Neun-Euro-Ticket - Betriebsstörung aus betrieblichen Gründen

Mit dem Neun-Euro-Ticket, das in diesem Sommer bundesweit für Busse und Bahnen gilt, lässt sich nicht nur Deutschland neu entdecken. Es droht auch eine Totalpleite wegen heilloser und flächendeckender Überforderung. Und genau das wäre vielleicht gar nicht das schlechteste Ergebnis. Übrigens: Fahren Sie unbedingt mit der Frankenwaldbahn von DB Regio nach Probstzella!

Leider seit 1994 stillgelegt, doch ein Förderverein kämpft für die Wiedereröffnung: die Max-und-Moritz-Bahn in Thüringen / dpa
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Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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Möglicherweise war es eine Schnapsidee. Falls ja, dann aber eine von den netteren, auch wenn sie einem schlechten Gewissen der Bundesregierung entsprang. Wissen wird man es erst hinterher, also am 1. September, wenn Bilanz zu ziehen ist. Eine Vorhersage ist angesichts der Millionen von Akteuren, die über Wohl und Wehe des Experiments entscheiden werden, ausgesprochen schwierig. Die Voraussetzungen sind eine Woche vor dem Start ungünstig bis miserabel, personell, organisatorisch, technisch, aber das waren sie für die Hertha im Relegations-Rückspiel der Bundesliga auch, und trotzdem hat Felix Magath gewonnen und kann jetzt wieder zufrieden mit sich und der Welt Holzhacken gehen. Deshalb: Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Also schauen wir mal.

Die gute Fee unseres Büros zum Beispiel, die den Laden in einem menschenwürdigen Zustand erhält und für lebenspraktische Fragen aller Art auch sonst eine gute Adresse ist, brauchte für ihr Urteil über das Neun-Euro-Ticket keine 30 Sekunden: „Klar kaufe ich das, und zwar noch am ersten Tag.“ Ihre Rechnung ist einfach: Anstelle von 240 Euro (monatlich, nicht jährlich) für ihre berufsbedingte länderübergreifende Pendelei zahlt sie ab 1. Juni für ein Vierteljahr nur noch 32,50 Euro pro Monat – neun Euro für sich selbst und 23,50 für ihr Fahrrad. Das ist weniger als ein Siebtel ihrer üblichen Fahrtkosten. Allerdings geht sie das Risiko ein, ihr Rad in dieser Zeit wegen Überfüllung des Zuges häufiger am Bahnhof zurücklassen zu müssen. Insgesamt wird sie in diesem Vierteljahr aber planmäßig 622,50 Euro sparen. Insofern: Entlastungsmission an dieser Stelle aller Voraussicht nach schon einmal erfüllt.

Zweiter Aspekt: Die Bahn als solche als Thema der Politik. Seit 1990 ging es mit ihr kontinuierlich bergab und damit ihr und ihren Kunden nie so schlecht wie heute. Nicht ein einziger Bundesverkehrsminister, ob gestellt von CSU (Friedrich Zimmermann, Peter Ramsauer, Alexander Dobrindt, Christian Schmidt, Andreas Scheuer), CDU (Günther Krause, Matthias Wissmann) oder SPD (Franz Müntefering, Reinhart Klimmt, Kurt Bodewig, Manfred Stolpe, Wolfgang Tiefensee), hat sich um die Eisenbahn irgendwelche Verdienste erworben. Vielmehr ist allen Herren auf diesem Feld kollektiv Versagen zu attestieren. Wäre Lieblosigkeit ein Straftatbestand, hätte man für sie längst einen eigenen Hochsicherheitstrakt bauen müssen. Dass Volker Wissing als FDP-Mann hier eine Zäsur gelingen wird, ja, ob er diese überhaupt anstrebt, ist bislang nicht erkennbar.

Warum nicht Anton Hofreiter als Bahnminister?

Der Bundeskanzler, der das Verkehrsressort endlich als eines der wichtigsten überhaupt im Kabinett erkennt und schon einmal personell entsprechend ausstattet, muss wohl erst noch geboren werden. Noch jeder DB-Vorstand konnte hier unbehelligt von der Regierung murksen und verwahrlosen, wie es ihm gefiel.

Von daher wäre aus politisch-gesellschaftlicher Sicht eine Neun-Euro-Totalpleite wegen heilloser und flächendeckender Überforderung vielleicht gar nicht das schlechteste Ergebnis – als überfälliger Gong, als Weckruf, der der Eisenbahn auf Bundesebene endlich jenen Stellenwert verschafft, der ihr zusteht. Wenn Millionen eher schienenfremder Menschen, die sich eigentlich nur ein Schnäppchen sichern wollten, endlich mitreden können, wenn wieder einmal von „Kollaps“, „Schienenersatzverkehr“, „Reisezeitverlängerung um 18 Stunden inkl. Zwei-Sterne-Pension (Übernachtungsgutschein)“ und „Desaster“ die Rede ist, weil ein lokales Ereignis („Betriebsstörung aus betrieblichen Gründen“) noch zwei Bundesländer weiter alles aus dem Takt und sogar zum Stillstand gebracht hat, das Thema „Deutsche Bahn“ also im Regierungsviertel endlich mehrheits- und damit machtrelevant wird – und nur das interessiert am Ende die verantwortlichen Damen und Herren –, nur dann gibt es vielleicht Aussicht auf durchgreifende Besserung, etwa indem man der Bahn ein eigenes Ministerium zuteilt und es mit niemand anderem als – jawohl – Anton Hofreiter von den Grünen besetzt, weil er es mit Sachkenntnis und Leidenschaft leiten würde und zudem anderswo dann keinen Schaden anrichten könnte.

Dritter Aspekt: die Güterbahn. Sie ist, auch wenn es der Personalverkehrskunde kaum für steigerungsfähig hält, die eigentliche Katastrophe in der Katastrophe. Wer richtig unglückliche Menschen erleben möchte, der setze sich für eine ganz normale Arbeitswoche an die Seite des Logistikchefs eines umweltbewussten Unternehmens mit hohem Transportbedarf, Sägewerk, größerer Mittelstand oder auch Industrie, und beobachte ihn bei seinen täglichen Niederlagen im Bemühen, die Produkte seines Hauses mit DB Cargo halbwegs pünktlich, pannenfrei, mit überschaubarem organisatorischen Aufwand und zu konkurrenzfähigen Preisen zum Kunden zu bringen. Keine Chance. Die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwann auch der letzte gutwillige Manager entnervt der Bahn kündigt und auf den Lkw wechselt, steigt täglich.

Beim Güterverkehr knallt es besonders laut

Und DB Cargo bestreitet es inzwischen nicht einmal selbst. Die Wirtschaftswoche veröffentlichte soeben ein internes Video von DB-Cargo-Vorstand Ralf Kloß, verantwortlich für die Abläufe, und zitiert den verzweifelten Mann mit Sätzen, nach denen die Situation kaum noch zu beherrschen sei, denn Pünktlichkeit auf der Schiene sei in diesen Tagen fast unmöglich. „Wir sind in einer Situation, die ist fast schon unbeschreiblich.“ Baustellen und Störungen aller Art hätten Folgen, die er in seinen 40 Jahren bei DB Cargo „noch nicht erlebt“ habe.

Ohne das großartige Engagement seiner Belegschaft hätte der „komplette GAU auf dem Produktionssystem“ bereits stattgefunden, sagt Kloß im geleakten Video und erklärt seinen Leuten, was diese bereits wissen, nämlich dass DB Cargo zusätzliche Loks gemietet und Transportmengen reduziert habe, um die Züge noch irgendwie zum Kunden zu bringen. Der Vorstand denke aber über weitere „sehr, sehr radikale Maßnahmen nach“, was eigentlich nur einen Annahmestopp bei Aufträgen bedeuten kann.

Was Kloß’ Chefin Sigrid Nikutta, seit zweieinhalb Jahren Vorstand Güterverkehr der Deutschen Bahn und Expertin für Betriebs- und Organisationspsychologie, zu diesem Offenbarungseid sagt, ist nicht überliefert. Die Hoffnungen, mit denen man sie seinerzeit von den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) abgeworben hatte, weil sie dort so sympathische, multikulti-affine und antifa-kompatible Werbesprüche ins Werk gesetzt hatte, haben sich bisher nicht erfüllt. Immerhin bespaßt sie aber neuerdings das Publikum zur teuersten Werbezeit kurz vor der ARD-Tagesschau mit einer Gameshow namens „Cargo Montag“ und vielen schönen Preisen, denn „Güter gehören auf die Schiene“. Die Disponenten von BASF, Bayer, DHL, Thyssen-Krupp oder Volkswagen „toben“ laut Handelsblatt derweil angesichts neuer Einschränkungen, weil es nicht besser, sondern noch schlechter werden soll: „Wir sind stinksauer, weil nichts läuft.“ Wunsch und Wirklichkeit – zwei Welten prallen aufeinander, und hier knallt es besonders laut.   

Nicht mehr per Easyjet nach Mallorca, sondern mit dem RB10 durchs Rheintal

Vierter Aspekt: Heimat. Das Neun-Euro-Ticket ist sozusagen das Gegenstück zur Globalisierung, Konsequenz aus ihrer Abwicklung. Für eine Handvoll Dollar geht es nun nicht mehr per Easyjet nach Mallorca, sondern mit dem RB10 von Frankfurt am Main durchs Rheintal nach Koblenz mit Zwischenhalt in der Wiesbadener Sektkellerei Henkell. Ob sich Nancy Faeser so die positive Umdeutung des Heimat-Begriffs vorgestellt hat, kann uns zum Glück egal sein. Kein Qualitätsmedium, das etwas auf sich hält, versäumt es seit Montag, die Leserschaft mit feinsinnigen und selbst erprobten Vorschlägen für Tagestouren und Wochenendtrips zu versorgen, etwa innerhalb von drei Stunden ab Basel nach Ulm, wo der höchste Kirchturm der Welt als Belohnung lockt.

Und erst einmal ins Schwärmen geraten, steigt die Frankfurter Allgemeine Zeitung in München gleich auch noch in den Regionalexpress nach Füssen: „Einmal pro Stunde startet die BRB Richtung Königsschlösser. Knapp zwei Stunden dauert die Fahrt durch die Postkartenlandschaft, an deren Ende die Touristen zwischen verschiedenen Optionen wählen können: Wandern auf dem Lechweg oder Besuch beim ,Kini‘ auf Neuschwanstein. Die Schlösser von Ludwig II. sind alle mit dem Zug zu erreichen. Geheimtipp ist Hohenschwangau, das im Schatten von Neuschwanstein steht, in dem der bayerische König aufwuchs und seine Jugendzeit verbrachte.“     

Die eigentlichen Bahnhelden aber werkeln, unbeachtet von Politik und DB-Vorstand, ehrenamtlich in der tiefsten Provinz, etwa im einstigen Thüringer Grenzstreifen knapp nördlich vom Frankenland. Unsere Ururgroßväter sprengten und meißelten vor 125 Jahren zwischen Probstzella, zu DDR-Zeiten berühmt-berüchtigter Grenzbahnhof mit Stacheldraht und MG-Nestern, und Neuhaus am Rennweg eine einzigartige Bahnstrecke in das Schiefergebirge, die mit ihren kunstvollen und landschaftsprägenden Viadukten und Tunnelbauten bis heute jedem Eisenbahnfreund Tränen der Rührung in die Augen treibt.

Atemberaubende Open-Air-Tour per Draisine

Doch auch hier, hart an der ehemaligen innerdeutschen Grenze, wurde der Güterverkehr 1994 eingestellt. Seither donnern ungezählte Lastkraftwagen in Ost-West-Richtung durch die engen Täler – und zwölf Jahre später auch die Personenbeförderung. So hält heute alleine ein kleiner liebenswerter Verein von Enthusiasten die Hoffnung auf eine Wiederbelebung der „Max-und-Moritz-Bahn“ am Leben, Draisinenfahrten ab Gräfenthal nach Vereinbarung, winddichte Jacke nicht vergessen.

Unser Tipp: Mit der Frankenwaldbahn von DB Regio ab Leipzig oder Bamberg bis Probstzella, dort im (sehenswürdigen) Bauhaus-Hotel ein Fahrrad mieten, damit fünf Kilometer weiter an der Zopte entlang bis Gräfenthal radeln und am dortigen (stillgelegten und an privat verkauften) Bahnhof umsteigen in die Draisine des Fördervereins Max-und-Moritz-Bahn e.V. zu einer atemberaubenden Open-Air-Tour. Eisenbahner Andreas Bartsch hat für alle Wünsche und Buchungen täglich von 9 bis 20 Uhr ein offenes Ohr.

Das Neun-Euro-Ticket gilt für diesen Spaß allerdings nicht. Dafür sind Kost und Logis im Schiefergebirge überaus preiswert, etwa im Schloss Wespenstein (Gräfenthal) oder im Gasthaus Steiger (Ortsteil Gebersdorf). Einen amtlichen Lichtblick gibt es seit einigen Tagen: Unter den Bahnstrecken, deren Reaktivierung die Thüringer Landesregierung prüfen will („Masterplan 2030“), ist auch die Max-und-Moritz-Bahn durch das Schiefergebirge. Der MDR berichtet: „Die Pläne treffen auf große Zustimmung.“ Was heißt: Nach einer Wiederbelebung wären auch diese romantischen 23 Kilometer bei künftigen Super-Billig-Bundesweit-Monatskarten dabei. 

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