Soziale Folgen der Coronakrise - Die große Kluft

Eigentlich wollte die Bundesregierung die gesellschaftliche Spaltung überwinden. Die Corona-Krise aber bewirkt das Gegenteil: Neue Verteilungskämpfe werden die Milieus weiter auseinandertreiben. Politiker wie Armin Laschet befürchten eine größere Spaltung als in der Flüchtlingskrise.

Die Abstände zwischen den Menschen werden bald wohl auch auf gesellschaftlicher Ebene zunehmen / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

So erreichen Sie Alexander Marguier:

Anzeige

Große Krisen waren schon immer Brandbeschleuniger, weil sie bereits schwelende Konflikte befeuern und gesellschaftliche Bruchlinien gnadenlos offenlegen. Mag inmitten einer Krise der Zusammenhalt zwischen den Menschen eine Zeit lang sogar gestärkt sein, treten die unterschiedlichen Interessen hinterher umso deutlicher hervor. Denn Krisen kosten Geld und Arbeitsplätze; sie ziehen fast immer Wohlstandsverluste und Verteilungskämpfe nach sich. Das wird bei der Corona-Krise nicht anders sein. Im Gegenteil: Die Bundesrepublik war schon vorher ein Land, dessen Milieus und gesellschaftliche Gruppen immer weiter auseinanderdrifteten. Die Brüche verlaufen zwischen ländlicher Bevölkerung und den Bewohnern großer Städte, zwischen Modernisierungsgewinnern und Abgehängten, zwischen weltgewandten Kosmopoliten und jenen, die auf einen funktionsfähigen Nationalstaat angewiesen sind – um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Nicht ohne Grund haben sich CDU, CSU und SPD in ihrem geltenden Koalitionsvertrag auf ein neues bürgerschaftliches Miteinander verständigt. Bereits in der Präambel heißt es: „Den sozialen Zusammenhalt in unserem Land wollen wir stärken und die entstandenen Spaltungen überwinden.“ Man nehme die Ängste der Menschen ernst und wolle ihnen „durch unsere gemeinsame Arbeit umfassend begegnen“. Vor allem sollten alle Kinder und Jugendlichen gleiche Bildungschancen erhalten, „damit Leistung und Talent über die persönliche Zukunft entscheiden, nicht die soziale Herkunft“. 

Wächst gerade eine „Corona-Generation“ heran?

Die Pandemie jedoch bewirkt das exakte Gegenteil. Schon die erbittert geführte Auseinandersetzung um den richtigen Weg beim Kampf gegen das Virus zeigt, was uns demnächst in noch viel schärferer Form bevorsteht. Denn der Lockdown hinterlässt längst nicht überall ähnlich tiefe Spuren; während etwa Hunderttausende Selbstständige um ihr wirtschaftliches Überleben fürchten müssen, dürften im öffentlichen Dienst kaum Existenzängste herrschen. Und während sich bildungsbürgerliche Haushalte mal mehr, mal weniger gut mit Homeschooling arrangieren können, schlägt der wochenlange Unterrichtsausfall mit brachialer Wucht auf jene durch, die schon zuvor kaum Anschluss finden konnten.

Bildungsforscher wie Katharina Spieß vom Berliner DIW sprechen sogar von einer „Corona-Generation“, die da heranwachsen könnte. Zwar existieren bisher nur wenige Daten, um die mittel- und langfristigen Effekte der Schließung von Schulen und Kitas zu prognostizieren. Aber aufgrund von Untersuchungen „vor Corona“ weiß man, dass viele leistungsschwache Schülerinnen und Schüler aus einkommensschwachen Familien stammen und zu Hause oft nicht einmal einen Schreibtisch haben – geschweige denn Computer und Drucker, die von den meisten Schulen für den behelfsweisen Fernunterricht wie selbstverständlich vorausgesetzt wurden. 

Deswegen ist die Vorstellung schlicht illusorisch, die bei den Kindern und Jugendlichen entstandenen Defizite in Mathematik oder Deutsch würden sich nach der Krise über die Milieus hinweg irgendwann wieder nivellieren – zumal lernschwache Schüler aus prekären Verhältnissen eine spezifische Förderung brauchen, die ihre Eltern nicht leisten können. Deswegen, so Spieß, sei „zu vermuten, dass die Schere tatsächlich weiter auseinandergeht“: Lernprobleme würden sich erst mittelfristig kumulieren und damit längerfristig auswirken – mit den entsprechenden Folgen für das Humanpotenzial – „und damit auch auf die gesamte Gesellschaft“.

Spätestens, wenn die „Corona-Generation“ in ein paar Jahren auf den Arbeitsmarkt drängt, dürfte es ein sehr bitteres Erwachen geben. Um zu verhindern, dass infolge der Pandemie eine riesige Alterskohorte künftiger Sozialfälle entsteht, müsste jetzt eigentlich mit aller Macht gegengesteuert werden. Die DIW-Expertin spricht von einem „Marshallplan für den Bildungs- und Familienbereich“, der zielgerichtet und nicht im Gießkannenprinzip alle Kinder und Jugendlichen fördert, die besonders viel aufzuholen haben. Auch bei der Digitalisierung an den Schulen dürfe nicht länger gewartet werden, „da können wir es uns nicht leisten, einen Bürokratieapparat davor aufzubauen, wie Schulen jetzt schnell an digitale Plattformen kommen“, mahnt Katharina Spieß. 

Experte sieht US-Amerikanisierung der Sozialstruktur

Doch die teilweise desaströsen Zustände an deutschen Schulen und Kitas, die immer größer werdende Kluft beim Bildungsniveau von Kindern und Jugendlichen aus unterschiedlichen sozialen Schichten – das alles ist seit langem bekannt. Wie wahrscheinlich ist es da, dass die Politik ausgerechnet dann handelt, wenn wegen Corona demnächst die öffentlichen Kassen leer sind?

Christoph Butterwegge, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Köln, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der gesellschaftlichen Drift; im vorigen November erschien sein Buch „Die zerrissene Republik“. Darin geht es auch um die Frage, ob Krisen die soziale wie ökonomische Ungleichheit verstärken. Historisch betrachtet, ist mitunter sogar das Gegenteil der Fall, weil krisenbedingte Kursstürze oder Börsenzusammenbrüche vor allem große Vermögen vernichtet haben, während die Mittelschicht oder der ärmere Teil der Bevölkerung zunächst kaum betroffen war. Bei der großen Finanzmarktkrise vor gut zehn Jahren habe dieser Zusammenhang allerdings keineswegs gegolten – Stichwort „Bankenrettung“ auf der einen sowie eine Niedrigzinspolitik auf der anderen Seite, die vor allem die einfachen Sparer belastet. Butterwegge rechnet damit, dass auch die Corona-Krise und deren Folgen wie ein Spaltpilz auf die Gesellschaft wirken – schon deshalb, „weil am Ende die großen Unternehmen mit den höchsten Umsätzen und den höchsten Dividenden vermutlich am meisten bedacht werden“. Corona werde die Ungleichheit in Deutschland sowohl bei den Menschen wie auch bei den Firmen weiter verschärfen, glaubt der Politologe; „insbesondere viele Angehörige der Mittelschicht werden durch die Krise noch mehr Angst davor bekommen, zwischen oben und unten zerrieben zu werden“.

Das Phänomen einer erodierenden, von Abstiegsängsten zerfressenen Mitte kennt man aus den Vereinigten Staaten, die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten war eine unmittelbare Folge davon. Kommen wegen Corona also bald auch auf Deutschland amerikanische Verhältnisse zu? Christoph Butterwegge hält dieses Szenario für plausibel, spricht von einer möglichen „US-Amerikanisierung der Sozialstruktur“ und einer „Radikalisierung von Bevölkerungsschichten“. Wobei die Digitalisierung auf diese Entwicklung wie ein Turbo wirkt: In der Corona-Krise haben viele Unternehmen gemerkt, dass ein erheblicher Teil der Arbeit auch im Homeoffice erledigt werden kann. Warum also hohe Mieten für Büros in den Innenstädten zahlen, wo doch die Mitarbeiter ihren Job offenbar genauso gut vom heimischen Schreibtisch aus erledigen können? Das bedeutet aber eben auch: weniger Sozialkontakte, weniger Feedback durch Kollegen, keine Flurgespräche mehr. Dadurch, fürchtet Butterwegge, nimmt das Aggressionspotenzial in einer Gesellschaft zu, weil eben auch „die soziale Isolation von Individuen und die Gefahr einer irrationalen Reaktion darauf wachsen“.

Arbeitslosigkeit und Ungleichheit werden stark zunehmen

Die Bundesrepublik steht aller Voraussicht nach vor dem schwersten Konjunktureinbruch seit ihrem Bestehen. Nach Schätzungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ist kurzfristig mit mehreren Millionen Kurzarbeitern zu rechnen. Auch die Arbeitslosigkeit wird wegen der Corona-Krise in einem Ausmaß zurückkehren, wie man es seit Anfang der 2000er-Jahre nicht mehr kannte.

Damals waren bis zu knapp unter fünf Millionen Menschen in Deutschland arbeitslos gemeldet – und gleichzeitig klaffte die Schere zwischen hohen und niedrigen Einkommen so weit auseinander wie nie zuvor: Bis zum Jahr 2005, als die Arbeitslosigkeit ihren Höhepunkt erreicht hatte, stieg der Gini-Koeffizient als Standardmaß der Ungleichheit bei den Haushaltsnettoeinkommen deutlich an und schwankt nach Angaben des DIW seither bei einem Wert um 0,29 (der Wert 1 steht für die höchstmögliche Ungleichheit, 0 bedeutet vollständige Gleichheit). Im internationalen Vergleich mag das noch recht niedrig sein – in den USA zum Beispiel liegt der Gini-Koeffizient bei 0,41. 

Viele Migranten werden ihren Job wohl zuerst verlieren

Allerdings hat Deutschland in den vergangenen anderthalb Dekaden auch ein „Jobwunder“ erlebt – im vergangenen Jahr lag die Arbeitslosenquote bei nur noch 5 Prozent. Das wird sich jetzt ändern, und damit wird auch die materielle Ungleichheit zunehmen.
Eine Bevölkerungsgruppe wird davon besonders betroffen sein, nämlich die Migranten. Der enorme Zuwanderungsschub durch die Flüchtlingskrise ließ sich in den Boomjahren nach 2015 noch halbwegs abfedern – auch weil der Staat mit milliardenschweren Qualifizierungsprogrammen nachgeholfen hatte. Trotzdem ist der Anteil an Niedriglöhnern unter den Migranten in letzter Zeit rapide gestiegen und lag zuletzt bei 30 Prozent. Wer in diese Kategorie fällt, also als Single bis zu knapp 1200 Euro netto im Monat verdient, geht meist einer einfachen Tätigkeit nach – und dürfte damit zu jenen gehören, die in einer Rezession als Erste ihren Arbeitsplatz verlieren. Wenn aber geregelte Arbeit einer der wichtigsten Bausteine für gesellschaftliche Teilhabe ist, wie es auch die Bundesregierung immer wieder verkündet – was bedeutet das alles dann für das deutsche Megaprojekt namens Integration? Immerhin hat sich die ausländische Bevölkerung in Deutschland zwischen den Jahren 2010 und 2017 um vier auf etwa 10,5 Millionen vergrößert; hinzu kommen noch einmal rund elf Millionen Deutsche mit Migrationshintergrund. 

„Ich sehe auch die Gefahr, dass in einer wirtschaftlichen Rezession vor allem die Arbeitsplätze von Migranten bedroht sind“, sagt Ruud Koopmans, Direktor der Abteilung „Migration, Integration, Transnationalisierung“ am Wissenschaftszentrum Berlin. „Die meisten von ihnen arbeiten ja in Industrieberufen; auch in der Gastronomie sind Migranten überproportional häufig vertreten – also Branchen, die wegen Corona schon jetzt stark angeschlagen sind.“ Auf die Integration werde es durch Corona „mit Sicherheit negative Effekte“ geben – zumal sich der lange Unterrichtsausfall an den Schulen auf die Kinder von Migranten besonders dramatisch auswirkt.

Clash der Anywheres und Somewheres?

Ruud Koopmans sieht sogar einen übergeordneten Konflikt, der sich durch die Corona-Krise verschärfen wird. Dabei blickt der Berliner Sozialforscher auf zwei gegensätzliche Lager, die sich erst in den vergangenen Jahren ganz deutlich herausgebildet haben: einerseits jene Gruppe von Leuten, die eher kosmopolitisch eingestellt sind, die viel reisen, viele internationale Kontakte haben und die meist in den großen Ballungsräumen wohnen. Und auf der anderen Seite eine Bevölkerungsmehrheit, die vor allem auf die heimische Wirtschaft und auf den Nationalstaat ausgerichtet ist. Im anglo­amerikanischen Sprachraum hat sich für diesen Gegensatz das Begriffspaar der „Anywheres“ und der „Somewheres“ etabliert – also die ortsungebundenen „Nirgendwos“ einer liberalen Elite und die „dagebliebenen“ Normalos aus den mittleren und unteren Schichten. „Zwischen diesen Gruppen wird die Spannung enorm zunehmen, weil die Pandemie eindeutig durch die Klasse der Vielreiser und Ferntouristen verbreitet worden ist“, konstatiert Koopmans.

Vor diesem Hintergrund sei es auffällig, dass jene Länder besonders wenig von Corona betroffen waren, die ihre Grenzen schnell zugemacht haben und Staatsbürger, die aus dem Ausland zurückkamen, in Quarantäne schickten; umgekehrt seien jene Länder besonders stark von Corona heimgesucht worden, die ihre Grenzen lange offen hielten. „Viele Regierungen westeuropäischer Länder waren wenig zögerlich, wenn es darum ging, wirtschaftliche Lockdowns zu verhängen – gleichzeitig aber sehr zögerlich, wenn es darum ging, Grenzen zu schließen“, sagt Koopmans und nennt dafür zwei Beweggründe: einen ideologischen und einen ökonomischen. „Bei der Ideologie geht es darum, dass offene Grenzen grundsätzlich und sogar in Krisenzeiten als etwas Gutes zu gelten haben. Und wirtschaftlich geht es darum, dass die kosmopolitische Klasse mit offenen Grenzen ihre eigenen Privilegien verteidigt.“ Dieser Zusammenhang werde sich im Rückblick auf die Corona-Krise „wahrscheinlich sehr deutlich zeigen“, ist Ruud Koopmans überzeugt.

Eine Vermögensabgabe würde die Falschen treffen

Carsten Linnemann, 42 Jahre alt und CDU-Bundestagsabgeordneter aus Paderborn, ist Chef der Mittelstands­union seiner Partei. Dass er die Pandemie nicht nur als ein Gesundheitsproblem sieht, liegt damit auf der Hand. Vor allem die staatlichen Wirtschaftshilfen wegen Corona lassen bei ihm derzeit die Skepsis wachsen, ob sie auch vernünftig austariert sind. Denn da werde einerseits viel geredet über die ganz Kleinen, Stichwort Soloselbstständigen-Programm – und auf der anderen Seite über die ganz Großen, zum Beispiel die Lufthansa. „Der klassische Mittelstand hingegen findet in der derzeitigen Debatte viel zu wenig Beachtung, und dieses Szenario ist brandgefährlich“, sagt Linnemann. 

Eine coronabedingte Vermögensabgabe, wie sie etwa die SPD-Vorsitzende Saskia Esken im Sinne einer gerechten Lastenverteilung fordert, wäre in Linnemanns Augen reines Gift: „80 Prozent der Unternehmen in Deutschland sind Personengesellschaften, und viele von denen wissen nicht, ob es für sie im nächsten Jahr überhaupt weitergeht“, sagt er. „Genau sie aber würde man mit einer Vermögensabgabe voll treffen, weil hier Unternehmer und Unternehmen eins sind.“ Was gerecht ist, hängt eben sehr von der Perspektive ab, und da stehen Deutschland die größten Auseinandersetzungen erst noch bevor. Das weiß auch der Mittelstandspolitiker aus Paderborn: Es werde einen großen Dissens darüber geben, wer die Rechnung zahlt, die wegen der Corona-Krise gerade geschrieben wird, sagt er. „Da liegt schon erhebliches Konfliktpotenzial.“

Im bevorstehenden Verteilungskampf werden die einen nach Steuersenkungen rufen und die anderen nach neuen Abgaben; die einen werden mit Zähnen und Klauen ihre Pfründe verteidigen, während andere die Abschaffung von Privilegien fordern – natürlich immer mit dem Argument, dass sonst der gesellschaftliche Zusammenhalt in Gefahr sei. Und während linke Parteien wegen Corona auf mehr Staat setzen, sagt ein Wirtschaftsliberaler wie Linnemann, dass alle, die im öffentlichen Dienst sicher ihr Geld bekämen, offenbar entspannter seien als jene, die jetzt Existenz­ängste haben: „Wir müssen spätestens nach der Krise erkennen, dass es höchste Zeit ist, in Deutschland eine Debatte darüber zu führen, wer überhaupt noch verbeamtet werden muss.“ 

Linnemann: Es braucht überzeugende politische Führung

Man ahnt, wie es weitergeht. Linnemanns Befürchtung, „dass die deutsche Mittelschicht, die ohnehin schon in der Zange war und immer kleiner wurde, durch die Folgen der Corona-Krise noch kleiner wird“, treibt zwar auch den links stehenden Politologen Christoph Butterwegge um. Nur dass Linnemann deswegen eben eine Steuerreform fordert, die sich „gezielt an die Mittelschicht wendet“, während Butterwegge eine Vermögensabgabe für das Gebot der Stunde hält.

Womöglich werden also die unterschiedlichen Milieus ausgerechnet durch den Kampf gegen eine gesellschaftliche Spaltung der Gesellschaft sogar noch weiter auseinandergetrieben. Ist dieses Dilemma überhaupt auflösbar? Carsten Linnemann sagt, es brauche jetzt vor allem „eine politische Führung, die dazu in der Lage ist, gemeinsame Ziele zu definieren, hinter der sich weite Teile der Gesellschaft versammeln können und die sie optimistisch in die Zukunft schauen lassen“. Fragt sich nur, wer das sein soll.

Dieser Text stammt aus der Juni-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

Jetzt Ausgabe kaufen

 

 

 

 

Anzeige