Deutschlands einziges Dorf ohne Corona-Fall - „Der Begriff Wunder ist zu hoch gegriffen“

In der Gemeinde Lieg im Hunsrück ist seit Beginn der Pandemie kein einziger Coronafall registriert worden. Ein glücklicher Zufall – oder alles eine Frage der Disziplin? Im Interview verrät Ortsbürgermeister Heinz Zilles, warum die Dorfbewohner so gut durch die Pandemie gekommen sind.

Zero Covid: Die Gemeinde Lieg hält die Null seit Beginn der Pandemie / dpa
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Autoreninfo

Sina Schiffer studiert an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn Politik und Gesellschaft und English Studies. Derzeit hospitiert sie bei Cicero. 

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Heinz Zilles ist seit dem Frühjahr 2016 Oberbürgermeister der Ortsgemeinde Lieg im Hunsrück. 

Herr Zilles, bis heute haben Sie in Ihrer Gemeinde keinen einzigen Corona-Fall. Viele betiteln dies auch als das „Wunder von Lieg“. Sind Sie als Bürgermeister darüber genauso erstaunt?

Der Begriff „Wunder“ ist sicherlich zu hoch gegriffen. Ja, ich bin erstaunt und zugleich erfreut, dass wir in unserer Gemeinde seit Beginn der Pandemie noch keinen einzigen registrierten positiven Fall haben. Natürlich ist das eine Momentaufnahme, die sich sekündlich ändern kann. Davor ist niemand gefeit, auch wir in Lieg nicht. Wir haben bisher wohl sehr viel Glück gehabt, die vergangenen rund 14 Monate unbeschadet zu überstehen und dem Corona-Virus Paroli bieten zu können. Das zeugt aber auch von viel Disziplin, regelkonformem Verhalten, Einsicht und Vernunft der Bürgerinnen und Bürger, denen dafür mein Lob und Dank gilt. 

Was ist Ihr Erfolgsrezept? 

Es gibt dafür kein Rezept. Wenn man von Erfolg sprechen möchte, dann beinhaltet es natürlich in erster Linie viel Glück, kräftiges Daumendrücken und Verantwortungsbewusstsein im Umgang miteinander. Der Zusammenhalt und das Gesamtgefüge einer Dorfgemeinschaft müssen stimmen. Wahrscheinlich ist die Umsetzung von Richtlinien und Maßnahmen in kleinen Kommunen einfacher als in größeren. Das mag auch daran liegen, dass es bei uns nicht so anonym ist wie in Städten und Metropolen. 

Vielleicht gehört auch „Fingerspitzengefühl“ dazu, wie man die Menschen in einer solchen Situation sensibilisiert und an sie appelliert, die Regeln und Vorgaben zu beachten. Dabei sollte man keinesfalls panisch oder hysterisch agieren, sondern mit Sinn und Verstand. Bei uns hat man Gott sei Dank generationsübergreifend sehr früh verstanden und danach gehandelt, dass wir es mit einem äußerst aggressiven, gefährlichen Virus zu tun haben, welches die Welt mit nie zuvor gekannter Rasanz und Tragweite belastet. 

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Wie wollen Sie die Null-Inzidenz auch weiterhin halten?

Das ist unser aller Ziel. Ich kenne meine Bürger. Was sie dazu beitragen können, werden Sie tun. Wichtige Voraussetzung ist eine intakte Dorfgemeinschaft, in der die Menschen nach ihren individuellen Vorstellungen leben können und dürfen. Das ist in Lieg gegeben. Gegenseitige Hilfe ist kein Fremdwort.  Wenn es darauf ankommt, sind alle füreinander da. Da wird niemand allein gelassen, und niemand muss sich einsam fühlen. Dieses „Sozialgefüge“ ist prägend und zeichnet mit verantwortlich, dass wir es hoffentlich auch schaffen, die Null-Inzidenz zu halten.

Gibt es bestimmte Projekte die Sie in Lieg umgesetzt haben?

Ja, beispielsweise hat das Jugendraum-Team zu Beginn der Pandemie einen Einkaufsservice „Jung für Alt“ zum Schutz der älteren Mitmenschen gestartet. Darüber hinaus wurden die Seniorinnen und Senioren immer wieder von der Frauengemeinschaft, der Seniorenbeauftragten oder auch seitens der Gemeinde mit kleinen Aufmerksamkeiten überrascht. Das trägt mit zum Wohlbefinden bei, was Körper, Geist und Seele stärkt und schließlich gesundheitsförderlich ist. Darüber hinaus haben wir herrliche Wanderwege in waldreicher Gegend, die zur Erholung und Entspannung genutzt werden können. Lieg verfügt zudem über schnelles Internet und eine sehr gute Mobilfunkanbindung, was natürlich dem vernetzten Arbeiten, Home-Office-Angeboten und somit auch der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sehr entgegenkommt.

Wie setzen Sie Testungen und Impfungen bei sich in der Gemeinde durch? 

Ein ganz wichtiger Punkt ist die Möglichkeit für Impfungen und Testungen. Während zwischenzeitlich Arbeitgeber verpflichtet wurden, der Arbeitnehmerschaft Schnelltests zur Verfügung zu stellen, sollte zum eigenen und zum Schutze anderer jede sich bietende Gelegenheit dazu wahrgenommen werden. Die Freiwillige Feuerwehr unterhält in Zusammenarbeit mit DRK-Helfern eine Schnelltest-Station in der Hunsrückhalle, wo man sich einmal wöchentlich kostenlos testen lassen kann. Das ist einfach lobenswert, da viele Einsatzkräfte unter Verzicht ihrer Freizeit den Dienst am Nächsten eindrucksvoll umsetzen.     

Heinz Zilles 

Mit einer Inzidenz von Null dürften in Lieg auch Geschäfte und Schulen weiterhin offen bleiben. Machen Sie das auch?

Ja. Wir sind froh, in Lieg den Kindergarten und die Grundschule als wichtige Infrastruktureinrichtungen sozusagen vor der Tür zu haben. Sie sind das „Herzstück“ der Gemeinde, die Zukunft des Dorfes. Eindrucksvoll belegt wurde dies vor ein paar Monaten erneut im Rahmen eines großen ehrenamtlichen Engagements von Elternschaft und Vereinen, die bei uns äußerst aktiv, vielfältig und unterstützend das gesellschaftliche Leben prägen und stärken.

Was genau verbirgt sich hinter dem ehrenamtlichen Engagement? 

Während zum Beispiel auf politischen Ebenen ausschweifend über mehr Gesundheitsschutz in Schulen und Kindergärten diskutiert und debattiert wurde und wird, haben Eltern und Vereine längst in Eigenregie mit Spenden dafür gesorgt, dass die Schülerinnen, Schüler und Pädagoginnen in der „Wendelinus-Grundschule Lieg“ mit der Installation von zwei Raumluftfiltergeräten noch besser geschützt werden. Insbesondere die Schule bietet in großzügigen Klassenräumen genügend Abstandswahrung für Kinder und Lehrpersonal. Hier zeigt sich, dass vielleicht auch in diese Richtung zukünftig mehr Gedanken investiert werden sollten. 

Sie haben eine konkrete Forderung an die Politik gestellt, „konsequenter durchzugreifen“. Was genau erwarten Sie von der Politik?

Diese Pandemie hat uns alle total überrascht und auf dem falschen Fuß erwischt. Im Nachhinein weiß man immer besser, was man hätte tun beziehungsweise lassen sollen. Da ist auch niemandem einen Vorwurf zu machen. Aber nach den ersten Monaten und überstandener erster Welle hätte man vielleicht die bis dahin gewonnenen Erfahrungen unter Berücksichtigung medizinischer und wissenschaftlicher Erkenntnisse intensiver analysieren müssen, um zukünftige Betrachtungen und Vorgaben danach auszurichten.

Was heißt das konkret? 

Schon während der ersten Welle beziehungsweise spätestens kurz danach wäre ein harter Lockdown angebracht gewesen. Möglich, dass der Bevölkerung dadurch weitere einschneidende Schritte erspart geblieben wären. Das ständige Auf und Ab führte leider dazu, dass ein Teil der Bevölkerung die notwendigen Maßnahmen nicht mehr „akzeptierte“, deswegen demonstrierte und einige sich dagegen mächtig auflehnten, weil Eingriffe in Grundrechte befürchtet wurden. Letztendlich hat die Pandemie einen „ausufernden“ Formalismus und Bürokratismus aufgezeigt. Dies erschwert wichtige und notwendige Abläufe. 

Wie soll dem entgegengewirkt werden?  

Wir müssen zu mehr pragmatischen Handlungs- und Vorgehensweisen gelangen, die den „Gesamtapparat“ nicht lähmen. Gerade die Ortsgemeinden als kleinste politische Einheit des Staates mit ehrenamtlich Tätigen sind dabei oftmals die Leidtragenden, weil auf dieser Ebene meist sehr kurzfristig gesetzliche Vorgaben von oben herab umzusetzen sind. Erschwerend hinzu kommt, dass der finanzielle Rahmen in nicht wenigen Gemeinden arg begrenzt beziehungsweise sowieso schon defizitär ist. 

Seit diesem Jahr ist das Zauberwort der Pandemie nicht mehr nur #wirbleibenzuhause, sondern auch Impfungen. Spielen die bei Ihnen im Ort auch eine Rolle?

Um das Virus möglichst in den Griff zu bekommen ist es notwendig, dass großflächig genügend Impfstoff vorhanden ist, damit immer mehr Menschen ein Impfangebot erhalten. Aufgrund der jeweiligen Altersschichten und Prioritätsgruppen gehe ich davon aus, dass bei uns mittlerweile ungefähr 35 Prozent der Dorfbevölkerung zumindest einmal geimpft sind.

Wie steht es mit Corona-Leugnern? Gibt es die auch bei Ihnen? 

Nein, davon habe ich in unserer Gemeinde absolut nichts gehört. 

Die Fragen stellte Sina Schiffer.

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