Die Grünen - Die halbe Wahrheit

Der moralische Populismus steht hoch im Kurs, und die Grünen beherrschen ihn perfekt. In dieser Art des Diskurses ist Differenzierung unerwünscht. Aber was ist von einer politischen Meinung zu halten, die eine konkrete Ausformulierung fürchten muss?

Wollen nicht konkret sein: Annalena Baerbock und Robert Habeck / picture alliance
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Autoreninfo

Bernd Stegemann ist Dramaturg und Professor an der Hochschule für Schauspiel (HfS) Ernst Busch. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschienen von ihm das Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ bei Klett-Cotta und „Identitätspolitik“ bei Matthes & Seitz (2023).

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In Zeiten des moralischen Populismus bleibt als erstes die konkrete Wahrheit auf der Strecke. Was lange Zeit wie ein billiger Marketing-Trick gewirkt hat, entpuppt sich zusehends als fatal wirkungsvolle Strategie. Der Trick funktioniert folgendermaßen: Will ich ein Produkt verkaufen, muss ich es in einem möglichst guten Licht erscheinen lassen. Die Information, dass womöglich Sklavenarbeit in einem Handy steckt, wäre für den Verkauf abträglich.

Übersetzt auf die Politik sieht das dann so aus: Mehrheiten gewinnt, wer glaubhaft einen Wert vertritt, der gerade die Zustimmung der Menschen hat, und wer sich nicht in das chaotische Feld der konkreten Widersprüche verwickeln lässt. Aktuell ist der Einsatz einer lautstarken Wertehupe ohne lästige Nebentöne an den Klimaprotesten und den Grünen zu beobachten.

Unangenehme Details

In einer nicht populistischen Debatte wäre zu erwarten, dass Vorschläge gemacht werden, wie das allgemeine Ziel „Klimaschutz“ durch konkrete Entscheidungen durchgesetzt werden kann. Früher nannten die Grünen an dieser Stelle der Debatte so anschauliche Beispiele wie einen Spritpreis von fünf Euro pro Liter oder einen Veggie-Day in allen Kantinen. Das ist ihnen seinerzeit nicht gut bekommen. Die Partei lag damals näher bei fünf Prozent als bei den aktuellen 25 Prozent. Die neuen Grünen haben offensichtlich aus den Fehlern gelernt und wenden nun den Trick an: Sie vermiesen die gute Stimmung nicht mit unangenehmen Details. Denn Klimaschutz ist allgemein gewünscht, vor allem wenn man bei 40 Grad im Stau steht auf dem Weg zum Flughafen. 

Sollten die Grünen doch einmal in die Zwangslage geraten und nach konkreten Schritten gefragt werden, so verdüstert sich augenblicklich ihre Laune. Gerade zu beobachten beim Auftritt der Doppelspitze Annalena Baerbock und Robert Habeck bei Markus Lanz. Da wurde mit vielen Worten über moderate Bepreisungen für CO2-Emissionen  nachgedacht, um zugleich zu betonen, dass den Bürger und die Bürgerin das natürlich am Ende des Jahres nicht mehr kosten würde. Und die Baerbocksche Antwort auf die einfache Frage, ob SUVs verboten werden müssten, hätte für jede Abiturprüfung im Fach Ethik und Hermeneutik gereicht. Die Antwort war, in einfache Sprache übersetzt: Es wird passieren, dass SUVs verschwinden werden.

Ein großes Ziel auf Taubenfüßen

Man lernt daraus: Ein sehr großes Ziel, der Kampf gegen die Klimawandel, muss, wenn es in einer Konsumentendemokratie Mehrheiten finden will, auf Taubenfüßen daher kommen. Wer zu konkret wird, indem er etwa vorrechnet, was Heizen, Verkehr und Produktion tatsächlich kosten würden, wenn die CO2-Emission einen wirksamen Preis bekäme, und wer dann noch darauf hinweist, dass Deutschland mit den gut 2 Prozent Anteil am globalen CO2-Ausstoß nur wenig ausrichten kann, der verliert augenblicklich die Wählersympathien. So genau wollte man das auch nicht wissen. Und die Preiserhöhungen kommen einem doppelt lästig vor, wenn man zugleich erfährt, dass die übrige Welt weiterhin ohne CO2-Steuern die Atmosphäre verpestet.

Beim zweiten moralisch erhitzten Thema der vergangenen Jahre wird die Methode der halben Wahrheit noch viel konsequenter befolgt. Aktuell ist die Migrationsdebatte wieder entflammt am Fall der Verhaftung der deutschen Kapitänin, die ihr Schiff mit 40 Flüchtlingen gegen das Verbot der italienischen Regierung in den Hafen von Lampedusa gesteuert hat.

Ein Minimalversuch der Differenzierung

Die eine Seite steht auf dem Standpunkt, wer Menschenleben rettet, darf nicht kriminalisiert werden. Dieser Meinung hat sich flugs der Bundespräsident angeschlossen, denn auch er weiß, dass ihm damit der allgemeine Applaus sicher ist. Die andere Meinung hat es da unvergleichlich viel schwerer, denn sie muss mindestens drei verschiedene Probleme miteinander verbinden: Erstens ist Seenotrettung eine unbedingte moralische Verpflichtung. Zweitens ist die Überfahrt nach Europa von Menschen, die vor der afrikanischen Küste gerettet wurden, keine allgemeine moralische Verpflichtung. Drittens ist es politischer Aktivismus, den italienischen Staat durch eine solche Aktion zu provozieren, um sein hartes Grenzregime öffentlichkeitswirksam vorzuführen, der nicht zwangsläufig zu einer besseren europäischen Lösung führen wird. 

Die Gegenseite reagiert auf diesen Minimalversuch einer Differenzierung mit der ganzen Wucht der Empörung. Denn sie weiß, dass ihre moralische Überlegenheit nur solange funktioniert, wie niemand anfängt, über die zwei Seiten ihrer Wahrheit nachzudenken. Beginnt einmal die Differenzierung, so hat sie verloren. Also greift sie zu dem bewährten Abwehrzauber, alle Kritiker zu Feinden der Menschheit zu erklären: Jeder, der Punkt zwei und drei überhaupt zu denken wagt, will Menschen absichtlich ertrinken lassen. 

Moralisch verkommene Subjekte

Im Furor der Empörung wird so weggewischt, dass das eine mit dem anderen nichts zu tun hat. Und genau damit wird ein wichtiges strategisches Ziel erreicht: Die Gegner werden als moralisch verkommene Subjekte bloßgestellt und die lästige zweite Hälfte der eigenen Position kann weiterhin verborgen bleiben. Denn die ganze Wahrheit der eigenen Meinung lautet, dass die Seenotrettung erst an den Küsten von Europa endet und nicht auf dem Schiff, das vor dem Ertrinken gerettet hat. Die Seenotrettung ist also nur zum Teil eine Rettung vor dem Ertrinken und zu einem größeren Teil der Transfer in die EU. Und genau dieser Transfer lässt sich nicht so einfach in den hohen Ton der Menschheitspflicht übersetzen wie die Rettung vor dem Ertrinken. 

Der argumentative Trick besteht also darin, die Pflicht, Menschen vor dem Ertrinken zu retten, auf einen Bereich auszudehnen, der damit nur noch bedingt zu tun hat. Würde die Forderung um diesen Teil der Wahrheit ergänzt, so würde aus ihrer moralischen Haltung, der niemand widersprechen darf, eine politische Position, die sich den Gegenargumenten stellen müsste. Und was wäre so schlimm daran?

Europa hat sich schuldig gemacht

Denn natürlich kann man die Meinung haben, dass Europa die Aufgabe hat, die Menschen, die aus Afrika fliehen wollen, bei sich aufzunehmen. Und natürlich kann man der Meinung sein, dass die Rettung vor dem Ertrinken nichts hilft, wenn die Menschen anschließend dahin zurückgebracht werden, von wo aus sie geflohen sind. Und wenn man nur ein wenig diesen Gedanken nachgeht, fällt auf, an wie vielen Stellen sich Europa schuldig gemacht hat und zum Beispiel durch unfaire Handelspraktiken noch immer schuldig macht. 

Warum müssen die Menschen in Zeiten von Flugzeugen zu Fuß durch die Wüste marschieren und sich kriminellen Schlepperbanden überlassen, um schließlich darauf zu hoffen, dass eine politische Aktivistin sie vor dem Ertrinken rettet? Die ganze Wahrheit einer solchen politischen Meinung bestünde also darin, die Flucht aus Afrika anders zu organisieren. 

Flüchtlingsströme könnten besser organisiert werden

Wenn die Zahlen stimmen, dann wollen 110 Millionen Menschen von Afrika nach Europa fliehen. Um angemessen auf diesen Migrationsdruck zu reagieren, müsste die EU jährlich fünf Millionen Menschen aufnehmen. Davon könnte Deutschland 1,2 Millionen übernehmen. Mit einer solchen Zahl gibt es seit 2015 konkrete Erfahrungen. Die Fluchtwilligen könnten aber dieses mal besser organisiert werden, indem sie etwa über die Zuteilung von Visa, ähnlich den US-amerikanischen Green Cards, ausgewählt werden, und die Reise könnte, da es keine Einreiseprobleme mehr gibt, per Flugzeug erfolgen. Im Durchschnitt würden dann auf den fünf größeren deutschen Flughäfen werktäglich 5000 Menschen landen. 1000 in Frankfurt, 1000 in Berlin, 1000 in München und so weiter. Ist das zu schaffen? Wenn es entsprechend organisiert wird, warum nicht? 

Und doch täusche ich mich wohl nicht, wenn ich vermute, dass nicht wenigen, die gerade für die Freilassung der Kapitänin ihren Twittermut zeigen, bei einer solchen Rechnung unheimlich wird. Und ich höre schon die Stimmen, die hier von Panikmache und einem Angstszenario sprechen, mit dem ich die Fluchthelfer diskreditieren wolle. Doch das ist nicht so. Ich habe lediglich die andere Hälfte der Wahrheit ausformuliert, also die Hälfte, die bei den Grünen einst fünf Euro pro Liter Sprit hieß und die heute wohlweislich verschwiegen wird. 

Die harten Konsequenzen der eigenen Güte

Und wer an dieser Stelle Angst vor der eigenen Courage bekommt, der sollte einmal seine Meinung überprüfen. Treibt einen nur das gute Gefühl, zur richtigen Seite gehören zu wollen, oder ist man bereit, auch die womöglich harten Konsequenzen der eigenen Güte zu tragen? Und alle Empörten, die mein kleines Szenario für Propaganda halten, möchte ich fragen, was von einer politischen Meinung zu halten ist, die ihre konkrete Ausformulierung fürchten muss?

Wenn Politiker gelernt haben, dass Wahrheiten nur solange Zustimmung finden, wie sie nicht konkret werden, muss diesen Teil der Aufgabe jeder Zeitgenosse selbst bewältigen. Denn wie schon Lenin sagte, die Wahrheit ist immer konkret. Und mit Annalena Baerbock könnte man anfügen, es wird passieren, egal ob es vorher gesagt wurde oder nicht. 

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