Gaza-Konflikt - „Auch das ist ein Medienversagen“

Im Interview wirft der Direktor des American Jewish Committee Berlin, Remko Leemhuis, deutschen Medien bei der Berichterstattung über den Nahostkonflikt Einseitigkeit vor. Von der Bundesregierung fordert er ein Ende der Appeasement-Politik.

Demonstration in Berlin / dpa
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Autoreninfo

Ilgin Seren Evisen schreibt als freiberufliche Journalistin über die politischen Entwicklungen in der Türkei und im Nahen Osten sowie über tagesaktuelle Politik in Deutschland. 

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Remko Leemhuis hat in Marburg Politik und Orientwissenschaft studiert. Seit 2000 ist er Direktor des American Jewish Committee (AJC) in Berlin. Mit der festen Überzeugung, dass die Stärkung eines demokratischen Engagements und demokratischer Werte die Zeit des Nationalsozialismus überwinden könnten, war das AJC die erste globale jüdische Organisation, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Aktivitäten in Deutschland aufnahm.

Herr Leemhuis, jüdische Einrichtungen und Institutionen in Deutschland sehen sich neuerdings wieder großer Gefahr ausgesetzt. Haben Sie Angst?

Selbstverständlich gibt es Momente, in denen auch ich Angst habe. Alles andere wäre realitätsfern. Dabei geht es ja auch nicht nur um mich, sondern auch um meine Kolleginnen und Kollegen. Insbesondere das iranische Regime kundschaftet seit Jahren aktiv israelische und jüdische Ziele für Anschläge in Deutschland aus. In der Politik und in der breiteren Öffentlichkeit wird darüber noch viel zu wenig gesprochen. Und das ist nur eine von vielen Bedrohungslagen. 

Wie gehen Sie mit dieser Bedrohungslage um?

Wir lassen uns von dieser Angst nicht lähmen – im Gegenteil. Viel häufiger und stärker bin ich eigentlich wütend. Wütend darüber, dass wir als Organisation Gefahren ausgesetzt sind, und zwar aus dem einzigen Grund, dass wir uns für die Sicherheit des jüdischen Staates und der jüdischen Gemeinschaft einsetzen sowie für eine plurale und offene Gesellschaft. Und die Anhänger und Unterstützer der Hamas und anderer Terrororganisationen solche Bedrohungen nicht haben. Das ist schon eine schwer zu verstehende und bizarre Situation.

Wegen dieser Anfeindungen sind in den vergangenen Jahren gerade auch jüngere Juden nach Israel ausgewandert. Israel galt als einziger Ort auf der Welt, an dem sie ihre Identität und Religion sicher leben konnten. Trifft das noch zu?

Ich glaube, dass große Teile der nichtjüdischen Bevölkerung die Erschütterung, die der antisemitische Massenmord vom 7. Oktober bei Juden in Israel, aber auch hierzulande ausgelöst hat, gar nicht begreifen. Der jüdische Staat war und ist das Versprechen, dass Juden sich nie wieder in Kellern oder Kleiderschränken vor ihren Mördern verstecken müssen; dass Israel ein sicherer Zufluchtsort ist, wenn sie andernorts existenziell bedroht sind. Dieses Vertrauen ist grundlegend erschüttert worden. Das ist eine absolute Katastrophe, und es wird eine lange Zeit brauchen, bis dieses Vertrauen wiederhergestellt ist.

Nachwuchsextremisten von der rechtsradikalen Partei Dritter Weg feierten zuletzt den Befreiungskampf der Palästinenser gegen den „zionistischen Imperialismus“. Was fürchten Juden mehr: deutsche Neonazis oder islamistischen Antisemitismus?

Remko Leemhuis / AJC

Der Antisemitismus von rechts ist genauso eine Gefahr für Juden wie der islamistisch motivierte Antisemitismus. Alle Formen des Antisemitismus – egal von welcher Seite sie kommen – stellen eine reale Bedrohung dar, und es besteht bei jeder Form des Antisemitismus die Gefahr, dass er in Gewalt umschlägt. Deshalb beteiligen wir uns auch nicht an einem Ranking, welcher Antisemitismus gefährlicher ist.

Sie sind gut vernetzt in viele jüdische Gemeinden. Wie geht es den Juden in Deutschland? 

Das lässt sich schwer verallgemeinern. Außerdem kann und möchte ich als Nichtjude nur über mein persönliches Umfeld sprechen. Hier kann ich sagen, es gibt eine große Verunsicherung und Angst. Einige Freunde schicken ihre Kinder nicht mal mehr in die jüdischen Kindergärten und Schulen, trotz der Sicherheitsmaßnahmen. Die Ausschreitungen und Kundgebungen, auf denen Teilnehmer den barbarischen Terror der Hamas gefeiert haben, und eine Polizei, die zeitweise überfordert war, haben die Situation dann noch deutlich verschlimmert. Das beschränkt sich auch nicht nur auf Deutschland. Ein Kollege aus den USA hat mir berichtet, dass seine siebenjährige Enkeltochter in der Schule von einer Mitschülerin angegriffen worden ist, die zu ihr sagte: „Warum töten die Israelis andere Menschen?” 

Deutschland gehört weiterhin zu den größten Geldgebern für den Gazastreifen. Allerdings warnen Experten schon lange davor, dass diese Gelder von der Hamas zweckentfremdet werden.

Das ist ein Thema, das wir als AJC schon lange kritisieren. Daher reicht es mit Blick auf die aktuelle Situation auch nicht aus, dass alle Zahlungen nun einer Prüfung unterzogen werden. Selbst wenn im Gazastreifen die Gelder korrekt ausgegeben werden, ist deutlich geworden, dass der Zement nicht zum Bau von Krankenhäusern oder Schulen verwendet worden ist, sondern die Hamas diesen zum Aufbau terroristischer Infrastruktur genutzt hat.

Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass kaum sichergestellt ist, dass die Mitarbeiter des UNRWA („United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East“; Anm. d. Red.) nicht gleichzeitig auch mit der Hamas in Verbindung stehen. Gleiches gilt für das Westjordanland. Mag sein, dass die Mittel korrekt verwendet werden. Aber diese Zahlungen sollten so lange eingestellt werden, wie Märtyrerrenten an die Hinterbliebenen getöteter oder inhaftierter Terroristen gezahlt werden.

Wie empfinden Sie die deutsche Berichterstattung über den Konflikt in Israel und Gaza?

Im Vergleich zur Zeit der Zweiten Intifada und den folgenden Konflikten hat sich doch einiges zum Positiven verändert. Allerdings gibt es immer noch Probleme, etwa bei der Einordnung der Quellen. Das Gesundheitsministerium in Gaza ist eben nicht unabhängig, sondern Teil der Hamas. Dass auch deutsche Medien umstandslos nach wenigen Minuten die Lüge von 500 Toten durch einen israelischen Luftschlag auf ein Krankenhaus in Gaza übernommen haben, ist ein großes Problem, weil dadurch eine Emotionalisierung entsteht, die auch Juden hierzulande in Gefahr bringt.

Die zuletzt bei Pro-Palästina-Demonstrationen beobachteten Übergriffe gegenüber deutschen Polizisten verunsichern auch die deutsche Bevölkerung. Durch die Krise im Nahen Osten sind migrationskritische Nachrichten weniger tabuisiert.

Ich kann nur davor warnen, die aktuellen antisemitischen Ausschreitungen allein auf die Frage nach Migration zu reduzieren. Gerade in Deutschland hat es nun wahrlich keinen Mangel an Antisemitismus auch vor den größeren Migrationsbewegungen gegeben. Zweitens wäre meine These, dass viele Teilnehmer der jüngsten antisemitischen Ausschreitungen deutsche Staatsbürger sind, die hier geboren, in den Kindergarten und zur Schule gegangen sind. Der Antisemitismus ist ein Problem dieser Gesellschaft. 

Worüber wir vor allem reden müssen, ist die Rolle der islamischen Verbände, die in vielen Fällen Ableger diktatorischer und totalitärer Staaten sind. Nehmen wir einmal den Zentralrat der Muslime (ZMD). Dort sind mit ATIB („Avrupa Türk-İslam Birliği“, Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa e.V.) türkische Faschisten und mit dem IZH („Islamisches Zentrum Hamburg“) das iranische Regime vertreten. Beide werden vom Verfassungsschutz beobachtet. 

Wie kann es sein, dass der ZMD unter diesen Gesichtspunkten weiterhin ein Ansprechpartner für die Politik ist? Und warum wird der Vorsitzende des ZMD in Interviews nie danach gefragt? Auch das ist ein Medienversagen. Gleiches gilt für DITIB, die der verlängerte Arm des Erdogan-Regimes ist und in Deutschland hunderte Moscheen betreibt, in denen Judenhass gepredigt wird. Trotzdem sind sie immer noch ein Ansprechpartner der Politik. Zu Recht würde kein Politiker, keine Stiftung und keine andere zivilgesellschaftliche Organisation Vergleichbares im Bereich des Rechtsextremismus durchgehen lassen. Warum hier?

Was fordern Sie von deutschen Politikern?

Dass endlich zur Kenntnis genommen wird, dass der Kampf gegen Antisemitismus nur gelingen kann, wenn Antisemitismus in all seinen Facetten adressiert und Innen- und Außenpolitik dabei zusammengedacht werden. Betroffene Reden am 9. November oder 27. Januar sind wenig glaubwürdig, wenn Antisemitismus nicht endlich als ein gesamtgesellschaftliches Phänomen behandelt wird. 

Anstatt populistische Debatten über Abschiebung zu führen, sollten wir uns auch die Frage stellen, wie wir über Antisemitismus in unseren Schulen aufklären können, denn anscheinend gelingt uns das noch zu wenig. Legalistisch-islamische Verbände wie DITIB dürfen kein Ansprechpartner für deutsche Politik sein, und gegen islamistische Organisationen wie das IZH in Hamburg muss konsequent vorgegangen werden. Gleiches gilt für rechtsextreme Strukturen und natürlich auch für PFLP-nahe Organisationen wie Samidoun, die gegen Juden hetzen.

Das Gespräch führte Ilgin Seren Evisen.

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