Grüne im Saarland - Die letzte Schlacht

Im kleinen Saarland werden Grüne, Linke und AfD von Machtkämpfen zerrissen. Jetzt wurde den Saar-Grünen vorerst sogar die Zulassung zur Bundestagswahl verweigert. Im Zentrum steht eine Figur: der grüne Politveteran Hubert Ulrich.

Hubert Ulrich im Humpen in Saarlouis. Hier wirbt er seit vier Jahrzehnten Mitglieder für die Grünen / Oliver Dietze
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Der „Panzer“ ist nervös an diesem sonnig-schwülen Julinachmittag vor der Saarlandhalle in Saarbrücken. Hubert Ulrich verhaspelt sich bei den scharfen Worten, die er in die ZDF-Kamera spricht. In diesen Minuten, das scheint er zu spüren, entgleitet ihm dort in der Halle die Partei, die er über drei Jahrzehnte lang geprägt und kontrolliert hat. „Was hier heute passiert, wird bundesdeutsche Geschichte schreiben. Mein Verständnis in die innerparteiliche Demokratie ist erschüttert“, sagt der 63-Jährige mit ernster Miene. „Diejenigen, die am lautesten nach Demokratie schreien, treten sie heute mit Füßen.“

Was nach AfD-Parteitag klingt, ist ein so unbedeutendes wie bedeutendes Ereignis: Die Grünen des Saarlands stellen an diesem Tag ihre Landesliste für die Bundestagswahl auf – zum zweiten Mal innerhalb eines Monats, diesmal aber ohne Ulrich und seinen übermächtigen Ortsverband Saarlouis. Sie besiegeln das Ende der politischen Karriere eines Mannes, den Gegner wie Fans ehrfürchtig „den Panzer“ nennen, endgültig. Aber was heißt im Falle Ulrichs schon endgültig? Im Juni hatten sie ihn noch auf Listenplatz eins gewählt, heute darf er nicht einmal mehr mitwählen. Auf Platz eins landet nun die 25-jährige Jeanne Dillschneider.

Die Causa Ulrich gewinnt wenige Wochen vor einer Wahl, bei der die Bundes-­Grünen erstmals auch im Wachzustand von der Kanzlerschaft träumen können, derart an Relevanz, dass die Grünen-Führung in Berlin etwas tut, was sie über Jahrzehnte nicht getan hat: Sie schaltet sich in Form des Bundesschiedsgerichts massiv in den Konflikt ein. Denn angesichts der Ereignisse im Saarland drohen dort nicht nur ein schlechtes Wahlergebnis und eine Implosion des Landesverbands, sondern ein bundesweit ausstrahlender Imageschaden: Die Grünen, eine Partei machtbesessener, sinistrer Hinterzimmerentscheider?

Es geht um Ressourcen

Im kleinen, mit der restlichen Republik nur lose verbundenen Saarland – andere Deutsche nennt man hier „Gäste aus dem Bundesgebiet“ – stecken nicht nur die Grünen in wüsten Grabenkämpfen, bei denen es zuallerletzt um unterschiedliche politische Ansichten geht. Im Mittelpunkt stehen Posten, Bundestagsmandate, Geld und Macht. Wer hier auf Listenplatz eins antritt, der kommt als Einziger in den Bundestag, und das bedeutet Ressourcen: 22 795 Euro monatlich darf ein Abgeordneter für Mitarbeiter ausgeben, er selbst erhält eine Pauschale von 10 083 Euro, dazu eine „Aufwandspauschale“ für Büros und Zweitwohnungen von 4560 Euro. „Das Bundestagsmandat ist eine wichtige Ressource, besonders in den kleinen Ländern, und dort ganz besonders bei den kleinen Parteien“, sagt der Trierer Politikwissenschaftler Uwe Jun. Wer das Mandat erhält, kann dann über vier Jahre seine Mitstreiter mit Jobs in der Hauptstadt oder im Wahlkreis versorgen. 

Eine weitere Besonderheit kommt hinzu: „In kleinen Landesverbänden können Politiker, die gut netzwerken können, Parteien dominieren“, sagt er. Und das Saarland sei eben noch bedeutend kleiner als etwa Rheinland-Pfalz: „Die Netzwerke sind viel enger, jeder kennt jeden.“

„Wir haben es mit einer Art Virus zu tun“, sagt Reinhard Klimmt, ehemaliger saarländischer Ministerpräsident und einst Bundesverkehrsminister unter Gerhard Schröder, im Garten seines bis oben hin mit Büchern gefüllten Hauses in Saarbrücken. Vom Virus Befallene, so Klimmt, „versuchen persönliche Interessen durch politisches Engagement abzusichern“. Dazu gehörten gut dotierte Mandate, der Versuch, die Kinder unterzubringen, einen Platz im Aufsichtsrat der Sparkasse zu ergattern oder an sonstige Töpfe zu kommen. „Das war auch früher so, aber die großen Parteien hatten und haben das Virus einigermaßen unter Kontrolle. Bei diesen drei hat es sich durchgesetzt“, sagt Klimmt.

Drei Befallene

„Diese drei“, das sind die Grünen, die AfD und die Linke. Die Saar-Grünen versuchen sich gerade aus der Umklammerung Ulrichs zu befreien, in der AfD hat der Bundesvorstand im letzten Jahr den Landesvorstand abgesetzt. Bis aufs Blut bekämpfen einander in der Linken Oskar Lafontaine, einst SPD-Vorsitzender und heute Fraktionschef im saarländischen Landtag, und der Landesverband um den Bundestagsabgeordneten Thomas Lutze. Die FDP hat sich in Personalquerelen schon vor einem Jahrzehnt komplett zerlegt und arbeitet an der Wiederauferstehung. Weitgehend ruhig zieht dagegen die schwarz-rote Landesregierung um CDU-Ministerpräsident Tobias Hans ihre Bahnen.

Die Methoden, mit denen „einige exzentrische Individuen“, wie Uwe Jun sie nennt, versuchen, die Macht in den Landesverbänden zu sichern, ähneln sich: Politiker erkaufen sich Loyalität, indem sie ihren Unterstützern Posten versprechen, sie werben gezielt Mitglieder an, um die Macht einzelner Ortsverbände zu steigern, oder sie schieben vor Parteitagen Mitglieder in andere Ortsverbände, um die Mehrheitsverhältnisse zu ändern. In kaum einem Landesverband sind die Mitgliedsbeiträge so niedrig: Während die Grünen-Mitglieder im Bundesdurchschnitt monatlich knapp 13 Euro abführen, sind es im Saarland nicht einmal sieben Euro. Bei der Linkspartei sieht es noch schlechter aus.

Man kann das, was sich hier in den Parteien im Kampf um Ressourcen abspielt, als ernsthafte Bedrohung für das Parteiensystem ansehen. Oder man kann sich an den Absurditäten ergötzen, die dieses Bundesland hervorbringt.

Absurde Charaktere

Kennen Sie zum Beispiel Nikolaus Staut? Staut, heute Ende 60, war Chef der Landesschiedskommission der Linkspartei im Saarland, oberster Parteirichter also. Bis die Polizei 2018 nach einem Hinweis des FBI sein Haus stürmte und dort zwei Kilogramm Haschisch und andere Drogen fand. Staut wurde wegen Drogenhandels im großen Stil zu drei Jahren Haft verurteilt.

Oder kennen Sie Josef Dörr? Dörr, 82 Jahre alt, hat ein halbes Regal voller Bücher über die Weiterentwicklung der Esperanto-Sprache verfasst, führt die AfD-Fraktion im Landtag, versuchte, seinen Sohn als Bundestagskandidaten durchzusetzen – und wurde im vergangenen Jahr von der AfD-Bundesspitze als Landeschef abgesetzt. Bevor Dörr ab 2015 die AfD aufbaute, war er 23 Jahre lang CDU-Mitglied und 28 Jahre bei den Grünen – darunter fünf Jahre als Schatzmeister mitverantwortlich für den Aufstieg von Hubert Ulrich.

Der „Mafioso“

Außerhalb des Saarlands kennen Hubert Ulrich nur versierte Grünen-Beobachter – was für die „Abgespaltenheit“ des kleinen Bundeslands spricht. Der „Mafioso“, wie ihn der Ur-Grüne Daniel Cohn-Bendit nannte, hat die Grünen im Saarland über drei Jahrzehnte kontrolliert, in Regierungen und Niederlagen geführt, saß mehrere Jahre im Bundestag und im Landtag. Nun, im Jahr 2021, scheint er die entscheidende Schlacht zu verlieren. Und dabei der Devise zu folgen: Wenn ich untergehe, dann ziehe ich euch alle mit.

Bis 2017, als die Grünen mal wieder aus dem Landtag flogen, führte Ulrich den Landesverband. Viele lasten es ihm an, dass die Partei hier deswegen so schlecht dasteht. Während die benachbarten Grünen in Baden-Württemberg seit 2011 den Ministerpräsidenten stellen und in Rheinland-Pfalz als Koalitionspartner in der Regierung sitzen, flogen sie im Saarland 2017 nicht nur aus dem Landtag – auch die bisher einzige Regierungsbeteiligung, die unter Ulrich 2009 arrangierte Jamaika-Koalition, endete 2012 mit dem Koalitionsbruch.

Wer ihn trifft, im Humpen, einer urigen Kneipe in Saarlouis, der bekommt einen Eindruck davon, woher sein Spitzname rührt. Ulrich ist einerseits charmant, witzig und wortgewandt, aber er überrollt sein Gegenüber mit seiner Version der Wirklichkeit, dass man anschließend mit Ohrensausen aus der Kneipe wankt. Im Humpen, wo er in den Achtzigern noch kellnerte, soll er die meisten der heute etwa 700 Mitglieder in Saarlouis geworben haben – in einem Städtchen mit 35 000 Einwohnern. Sie machen ein Drittel aller Grünen-Mitglieder im Saarland aus und bilden seine Hausmacht. 

Zentrum eines Netzwerks

Ulrich sitzt im Humpen unter einer Bücherwand, in der eine Biografie Jassir Ara­fats neben den „Erinnerungen“ von Franz Josef Strauß steht. In seiner Erzählung ist er ein grünes Urgestein, politisiert von Startbahn West und Waldsterben. Aus einem „linken Fundamentalistenverein“ habe er an der Saar einen politikfähigen Landesverband geformt, aber nie die Ideale verraten: ein Kohlekraftwerk bei Saarlouis verhindert, eine Fußgängerzone geschaffen, in der bundesweit ersten Jamaika-Koalition ab 2009 ein Nichtraucher­gesetz durchgeboxt. 

Annalena Baerbocks Reaktion im Juni, man sei nicht glücklich über die Saar-Liste mit ihm an der Spitze, habe er so empfunden, als sei sie „mit der Kavallerie eingeritten“. Ulrich sieht sich umgeben von Neidern (weil niemand so erfolgreich Mitglieder werbe) und Heuchlern (die jahrelang von ihm profitiert hätten und nun behaupteten, nie an Hinterzimmerabsprachen teilgenommen zu haben). Während des Gesprächs klingelt sein Handy Dutzende Male, ebenso oft bekommt er Nachrichten. Er ist das Zentrum eines Netzwerks. 

Zurück in die Saarlandhalle an diesem schwülen Tag Mitte Juli, an dem die Bundesrepublik gerade fassungslos auf die Opfer und Schäden der Flutkatastrophe blickt. Nach einem juristischen Hin und Her hat das Bundesschiedsgericht der Grünen den Ortsverband Saarlouis, der ein Drittel der Delegierten kontrolliert, vom Parteitag ausgeschlossen. Grund war die Intransparenz bei der Aufstellung der Delegierten: Unter Verweis auf Corona-Auflagen hatte Ulrich keine unabhängigen Beobachter auf das Parkdeck gelassen, auf dem gewählt wurde.

Vom Panzer zum Gast

Der Panzer ist nun, Mitte Juli, also nur Gast, und das ist kaum vorstellbar: Vier Wochen zuvor, am gleichen Ort, war er wie seit 30 Jahren durch die Reihen der Delegierten getigert, hatte dafür gesorgt, dass eine Mehrheit die Grünen-­Chefin und designierte Spitzenkandidatin Tina Schöpfer dreimal durchfallen ließ und schließlich ihn auf Platz eins hievte – ungeachtet des Frauenstatuts der Grünen, das einen Mann an der Spitze ausschließt. Dass er damit Schöpfer, die seit 2017 den Landesverband führte, demontierte, war ihm gleichgültig. „Er dachte, alle würden sich fügen“, sagt Ex-MP Klimmt.

Jetzt entdeckt er Simone Peter, die langjährige Chefin der Bundes-Grünen. Auch sie wurde von Ulrich einst demontiert: 2012 hatte sie als Spitzenkandidatin und ehemalige Ministerin die Grünen erneut in den Landtag geführt, aber mit seiner Zweidrittelmehrheit verhinderte er ihre Wahl zur Co-Vorsitzenden. Peter weinte damals aus Verzweiflung. Zwei Jahre später wurde sie Chefin der Bundes-Grünen. Nun humpelt Ulrich von hinten an ihren Stuhl, geht ganz nah an ihr vorbei, dann dreht er um, wiederholt das Manöver. Peter hebt nur kurz die Augen von ihrem Handy. Es ist eine filmreife Machtdemonstration. Der Panzer signalisiert: Egal, was ihr unternehmt, ich bin noch da.

Die 55-jährige Peter, die seit 2018 dem Bundesverband Erneuerbare Energien vorsteht und sich aus Parteibelangen weitgehend heraushält, hatte sich nach der überraschenden Rückkehr Ulrichs in Netzwerke eingeklinkt, die an einem Neuanfang der Saar-Grünen arbeiteten. Dort wurde sogar über eine komplette Neugründung des Landesverbands diskutiert. Aber Peter hält sich im Hintergrund. Symbolfigur des Neuanfangs ist eine 25-Jährige, die mit Panzern wenig zu tun hat.

Dillschneiders Weg

Jeanne Dillschneider steht ein paar Tage vor ihrer Wahl auf Listenplatz eins in Sneakern, Jeans und einer von weißen Blümchen gezierten Jacke vor der Bar Kurzes Eck in der Altstadt von Saarbrücken. Auf dem Parteitag im Juni hatte der Panzer sie überrollt. Krachend unterlag sie Ulrich, chancenlos gegen seine Truppen aus Saarlouis und den loyalen Delegierten aus anderen Verbänden: Es ist die Zweidrittelmehrheit, mit der Ulrich seit drei Jahrzehnten regiert. „Das war echt krass. Ich war fix und fertig“, sagt sie. 

2016 brachten das Erstarken der AfD, der Klimaschutz und der Feminismus die junge Jura-Studentin zu den Grünen. Sie erinnert sich, wie sich kurz danach Ulrich, damals Landesvorsitzender, mit ihr traf. Das ist seine Stärke: Kaum ein Mitglied im Landesverband, das er nicht persönlich kennt. Dillschneider ging mit einem guten Gefühl aus dem Gespräch, fühlte sich ermutigt: Sie stieg zur Vorsitzenden der Jungen Grünen auf, war in der Landespresse präsent, schrieb Positionspapiere. Und wunderte sich doch darüber, dass Ulrich stets bei den Vorstandssitzungen dabei war – obwohl er, nachdem die Partei 2017 aus dem Landtag geflogen war, seinen Rückzug aus der Führung verkündet hatte.

„Natürlich machten Gerüchte die Runde, dass er etwas plant“, sagt Dillschneider heute. Bis zum Parteitag hielten aber alle dicht. Dillschneider hatte schon bei der Delegiertenaufstellung des Ortsverbands Saarbrücken-Mitte gemerkt, was da auf sie zurollt: Ulrich hatte auch dort seine Mehrheit organisiert, versuchte, Dillschneider und andere junge Grüne von einer Kandidatur abzuhalten. „Die Mehrheiten sind doch glasklar“, sagte er zu ihr. Auf der Toilette sprach Dillschneider mit einer Delegierten, die auf ihr Handy zeigte und erklärte: „Der Hubert hat mir die Namen derer geschickt, die ich wählen soll.“ Nicht Dillschneider, immerhin Chefin der Grünen Jugend, wurde Delegierte, dafür aber Ulrichs Tochter. 

Alles von Ulrich dominiert

Dillschneider hat gerade ihr erstes Staatsexamen in Jura beendet, sie will noch einen Master in IT-Recht dranhängen. Dazwischen könnten nun das Bundestagsmandat und ein Neuaufbau der Grünen an der Saar kommen. Wenn Ulrich oder die Landeswahlleiterin die neue Liste nicht zu Fall bringen: Er oder seine Mitstreiter wollen wegen des Ausschlusses seiner Delegierten vor einem Zivilgericht Klage einreichen. Wenn er Erfolg hat, werden die Grünen im Saarland nicht mit der Zweitstimme wählbar sein.

Die Querelen rund um die Liste zeigen, wie tief Ulrich den Grünen-Parteiapparat durchdrungen hat: Als seine Gegner vor das Landesschiedsgericht ziehen, um gegen die Aufstellung der Landesliste zu klagen, muss das Ganze an das Schiedsgericht von Rheinland-Pfalz weitergeleitet werden – denn der oberste Schiedsrichter erklärt sich als befangen, weil er gleichzeitig Ulrichs Anwalt ist. Beisitzerin des Schiedsgerichts ist zudem Ulrichs Tochter. Auch den Vorstand des Landesverbands dominieren Ulrichs Leute, allen voran Generalsekretärin Barbara Meyer-Gluche, die mit Ulrichs Zwei­drittelmehrheit auf dem Parteitag im Juni zur neuen Landesvorsitzenden gewählt wurde. Inzwischen hat die hochschwangere Politikerin das Handtuch geworfen und sich öffentlich von Ulrich losgesagt. Nach der Aufstellung der neuen Liste hat Dillschneider dann größte Mühe, unter den 14 Mitgliedern des Landesvorstands drei zu finden, die die neue Landesliste unterzeichnen. Das ist nötig, um sie noch in der Nacht in den Briefkasten des Landeswahlleiters zu werfen.

Masche Ulrich

Aber wie schaffte es Ulrich über Jahrzehnte, den Landesverband derart zu dominieren? Mit einer bemerkenswerten Mischung aus Drohkulissen und Anreizen, deren Grundformel lautete: Ohne Ulrichs Mehrheiten wirst du hier nichts. „Ulrich provoziert Gegner, aber er erzeugt Mehrheiten für diejenigen, die ihn unterstützen“, sagt Politikwissenschaftler Jun. Davon profitierte über drei Legislaturperioden der aus Saarlouis stammende Bundestagsabgeordnete Markus Tressel – erst in diesem Jahr sagte er sich von Ulrich los und beendete seine politische Karriere. „Ulrich verliert viele auf seinem Weg, aber er ist ein sehr aktiver Netzwerker, er gewinnt immer wieder neue Leute für sich“, sagt Saarland-Kenner Jun.

Zu den Leichen, die seinen politischen Weg säumen, gehören auch Figuren, die heute die Linkspartei und die AfD prägen. Zu seinen neuen Verbündeten zählt ein gescheiterter FDP-Politiker.

Da ist etwa der 82-jährige Josef Dörr, AfD-Gründer im Saarland und heute Fraktionsvorsitzender im Landtag. Ab 1984 baute Dörr zusammen mit Ulrich den Landesverband auf. „Ohne mich wäre Hubert Ulrich heute nicht da, wo er jetzt ist“, sagt Dörr in seinem Landtagsbüro, das er wohl nach der nächsten Wahl im März 2022 wird räumen müssen. Ulrich sei damals auf ihn zugekommen, weil er einen „Macher“ brauchte gegen die Fundis in der Partei. Dörr wurde Schatzmeister, eine Schlüsselfunktion bei der Kontrolle von Mitgliederlisten und Beiträgen. „Wir haben systematisch den Einzug der Grünen in den Landtag vorbereitet“, sagt Dörr. In Grünen-Kreisen erzählt man sich, dass Dörr, der in Saarlouis eine Sonderschule leitete, Sonderschüler als „Stimmvieh“ auf Parteitage karrte, um Mehrheiten zu schaffen.

Ehemalige Ulrich-Weggefährten

1994 zogen die Grünen erstmals in den Landtag ein, und Ulrich erklärte seinem Kumpan Dörr, er brauche ihn nun nicht mehr. In Ulrichs Version der Geschichte habe Dörr „nur noch seinen eigenen Vorteil gesucht“, weshalb er ihn von da an bekämpfte. „Huberts Weg ist geprägt durch einen großen Verschleiß an Mitkämpfern“, sagt Dörr. „Aber alle, die heute seine Gegner sind, haben früher von ihm profitiert.“ Gab es Betrügereien bei Parteitagen? Jeder habe seinen Personalausweis vorzeigen müssen, sagt Dörr. „Ich glaube nicht, dass man ihm etwas nachweisen kann. Er kann eben Mitglieder werben.“ 

Vorwürfe über die Manipulation von Mitgliederzahlen, die gegen Ulrich im Raum stehen, treffen heute auch Dörr: Nach jahrelangen Streitereien setzte der AfD-Bundesvorstand im März 2020 den Vorstand der Saar-AfD ab – wegen „schwerwiegender Verstöße gegen Grundsätze oder Ordnung der Partei“, wie es offiziell hieß. Der 82-Jährige hat heute den Bundestagsabgeordneten und den Landesvorstand gegen sich. 

Ähnlich verfahren ist die Situation bei den Linken, und auch hier sitzen ehemalige Ulrich-Kumpane in zentralen Positionen: Als Strippenzieher im Hintergrund gilt hier Andreas Pollak, mit dem Ulrich 1994 für die Grünen in den Landtag einzog. Er brachte damals Saarlouis auf Linie, Pollak den Ortsverband Homburg. Die beiden entzweiten sich, weil kurz vor der folgenden Landtagswahl herauskam, dass Pollak in den achtziger Jahren vier Jahre wegen Betrugs abgesessen und während seiner Zeit als Abgeordneter drei Badematten in einem Baumarkt gestohlen hatte. Pollak verbrachte 2012 bis 2014 in Haft, weil er als Arzt Leistungen über 400 000 Euro abgerechnet hatte, die er nicht erbracht hatte. Heute sitzt mit Pollaks Ehefrau Barbara Spaniol eine frühere Grüne für die Linke im Landtag und neben ihr mit Ralf Georgi ein früherer Geschäftspartner Pollaks. Als von Pollak „fremdgesteuert“ bezeichnete Ulrich die beiden Politiker, als er 2009 begründete, warum die Grünen im Saarland nicht mit der Linken koalieren dürften – und einen Landesverband, der das eigentlich nicht wollte, auf die schwarz-gelb-grüne Jamaika-Koalition hinbog. 

Linkes Spiel im Saarland

Die Methoden, mit denen bei der Saar-Linken, die hier mit fast 13 Prozent 2017 das beste Ergebnis der Partei in einem westlichen Bundesland einfuhr, um Ressourcen gekämpft wird, sind härter als bei den Grünen. Als Kontrahenten stehen sich Oskar Lafontaine, mittlerweile 77 und Fraktionsvorsitzender im Landtag, und sein früherer Büro-Mitarbeiter Thomas Lutze gegenüber: Lutze sitzt seit 2009 im Bundestag und führt seit 2019 den Landesverband. Im Mai forderte er Lafontaines Parteiaustritt. Lafontaine revanchierte sich mit einer Presseerklärung, in der er die Saarländer aufrief, Lutze am 26. September nicht zu wählen. Das „Betrugssystem“ habe sich wie bei den Aufstellungsversammlungen der letzten Jahre durchgesetzt.

Anfang Juli sitzt Lafontaine bei einer Tasse Kaffee im Untergeschoss der Saarlandhalle – auch der Landtag tagt nun hier. Der Politveteran hat keine Lust, über die Querelen zu sprechen. Nur so viel: „Lutze besorgt sich dieses Bundestagsmandat auf illegale Weise“, und dagegen müsse die Partei vorgehen. Dazu gehöre, die Mitgliederlisten zu überprüfen, denn die stimmten hinten und vorne nicht. 

Lutze wird von seinen Gegnern nicht nur vorgeworfen, vor wichtigen Parteitagen massenhaft Mitglieder in sozial schwachen Stadtteilen zu werben, denen er oder seine Leute dann den Mitgliedsbeitrag zahlen – derartige „Patenschaften“ werden auch Ulrich vorgeworfen und sind nach dem Parteienrecht momentan nicht einmal illegal. Lutzes Mitarbeiter sollen zudem an stimmberechtigte Mitglieder Geld verteilt haben, um sich deren Stimmen zu sichern. Von „braunen Umschlägen“ mit 50-Euro-Scheinen ist die Rede. Das ginge deutlich über das hinaus, was Ulrich bei den Grünen treibt. Die Bundesgeschäftsstelle der Linken überprüft deshalb das Zustandekommen der Liste. Möglich erscheint auch hier, dass die Landeswahlleiterin sie ablehnen könnte.

Inzwischen ermittelt sogar die Staatsanwaltschaft gegen Lutze – und im Zentrum steht eine schillernde Gestalt, wiederum aus Ulrichs Heimat Saarlouis: Der Linken-Chef von Saarlouis, Imbissbudenbesitzer und Schausteller Mekan Kolasinac, bis zum letzten Jahr nebenher auf 450-Euro-Basis in Lutzes Wahlkreisbüro angestellt, hat in einer eidesstattlichen Versicherung erklärt, dass er für Lutze Mehrheiten organisiert habe, indem er mit Bussen Parteimitglieder zum Parteitag gebracht habe, wo diese für die Wahl Lutzes dann jeweils 50 Euro bekommen hätten.

Ulrichs Schützling Pini

Noch einmal zurück in die Saarlandhalle: Dort läuft ein Mann zu Hochform auf, der zu Ulrichs neuen Verbündeten zählt. „Diese Versammlung ist rechtlich eine Totgeburt“, sagt ein groß gewachsener, wohl frisierter Herr im eleganten Anzug, der so gar nicht zu den Grünen passen will. Während der Parteitag nach dem Ausschluss von Ulrichs Delegierten klar auf einen Neuanfang aus ist, versucht dieser Mann die Stimmung zu drehen. Sebastian Pini ist Ulrichs Mann, und er sieht nicht nur so aus, als passe er nicht zu den Grünen: Bis 2012, als die FDP sich nach dem Ende der Jamaika-Koalition zerlegte, war er Staatssekretär, dann verließ er seine Partei und schloss sich der SPD an. 

2019 dann trat er den Grünen bei: „Meine heranwachsenden Kinder haben mich damals sensibilisiert für Artenschutz und Klimawandel“, erklärt er im Gespräch. Wahrscheinlicher ist, dass er eine zentrale Figur ist in Ulrichs „generalstabsmäßig vorbereiteter Rückkehr“, wie Ex-MP Klimmt es beschreibt. Denn Pini war es auch, der die umstrittene Parteiversammlung auf dem Parkdeck in Saarlouis leitete. 

Was hat Ulrich vor?

Was, so fragt man sich, muss Ulrich diesem Mann in Aussicht gestellt haben, damit er mehrmals auf die Bühne geht, die Pfiffe und Buhrufe erträgt, die ihm entgegenschallen bei dem Versuch, den Parteitag zum Abbruch zu bringen? Während die Jungen Grünen um Jeanne Dillschneider Sekt ausschenken und mit Simone Peter auf einen gelungenen Neuanfang bei den Grünen im Saarland anstoßen, sitzt Pini ruhig an seinem Platz und schreibt Nachrichten. Hubert Ulrich hatte sich schon früher verabschiedet, er müsse ins Krankenhaus wegen einer Schleimhautentzündung. 

Was hat der Panzer noch vor? Im März stehen im Saarland Landtagswahlen an. Könnte sich Ulrich zurückziehen? „Schwer vorstellbar“, sagt Politikwissenschaftler Jun. Nach einer verlorenen Schlacht wie dieser sollte man wohl besser mit Hubert Ulrich rechnen.

 

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

 

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