Jarasch.

Die Berliner Grünen-Vorsitzende, die auf dem Parteitag gesagt hat, als Kind wäre sie gerne Indianerhäuptling geworden – und sich nach Kritik aus den eigenen Reihen dafür entschuldigen musste.

Ich fand ihre Entschuldigung falsch. Die Erwartung, Kindheitserinnerungen müssten reflektiert sein, halte ich für überzogen. Unsere Generation ist mit Old Shatterhand aufgewachsen, da waren die Indianer die Guten und die Cowboys waren die Bösen. Jetzt zu sagen: Ich habe nicht reflektiert genug meine Kindheitsträume geäußert, ist unangemessen. Einige Tage später wurde dann aus dem online zugänglichen Video des Parteitags die entsprechende Passage herausgelöscht, um keine indigenen Gruppen zu beleidigen. Das Löschen finde ich falsch.

Bei der Identitätspolitik hat man zuweilen das Gefühl, Politiker machten lieber einen Rückzieher angesichts einer lauten Minderheit, mit der man sich lieber nicht anlegen möchte.

Soweit ich weiß, ist Frau Jarasch bei dem Thema sehr engagiert. Aber gerade weil die Grünen zu dem Milieu gehören, das den Diskurs zu Themen wie LGBTIQ und Postkolonialismus vorantreibt, muss gelten: Wenn man selbst so genau hinschaut, wo etwas schiefläuft, muss man bereit sein, zu erkennen, wo im eigenen Milieu Dinge übertrieben werden. Ich sehe da merkwürdige Übertreibungen und einen Habitus, bei dem es nur noch darum geht, wer etwas sagt und nicht, was er oder sie sagt. Eine weiße nicht-binäre Frau soll nicht das Gedicht einer Schwarzen übersetzen? Ein renommierter Professor für Afrikanistik, der sich seit Jahrzehnten für die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte einsetzt, soll in Hannover nicht zum Thema sprechen, weil er ein alter weißer Mann ist? Ich will gleiche Rechte für alle. Aber ich möchte nicht, dass es immer nur noch heißt: Wer sagt etwas? Bin ich beleidigt – dann habe ich das Recht, zu verlangen, dass andere nichts mehr dazu sagen können. Das ist kein freiheitlicher Diskurs mehr. Wir brauchen da die Fähigkeit zur Selbstkritik.

Die Unterschriften unter Ihren Aufruf stammen eher von altgedienten Grünen. Die Jüngeren in der Partei würden Ihnen vorwerfen: Ihre Sichtweise ist nicht progressiv!

Was ist daran nicht progressiv, wenn ich eine selbstreflexive, universalistische Position vertrete? Ich kann in diesem Fall mit „progressiv“ wenig anfangen. Man sollte sich die Frage stellen: Setze ich mich an die Spitze einer vermeintlichen Bewegung - oder schau ich es mir in der Sache an, für welchen Diskurs ich stehe. Ich war schon in einigen sozialen Bewegungen aktiv, auch der Frauenbewegung: Es ist immer wichtig, die eigene Praxis nicht nur zu legitimieren, sondern auch zu reflektieren.

Und an der Selbstreflektion mangelt es den Aktivisten?

Ja. Man will sich manche Dinge nicht mehr anhören, zumindest nicht mehr von Menschen, die nicht direkt betroffen sind. In meiner Generation war das Wort „betroffen“, heute ist es eher „woke“. Wenn man so „woke“ ist, dann gehört die Selbstreflektion auch dazu. Ein Beispiel noch dazu: Es gab diesen Streit um die geplante Rede des kamerunischen Historikers Achille Mbembe auf der Ruhrtriennale. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung hatte israelfeindliche Zitate von ihm angeführt. Darauf haben manche geantwortet: Mbembe werde nur angegriffen, weil er ein Schwarzer sei. Ich sage aber: Egal ob er schwarz oder weiß ist oder sonst eine Identität lebt, muss ich mich auf der intellektuell-politischen Ebene 1:1 austauschen können. Ich darf nicht sagen: Der wird nur angegriffen, weil er ein Schwarzer ist.

Haben Sie denn auch aktive Grünen-Abgeordnete aus dem Bundestag oder Landtag angeschrieben, um Unterstützer für Ihren Aufruf zu sammeln?

Ja. Manche haben nicht geantwortet. Eine hat gesagt, sie müsse noch weitere Gespräche zu dem Thema führen, bevor sie sich positionieren könne. Es sei eine so komplizierte Frage. Die Absagen haben mich nicht gewundert. Aber gerade das zeigt mir: Das Thema ist absolut diskussionswürdig.

Haben die Abgeordneten Angst vor einem Shitstorm, wenn sie unterschreiben?

Das kann man nicht ausschließen.

Schaut man sich das aktuelle Wahlprogramm der Grünen an, hat man den Eindruck: Die Grünen von heute hätten kein Problem mehr damit, Serbien zu bombardieren, aber ein Vorsitzender, der bei der Identitätspolitik harte Grenzen zöge, könnte auf dem Parteitag einen Farbbeutel ans Ohr riskieren?

In der Tat. Weil es ein Identitätsthema ist, und Identitätsthemen sind sehr emotional.

Aber ist das Thema Krieg und Frieden weniger emotional?

Wenn es einen konkreten Fall eines Militäreinsatzes geben würde, gäbe es bei den Grünen natürlich eine Debatte, weil auch junge Grüne, die sich als woke verstehen, und pazifistische Grüne nicht für militärische Handlungen sind. Aber es stimmt: Das Identitätsthema ist gerade von besonderer emotionaler Relevanz.

Ich bedanke mich für das Gespräch.

 

Der Aufruf im Wortlaut

Ohne Angst verschieden sein!

Als Grüne (viele von uns der ersten Stunde) haben wir uns immer gegen Rassismus, Diskriminierung und Beleidigung von Minderheiten eingesetzt.

Wir sind für gleiche Rechte für Migrantinnen und Migranten, Schwule, Lesben und Queers und ebenso für die Frauengleichstellung und die Gewaltenteilung. Wir wollten und wollen eine Gesellschaft, in der Menschen ohne Angst verschieden sein können! Es geht um den positiven Umgang mit Differenz, der die Aufarbeitung des Kolonialismus, des Antisemitismus und der Islamophobie miteinschließt.

Wir streiten für eine offene, plurale, vielfältige Gesellschaft, für offenen Dialog und eine lebendige Streitkultur. Wir sind selbstbewusste grüne Frauen und Männer, die den Wert der Quote gelebt und in der grünen Partei viele starke Politikerinnen hervorgebracht haben.

Wir haben uns immer gegen rechte Identitätspolitik eingesetzt, sind den Pegida- Aufmärschen entschieden entgegengetreten. Aber genauso wenden wir uns auch gegen linke Identitätspolitik!

Denn auch eine linke Politik der Selbstüberhöhung kann in neue Unfreiheit umschlagen, wie wir jetzt sehen. Wenn das Gedicht der schwarzen Lyrikerin Gorman von einer weißen, nicht binären Frau nicht mehr ins Niederländische übersetzt werden soll, hat das mit einer lebendigen, freiheitlichen Kultur nichts mehr zu tun. Wenn ein Aufruf zur Debatte als verstörend und beschämend bezeichnet wird, dann hat auch das mit einer freiheitlichen Kultur nichts mehr zu tun.

Wir stehen für die berechtigten Interessen der LGBTQI -Bewegung und wollen ihre völlige rechtliche Gleichstellung. Aber wir stehen genauso für die Kunstfreiheit und eine offene Debattenkultur, auch an unseren Universitäten und Hochschulen und in unseren Kultureinrichtungen. Wir wollen keine Cancel Culture, sondern einen offenen Dialog darüber, was gelebte kulturelle Vielfalt bedeutet und wie eine Ästhetik der Nachhaltigkeit den Transformationsprozess zu einer klimaneutralen Gesellschaft begleiten kann.

Wir wollen keine selbsternannte Avantgarde, die allen vorschreibt, was übersetzt, gemalt oder geschrieben werden darf. Nicht, wer etwas sagt, sondern was gesagt wird, muss der Maßstab in unseren Auseinandersetzungen sein.

 

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