Die Grünen - „Wir sind keine Öko-App“

16 Jahre lang stellten die Grünen in Freiburg den Bürgermeister. Trotz prominenter Unterstützer wurde er jetzt abgewählt. Die Partei muss sich nun programmatisch erneuern. Mit der Grünen-Vorsitzenden Annalena Baerbock soll das gelingen

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Annalena Baerbock ist die quirlige Newcomerin der Grünen, die mit emotionalen Reden die Basis mitnimmt / Antje Berghäuser
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Christoph Seils war Ressortleiter der „Berliner Republik“ bei Cicero bis Juni 2019. Im Januar 2011 ist im wjs-Verlag sein Buch Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien erschienen.

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Annalena Baerbock redet schnell. Sie redet sogar noch ein wenig schneller als gewöhnlich. Man hört, wie sie Luft holt, damit der Atem für Sätze ohne Punkt und Komma reicht. Nein, versichert sie anschließend, nervös sei sie nicht. Aber wie sie da Anfang April im Presseraum der Parteizentrale steht, wie sie sich mit beiden Händen am Rednerpult festhält und ihre Agenda runterrattert, da wird deutlich: Die neue Vorsitzende der Grünen muss sich noch daran gewöhnen, dass sie jetzt unter ständiger Beobachtung steht, jedes Wort zur Schlagzeile werden kann.

Seit 13 Jahren ist Baerbock Mitglied der Grünen. Die 37-Jährige wird in Hannover geboren, wächst zusammen mit zwei Schwestern im südlichen Niedersachsen auf. Nach dem Abitur will sie raus, vom Land in die Stadt, „ich wollte aufbrechen.“ Und wenn sie heute in ihrer neuen Heimat Brandenburg unterwegs ist, fühlt sie sich an damals erinnert. Sie kenne das Gefühl, auf den Bus angewiesen zu sein, der selten fährt. Wenn es dazu keinen Arzt und kein Internet gäbe, sind nicht nur Jugendliche abgehängt. „Da müssen wir Antworten finden. Wenn die Daseinsvorsorge bröckelt, bröckelt auch das Vertrauen in den Staat.“

Radikal und staatstragend

Dass in manchen Regionen sehr viele Menschen die AfD gewählt haben, sei ein Alarmsignal. Um diese Wähler zurückzugewinnen, brauche es keine andere Flüchtlingspolitik, sondern eine andere Daseinsvorsorge und neue Teilhabe. „Wir müssen den Menschen das Gefühl geben, dass sie dazugehören.“

Baerbock studiert in Hamburg und London Politikwissenschaft und Völkerrecht. Anschließend wird sie in Potsdam Büroleiterin einer grünen Europaabgeordneten. Ab 2009 steht die Mutter zweier Kinder für vier Jahre dem Landesverband Brandenburg vor. 2013 zieht sie in den Bundestag ein. Das schlechte Abschneiden bei der Wahl 2017, das an der Spitze der Partei einen Generationenwechsel erzwang, war ihre Chance.

Auf einem Parteitag in Hannover wurde sie Ende Januar zusammen mit dem bisherigen schleswig-holsteinischen Umweltminister Robert Habeck an die Spitze der Partei gewählt. Sie präsentierte sich „radikal und staatstragend“, warb zugleich für Bündnisse mit Union und FDP als auch für einen unbegrenzten Familiennachzug, für den sofortigen Braunkohleausstieg und für einen Klimadialog. Die schlichte schwarze Lederjacke, die sie dazu trug, sollte rebellisch wirken und war zugleich eine Reminiszenz an den einstigen grünen Übervater Joschka Fischer. Man fragt sich zwangsläufig, wie das alles zusammengehen soll. Aber über sämtliche Widersprüche redete Baerbock einfach munter hinweg.

Grundsatzdebatten forcieren

„Wir müssen Bindekraft in die Gesellschaft hinein entwickeln“, sagt sie. Nur auf ein Thema zu setzen, reiche nicht mehr, „wir sind keine Öko-App“. Die Partei brauche ein starkes soziales Profil und dürfe die Auseinandersetzung mit den Konzernen nicht scheuen. Da gehe es etwa beim Braunkohleausstieg um Geld und um Macht und den Staat als Ordnungsmacht.

Die Partei hat erkannt, welche neuen grünen Wählerpotenziale sich in der Mitte ergeben, wenn die SPD in der Krise nach links rückt und die Union in der Nach-Merkel-Ära konservativer wird. Vor allem deshalb forcieren sie die Grundsatzdebatte. „Wir müssen Mut haben, Fragen zu stellen, deren Antworten wir noch nicht kennen, wir werden ringen, hadern, streiten.“ Ob etwa in der Arbeitswelt der Zukunft der Faktor Arbeit noch Grundlage der Sozialversicherung sein könne? Welche ethischen Regularien braucht die Stammzellenforschung? Welche Rolle können Roboter in der Pflege spielen? Selbst das grüne Anti-Gentechnik-Dogma scheint nicht mehr tabu zu sein. So wollen sich die Grünen auch mit den Chancen von Salzwasser resistentem Saatgut in Entwicklungsländern beschäftigen, etwa dort, wo durch den Klimawandel immer mehr Böden versalzen.

Teamwork statt Grabenkämpfen

Bis 2020 wollen die Grünen ein neues Grundsatzprogramm erarbeiten. Wobei sich zwischen Baerbock und Habeck eine Arbeitsteilung andeutet, eine Alternative zur bisherigen Flügellogik. Hier das Energiebündel, dort der oft grüblerisch wirkende Philosoph; dort der Spiritus Rector der programmatischen Neuausrichtung, hier die quirlige Newcomerin, die mit emotionalen Reden die Basis mitnimmt.

Das junge Grün wirkt. Plötzlich will niemand mehr etwas von der Flügellogik wissen, die die Partei häufig lähmte, von den Grabenkämpfen, in denen sich Realos und Linke manchmal allein aus Prinzip widersprachen. Sogar ihre Büros haben Baerbock und Habeck zusammengelegt, sie teilen sich ein Sekretariat, ihre Schreibtische stehen Kopf an Kopf. Nur die beiden Schokohasen, die sich auf dem gemeinsamen Arbeitsplatz die Hinterteile zuwenden, erinnern noch daran, wie es in der Parteizentrale unter ihren Vorgängern zuging.

Dies ist ein Artikel aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.














 

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