Flüchtlingswelle aus Afghanistan - „Ein Systemwechsel in der Asylpolitik ist nicht durchsetzbar“

Weil die Taliban Afghanistan zurückerobern, verlassen die Bewohner das Land in Scharen. Steuert Europa auf eine neue Flüchtlingskrise zu? Der Migrationsforscher Stefan Luft erklärt, wie die Bundesregierung Flüchtlingsströme verhindern kann und warum das dänische Modell „Null Asylbewerber" nicht funktioniert.

Flüchtlinge im Oktober 2015 an der deutsch-österreichischen Grenze / dpa
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Stefan Luft ist Migrationsforscher an der Uni Bremen. Er hat mehrere Bücher geschrieben, u.a. „Die Flüchtlingskrise. Ursachen, Konflikte, Folgen", C.H.Beck Verlag, München 2016. 

Herr Luft, in Afghanistan bahnt sich ein Massen-Exodus an. Auf der Flucht vor den Taliban verlassen Tausende das Land. Die meisten wollen nach Europa, insbesondere nach Deutschland. Erwartet uns die nächste große Flüchtlingskrise? 

Es wird zumindest der Druck zunehmen. Die Frage ist aber: Wie viele bleiben auf diesem Weg in Pakistan? Wie viele bleiben im Iran? Es gibt andererseits große afghanische Communities in Deutschland, aber auch in Österreich. Diese Netzwerkeffekte spielen eine wesentliche Rolle bei der Auswahl des Ziellandes. 

Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz hat sich dagegen ausgesprochen, Flüchtlinge aus Afghanistan aufzunehmen, „weil die Taliban eine kranke Ideologie vertreten, die er nicht importieren will.“ Handelt er verantwortungsbewusst? 

Nein, und ich glaube nicht, dass er diese Position auf Dauer wird durchhalten können. Es gibt ein gemeinsames Europäisches Asylsystem, die Republik Österreich ist Teil dieses Systems. Er hat sich an die Umsetzung der Richtlinien zu halten. 

Tatsächlich kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass sich auch Terroristen unter die Flüchtlinge mischen. Das hat die Erfahrung 2015 gezeigt. Wer will die Verantwortung dafür übernehmen, wenn Islamisten wieder Terroranschläge begehen? 

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Das kann man nie ausschließen. Das ist auch Gegenstand der Anhörung im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BamF). Da werden auch Sicherheitsfragen geprüft. Deswegen ist es auch Aufgabe der Politik, keinen weiteren Massenzustrom zuzulassen. 

In der Türkei sind jetzt schon 500.000 Afghanen zwischengelandet, Experten schätzen, dass sich diese Zahl noch verdoppeln wird. Das Land hatte schon vorher 3,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen – mehr als jedes andere Land der Welt. Damit diese nicht weiter nach Europa ziehen, zahlt ihnen die EU viel Geld. Hält der EU-Türkei-Deal den neuen Flüchtlingsströmen stand? 

Das wird vom Verhandlungsgeschick der EU und einzelner Mitgliedsstaaten abhängen. Sie werden der Türkei die Kosten erstatten müssen. Man muss sich aber auch fragen, inwiefern man Anrainerstaaten wie Pakistan so unterstützen kann, dass Flüchtlinge dort eine neue Perspektive erhalten. 

Schon jetzt stellt kein anderes Problem die EU auf so eine harte Belastungsprobe wie die Flüchtlingspolitik. Die Lasten sind ungleich verteilt. Länder an der Außengrenze sind stärker belastet als andere. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson hat vorgeschlagen, dass auch die Länder, die keine Menschen aufnehmen, einen Beitrag leisten müssen, indem sie zum Beispiel Geld zahlen oder Rückführungspatenschaften übernehmen. Ist das nicht ziemlich blauäugig? 

Die Idee des Systems verpflichtender Quoten, die von der deutschen Bundesregierung halsstarrig vertreten wurde, ist gescheitert. Man hat viel zu lange daran festgehalten. Dabei war völlig klar, dass sich etliche EU-Staaten diesen Quoten nicht unterwerfen würden. Dem trägt der neue EU-Migrationspakt Rechnung. 

Rückführungen sind das Dreckigste im Asylgeschäft, keiner macht das gerne. Warum sollten das jetzt ausgerechnet Staaten wie Polen oder Ungarn übernehmen, die mit Flüchtlingen sowieso schon fremdeln?

Das gesamte Modell der Asylmigration – wir warten, wer sich durchschlägt, und wer hier Asyl beantragt, darf entweder bleiben oder muss gehen – ist ja eine Idealvorstellung. Tatsächlich bleiben sieben von zehn Ausreisepflichtigen in der EU. Das „Kalkül des Bleibens“ rührt ja daher. Der Jurist Kay Hailbronner spricht von einer „schleichenden Einwanderung“. Es ist also eine Schlüsselfrage, ob man es schafft, diese ausreisepflichtigen Personen auch wieder außerhalb des Landes zu bringen. 

Stefan Luft / privat 

Woran liegt es, dass es nicht gelingt?

Einer der wesentlichen Gründe ist, dass man nicht weiß, mit wem man es zu tun hat. Die Identität ist nicht geklärt. Und dann stellt sich natürlich die Frage, ob Länder wie Polen oder Ungarn in der Lage sind, ein Rückstellungsverfahren durchzuführen, das rechtsstaatlichen Ansprüchen genügt. 

Mit welchem Recht können sich ost- und mitteleuropäische EU-Staaten überhaupt weigern, Flüchtlinge aufzunehmen?

Die Polen sagen, wir haben schon genug Ukrainer aufgenommen. Natürlich wären sie rechtlich verpflichtet. Aber Sie müssen eines sehen: Diese Länder sind gar nicht die Länder, in denen Fluchtmigranten bleiben wollen. Keiner von denen will zum Beispiel nach Bulgarien.  

Die meisten wollen nach Deutschland. Es ist innerhalb der EU das aufnahmestärkste Land

Nicht pro Kopf, aber in absoluten Zahlen. 

Aber es ist doch kein Wunschkonzert, wo man landet. 

Aber die Menschen bewegen sich im Schengen-Raum. Es gibt keine Möglichkeit, die Weiterwanderung zu verhindern. Natürlich kann die EU das mit immer neuen Sanktionen belegen. Aber im Ergebnis ändert das nichts. 

Das sozialdemokratisch regierte Dänemark hat einen völlig neuen Weg in der Flüchtlingspolitik eingeschlagen. Ein neues Gesetz sieht vor, dass Menschen gar nicht erst ins Land gelassen werden. Die Asylanträge sollen stattdessen in einem Drittland außerhalb der EU gestellt werden. Kann das funktionieren? 

Diese Vorschläge sind schon Anfang der 2000er-Jahre von Tony Blair und dem damaligen Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) gemacht worden. Aus meiner Sicht ist das hauptsächliche Hindernis, dass sie schlicht und einfach keinen Drittstaat finden werden, der sich darauf einlässt. Muss er die Genfer Flüchtungskonvention ratifiziert haben? Wer trägt die Entscheidungsgewalt? Wer betreibt die Flüchtlingseinrichtungen? Aus meiner Sicht ist dieses Modell der Versuch, diese policy gap zu schließen.

... die Lücke zwischen Ankündigungen und tatsächlichen Ergebnissen ... 

Genau, die Regierung sagt: Wir haben alles unter Kontrolle. Es ist aber nicht alles unter Kontrolle. Mal von den rechtlichen Fragen abgesehen: Ich halte das für nicht praktikabel. 

Im Fall von Dänemark hat es jetzt eine „Absichtserklärung“ von Ruanda gegeben. 

Darin ist aber nicht enthalten, dass den Betroffenen eine Aufenthaltsperspektive geboten wird. Es stellt sich auch die Frage, ob ausgerechnet Ruanda in der Lage ist, die Leute aufzunehmen, denen ein Schutzstatus zugesprochen wurde. 

Im dänischen Parlament hat der Vorstoß der sozialdemokratischen Regierung aber eine Mehrheit von 80 Prozent gefunden. Offenbar gibt es in Dänemark parteiübergreifend das Bedürfnis, sich gegen Asylbewerber abzuschotten. 

Ich will das gar nicht banalisieren. Die Gründe liegen in dieser schleichenden Einwanderung. Liberale Rechtsstaaten tun sich schwer damit, abgelehnte Asylbewerber wieder außer Landes zu bringen. Wie gesagt, sieben von zehn bleiben. Das Problem ist: Selbst wenn Dänemark diese Menschen abschreckt, kommen sie weiterhin. Die würden ja nicht in Ruanda anklopfen.

Auch Österreich will „null Asylbewerber“. Das Flüchtlingswerk UNHCR befürchtet einen Domino-Effekt innerhalb der EU. Könnte es sich Deutschland vor dem Hintergrund seiner Geschichte leisten, auf diesen Zug aufzuspringen? 

Ich kann mir nicht vorstellen, dass die deutsche Bundesregierung bei solchen Gedankenspielen mitmacht. Das wäre nur möglich, wenn das Land allein von der AfD regiert werden würde. Ich hab im Bericht des Amri-Untersuchungsausschusses den Begriff des „Verhetzungspotenzials“ gelesen. Ich würde sagen, das Verhetzungspotenzial eines solchen Kurses in der Flüchtlingspolitik wäre zu groß. Es gäbe einen Sturm der Entrüstung, dem kein Bundesinnenminister standhalten würde.  

Der Sturm der Entrüstung blieb aus, als Bundesinnenminister Horst Seehofer unlängst darauf beharrte, dass straffällig gewordene Asylbewerber trotz der unsicheren Lage weiterhin nach Afghanistan abgeschoben werden. Auch das ist ein klarer Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention.    

Das hat aber eine andere Qualität als so eine System-Umstellung. 

Die Genfer Flüchtlingskonvention hindert ihre Unterzeichner daran, Menschen an Grenzen zurückzustoßen, ohne das Asylgesuch geprüft zu haben. Die Konvention wurde gerade 70 Jahre alt. Sie stammt aus einer Zeit, als es so große Flüchtlingsströme noch nicht gab. Steht sie einer zeitgemäßen Flüchtlingspolitik im Weg?

Nein, wir haben einfach das Problem, dass die Regierungen die Asylverfahren beschleunigen müssten. Sie müssten an den Außengrenzen der EU stattfinden. Und es müsste den Willen geben, abgelehnte Asylbewerber stärker als bisher zurückzuführen, so dass im Ergebnis nicht sieben von zehn Ausreisepflichtigen bleiben, sondern vielleicht zwei oder drei. Da müsste sich vielleicht auch rechtlich etwas ändern. Es muss sich herumsprechen, dass die Investition in eine Flucht in ein bestimmtes Land nicht zielführend ist. Dem steht aber die Genfer Flüchtlingskonvention nicht im Wege. Eine effektive Politik kann man trotzdem machen.  

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt.

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