
- Raus aus der Lockerungsspirale!
Die Aufregung über die fast schüchterne Lockerungsrhetorik von Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow zeigt: Die Gesellschaft braucht eine Exit-Strategie aus der Angststarre. Die Politik muss die Verantwortung wieder in die Hände des Individuums legen.
Seit Wochen ist das Land auf Lockerungskurs. Tagtäglich werden Verbote und Beschränkungen diskutiert, infrage gestellt und zum Teil auch kassiert. Doch je mehr Lockerungen beschlossen werden, desto verkrampfter schaut die Gesellschaft auf deren Auswirkungen – ganz so, als seien die Lockerungen nicht Ausdruck eines gesunkenen Risikos, sondern unvermeidliche Quellen neuen Unheils. Der Lockdown unter den Locken hält sich hartnäckig. Die Gaststätten bekommen dies zu spüren: Ihnen geht nun die Luft aus, denn die Tische bleiben leer und die Menschen daheim.
Eineinhalb Meter sind ein Lichtjahr
Die schrittweisen Aufhebungen der Kontaktbeschränkungen haben einen zwiespältigen Effekt auf das gesellschaftliche Klima: Zum einen wirken sie wie Signale dafür, dass theoretisch alles wieder so werden könnte wie früher und sich die Entscheidungsträger genau darum bemühen. Zum anderen aber wird so der mentale Lockdown zementiert: Die Lockerungslogik basiert darauf, dass der tatsächliche Abschluss der Maßnahmen nicht abzusehen ist. Wer aber immer weiter lockert, ohne jemals den Status zu erreichen, der vor Einführung der Beschränkungen geherrscht hat, der normalisiert den Ausnahmezustand und injiziert ihn als Neo-Normalität ins gesellschaftliche Bewusstsein.
Die politische Rhetorik ist dabei überaus heuchlerisch: Sie suggeriert, als sei der einzige nicht verhandelbare Bereich der Beschränkungen – die Abstandsregel – nur ein kleines, fast zu vernachlässigendes Detail, mit dem sich leicht leben ließe. In Wirklichkeit aber ist die Abstandsregel der Todesstoß für unser kulturelles, wirtschaftliches und soziales Leben! Wer tatsächlich glaubt, wir seien nur 1,5 Meter von der Normalität entfernt, der hat diese entweder nie erlebt oder längst abgeschrieben. Nicht nur in der Arbeitswelt, auch in Kunst und Kultur, in Zerstreuung und Genuss ist das Einhalten eines Mindestabstands zwischen Menschen von eineinhalb Metern schlicht nicht umsetzbar, ohne den eigentlichen Kern der jeweiligen Aktivität auszuhöhlen. Fakt ist: Die Abstandsregel hält die Gesellschaft Lichtjahre von dem entfernt, was die Menschen als halbwegs normales, zivilisiertes Leben empfinden.