Frankfurter Hauptbahnhof - Deutschland barbarisiert sich

Zum gewaltsamen Tod eines Jungen auf dem Frankfurter Bahnhof äußerte sich nun Innenminister Seehofer – auf konfuse Art. Die Erosion des Sicherheitsgefühls wird sich beschleunigen, solange Deutschland seine Grenzen nicht wirksam überwacht

Wie kam es zu dem grauenhaftem Mord am Frankfurter Hauptbahnhof? / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Schon die Lektüre schmerzt: Gestern starb ein achtjähriges Kind auf dramatische Weise vor den Augen seiner Mutter. Diese konnte gerade noch ihr Leben retten, indem sie sich von den Gleisen des Frankfurter Hauptbahnhofs auf einen schmalen Weg daneben warf. Es gelang ihr nicht, den Jungen zu sich zu ziehen. Der einfahrende ICE tötete den Knaben. Der Lokführer wird mit diesen schlimmen Eindrücken lange zu kämpfen haben, und ob die Mutter je wieder wird lachen können, steht sehr dahin. Als Auslöser der bösen Tat gilt ein 40-jähriger Mann aus Eritrea, wohnhaft in der Schweiz. Er soll Mutter und Kind „zielgerichtet auf das Gleis gestoßen haben“.

Ein solch schlimmer Vorfall verdient zunächst unser aller Mitgefühl. In das Leben von drei Menschen wurde irreparabel und böswillig eingegriffen. Den Opfern gilt der erste, der zweite und mindestens der dritte Gedanke. Hoffentlich zerbrechen die beiden Erwachsenen nicht an ihrem Leid. Hoffentlich verliert auch jene 78-jährige Frau, die der tatverdächtige Eritreer ebenfalls ins Gleis stoßen wollte und die sich erfolgreich zu wehren vermochte, ihre Beklemmung. 

Täter war bereits auf der Flucht

Der vielleicht vierte oder fünfte Gedanke wendet sich den Umständen der Tat zu. Was trieb den tatverdächtigen Eritreer zu seiner barbarischen Attacke? War es ein terroristischer Anschlag? War es Frauenhass? Hass auf den Westen? War es eine Nachahmungstat, nachdem vor einer Woche im nordrhein-westfälischen Voerde ein Serbe eine Frau vor einen Zug stieß, ebenfalls mit tödlichen Folgen? Oder gar Rache für das Attentat eines Deutschen auf einen Eritreer im hessischen Wächtersbach?

Die heutige Pressekonferenz mit Innenminister Seehofer brachte zur Motivlage keine neuen Erkenntnisse. Wohl aber erfuhren wir Erstaunliches: Der Eritreer war seit der vergangenen Woche in der Schweiz zur Fahndung ausgeschrieben, weil er eine Nachbarin mit dem Messer bedroht hatte. Er war also, musste Dieter Romann, Präsident des Bundespolizeipräsidiums, einräumen, „auf der Flucht“. Dennoch bekräftigte Seehofer mehrfach, der Eritreer sei „erlaubt eingereist“. Wie das? Straftäter, nach denen die Polizei eines Nachbarlandes sucht, dürfen „erlaubt“ deutsches Staatsgebiet betreten? Obwohl Seehofer die allgemeine Gültigkeit des Satzes „Sicherheit beginnt an der Grenze“ heute ausdrücklich bejahte? Die Schweiz hatte den Mann, der, wie wenig später in Zürich bekannt wurde, in psychiatrischer Behandlung war, fatalerweise nicht international zur Fahndung ausgeschrieben. Es war ein schwacher, ein konfuser Auftritt des Bundesinnenministers.

Wie konnte es so weit kommen?

Dass Seehofer seinen Urlaub „angesichts mehrerer schwerwiegender Taten in jüngerer Zeit“ unterbrach, war dennoch der richtige Entschluss. Neben den Tötungen von Frankfurt am Main und Voerde sind auch die Jagdszenen in deutschen Schwimmbädern keine Kleinigkeit. In Kehl am Rhein schwimmt man jetzt hinter Stacheldraht und unter Aufsicht, weil „große Gruppen unangepasster Jugendlicher aus Straßburg“ für Randale sorgten. Vergleichbare Aggressionen gab es in Essen, Mannheim, Stuttgart, weiteren Städten des Ruhrgebiets, und „stets wurden die Tatverdächtigen von der Polizei als jung, männlich, nordafrikanisch-arabisch, türkeistämmig oder (…) südländisch beschrieben.“  Mehrfach geriet das Düsseldorfer „Rheinbad“ in die Schlagzeilen. Dort sollen nun Einlass- und Passkontrollen verhindern, dass abermals „größere Gruppen Jugendlicher mit Migrationshintergrund Rabatz machen“.

Wie konnte es dazu kommen? Der Präsident des Bundesverbands deutscher Schwimmmeister hat eine Antwort parat: „Es hat exorbitant zugenommen seit 2015. Aus meiner Sicht sind das Nordafrikaner aus den Maghreb-Staaten und aus dem arabischen Raum, die ganz extrem unsere Wertvorstellungen mit Füßen treten.“ Die Flüchtlingspolitik der Regierung Merkel, heißt das, ist zum Sicherheitsrisiko für Deutschland geworden. Eritrea gehört nicht zu den genannten Ländern. Doch auch der Frankfurter Tatverdächtige fügt sich in das Gesamtszenario einer Bedrohung, die untrennbar ist vom seit 2015 forcierten „Clash of civilizations“.

„Hässliche Bilder“

Der Mensch ist aus krummerem Holz gemacht, als es der Stimmungshumanismus von Merkel, Seehofer & Co. wahrhaben will. Der tatverdächtige Eritreer galt in der Schweiz laut Seehofer als „Beispielfall gelungener Integration“ – und tötete nun doch „mit starrem Blick“ (Romann). Der „kaltblütige Mord“ (Seehofer) trägt dazu bei, dass das abnehmende „Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung“, wie Seehofer konstatierte, weiterhin erodieren wird. Der die deutsch-schweizerische Grenze unbehelligt passierende, zur Fahndung ausgeschriebene Mann belegt trotz angeblich „erlaubter Einreise“, wie falsch und trügerisch das Bild vom ausnahmslos friedfertigen Einwanderer ist.

Wer „hässliche Bilder“ an der Grenze partout vermeiden will, produziert diese im Innern. Wer an der Grenze nicht zu kontrollieren bereit ist, muss Innenstädte überwachen, Bahnhöfe umbauen und Schwimmbäder in Hochsicherheitstrakte verwandeln. Wer jeden ins Land lässt und kaum einen wieder außer Landes bringt, der heißt auch böse Menschen, Tunichtgute und Barbaren willkommen – Feinde unserer „Wertvorstellungen“. Darin liegt die wahre „Werteerosion“, die Seehofer heute an untauglichen Beispielen erläuterte: dass ein Staat nicht willens ist, die Oberhoheit über sein Territorium auszuüben und dass weite Teile von Politik und Medien diese Selbstabdankung begrüßen.

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