Halbzeitbilanz der Groko - Regierung im Seenebel

Der Kompromiss zur Grundrente ist symptomatisch für die Politik der Großen Koalition: Sie präsentiert sich als Wohltäterin, kann ihre Geschenke aber nicht bezahlen. Nur ein Minister überrascht im allgemeinen Tohuwabohu mit Augenmaß

Windenergie vs. Kohlekraft: Hebelt das Abstandsgebot die Energiewende aus? / picture alliance
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Seenebel - man glaubt das nicht, wenn man es nicht mal selbst erlebt hat. Mit einem Schlag ist er da und jede Orientierung fort, keine Küstenlinie mehr zu sehen, kein Leuchtturm mehr in Sicht, kein links und kein rechts, kein hinten und kein vorne. Seeleute fürchten dieses weiße Nichts. Es ist lebensgefährlich, und nur wer sich mit seinen Instrumenten auskennt, entkommt dieser oft tödlichen Stille, in der sich kein Lüftchen regt. 

Die deutsche Bundesregierung muss in einen solchen Seenebel geraten sein. Ohne Kompass, Sextant und GPS. Die vergangenen Tage und Wochen geben ein Bild der völligen Verwirrung ab. Kein Kurs, kein Maß, keine Mitte, wenig Verstand. 

Rentner, die Pfandflaschen sammeln

Die Grundrente: Wer seine Augen aufmacht in den Straßen und an den Mülleimern, ältere Menschen mit Taschenlampe und faserverstärkter Plastiktüte sieht, wie sie in den Schlitze leuchten und hie und da eine Flasche herausziehen –  wer das tut, der ahnt, dass Altersarmut ein Problem ist in diesem Land. Sie für die zu mildern, die jahrzehntelang gearbeitet und ins Rentensystem einbezahlt haben, ist ein richtiger Ansatz. Nur kann ich nicht eine solche zusätzliche soziale Leistung mit einer Steuer, der Finanztransaktionssteuer, finanzieren, die es noch gar nicht gibt und deren etwaige Einführung noch viele Hürden bereit hält. 

Das ist politischer Fake. „Wer soll das eigentlich bezahlen, Frau Merkel?“, fragte Bild völlig zu Recht. Schon jetzt übrigens wird das Rentensystem mit über 90 Milliarden Euro von außerhalb des Systems jährlich geflutet, damit es überhaupt noch funktioniert. Wenn künftig die 1,5 Milliarden Euro für die 1,5 Millionen Bezugsberechtigten hinzukommen und weiter immer weniger einzahlen als beziehen, steigt dieser Betrag auf 100 Milliarden Euro im Jahr. Das System ist marode und wird trotzdem noch zusätzlich belastet. Das ist, als würde man einem Motor mit kaputter Kopfdichtung einen Kickstart zumuten. 

Der Ent-Soli als Instrument der Spaltung 

Nur so nebenbei, um die Zahlen einzuordnen und weil die Bildzeitung und viele andere fragen, wo das Geld herkommen soll: Für etwa 1,5 Millionen Flüchtlinge seit 2015 (also die gleiche Zahl wie künftige Grundrenten) werden jedes Jahr 50 Milliarden Euro von Bund Ländern und Gemeinden aufgewandt. Das ist das 33fache des Grundrentenfehlbetrags. Da fragt niemand, wo das Geld herkommen soll. Es ist einfach da. Unhinterfragt. 

Solidaritätszuschlag: Für diesen hat die Koalition beschlossen, dass ihn 90 Prozent der Arbeitnehmer (und Unternehmen) nicht mehr bezahlen müssen. Hier nun ist der Seenebel bis ins Hirn vorgedrungen. Diese Vorgehensweise verhöhnt den Begriff der Solidarität. Solidarität heißt qua Definition, das alle für manche einstehen – ubrigens ja auch bis hierher ein jeder nach seinen Möglichkeiten. Jetzt werden manche in dieser Solidarität gehalten, andere aber davon freigesprochen. Das ist dann kein Soli mehr. Sondern ein Ent-Soli. Und diese Regierung trägt mit ihrem Tun zu einer Spaltung bei. Nein, mehr noch: Sie spaltet mit ihrer Politik die Gesellschaft.

Die „Menschen draußen im Land"

Offenbar fehlt ein Restgespür dafür, wie solche Politik in der Gesellschaft ankommt. Bei den „Menschen draußen im Land“, wie Angela Merkel gerne sagt. Die sind dann plötzlich aufgebracht, wenden sich den Bauernfängern der AfD zu – und in der Regierung wundert man sich darüber, ist bass erstaunt: Wie kann das sein? Ohne Seenebel ums Haupt müsste man sich da keinen Moment drüber wundern. 

Bei manchen scheint aber langsam etwas zu dämmern. Namentlich muss man da Wirtschaftsminister Peter Altmaier nennen. Bei dem ist was passiert. Bisher die Hände immer schön an der Hosennaht und treuer Soldat seiner Kanzlerin, entdeckt Altmaier so etwas wie den gesunden Menschenverstand. Zweimal kurz hintereinander war er positiv verhaltensauffällig: Erst plädierte er in einem Gastbeitrag für die Rheinische Post dringend für eine Verkleinerung des Bundestages, der infolge von unseligen Listen, Überhangmandaten und Ausgleichsmandaten zu einem Volkskongress der Tausend zu werden droht.  

Das Wupp-Wupp der Rotoren

Kurz darauf machte Altmaier von sich reden, als er vorschlug, Windräder nur mit einem Mindestabstand von 1.000 Metern zu nächsten Siedlung zu bauen. Als Siedlung gelten dabei fünf Häuser auf einem Fleck. Was waren alle entrüstet. Am meisten Anton Hofreiter, Fraktionschef der Grünen, der Altmaier luftschnappend vorhielt, die Windenergiebranche „plattmachen“ zu wollen. Hofreiter muss schon länger nicht mehr mit offenen Augen durchs Land gefahren sein. Sonst würde er wissen, wie absurd diese Wortwahl ist. Aber er blieb nicht allein mit seiner Empörung gegen Altmaier. Nahezu aus allen Richtungen wurde sein Vorschlag abgebügelt, aus Opposition und Regierung gleichermaßen. 

Nur kurz, um sich ein Bild von den Relationen zu machen: Die 1000 Meter Abstand mögen nach viel klingen, sie sind es aber nicht, wenn man die Höhe der Windmühlen in Bezug dazu setzt: Über 200 Meter hoch sind sie inzwischen, das höchste deutsche mit 246 Metern steht in Gaildorf bei Stuttgart. Ist es wirklich zu unverschämt, von Hausbesitzern, sich bei solchen  Ungetümen einen Abstand von einem Kilometer zu erbeten? Dann hat immer noch eine ganz ordentliche Sichtbelästigung durch diese Dinger, aber wenigstens nicht mehr das gleichförmige „Wupp-Wupp“ der Rotoren tagein tagaus im Ohr. 

Abstand von der Energiewende  

Nein, Altmaier wird nicht niedergebrüllt, weil er Unsinn gesagt hat. Er wird niedergebrüllt, weil er Vernunft hat walten lassen und auf die betroffene Bevölkerung gehört hat. Diese Vernunft steht aber einem Projekt im Weg, dessen Irrwitz in seiner Radikalität und Irrealität sich mehr und mehr erweist und sich Energiewende nennt. Wenn die Altmaierschen Distanzen Gesetz würden, ließen sich die ohnehin illusorischen Ziele dieser Wende ins CO2-freie Energiedasein ohne Atomstrom noch weniger erreichen als so schon. Sie erweist sich dann als Fake. Bei einem Mindestabstand von 1.000 Metern zu benachbarten Wohngebieten würde sich das gesamte Leistungspotenzial von derzeit noch 80 Gigawatt auf 40 bis 60 Gigawatt reduzieren. Die in Frage kommenden Flächen reduzierte sich um 20 bis 50 Prozent Was im Umkehrschluss eine Aussage darüber ist, wie das windkraftbeglückte Deutschland in einigen Jahren aussehen soll – mit Mühlen bis auf wenige Meter ran an die Siedlungen. 

Gegen deren Anblick hilft dann nur noch eins. Seenebel an Land.  

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