Streit um Familiennachzug - Politik des magischen Denkens

Der Streit um den Familiennachzug war ein Schmierentheater mit absurdem Ergebnis. Tabus und Zahlenmystik verhindern eine sachliche Problemlösung – und wichtiger als der Wille der Bevölkerung ist es allen Partnern, als Sieger dazustehen. Das verheißt nichts Gutes für die Große Koalition

Junge Flüchtlinge in Berlin, die ihre Eltern nachholen möchten. Das Kontingent betrüge 1000+X Menschen im Monat / picture alliance
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Noch einmal kurz die Luft anhalten, und dann hat sich der Bühnennebel auch schon wieder verzogen. Gegeben wurde die aktuelle Inszenierung des Stücks „Streit um Familiennachzug“: In den Hauptrollen agierten die CSU als „Neue deutsche Härte“ und die SPD („Partei mit Herz“); die CDU übernahm wie gewohnt den Part der charaktervoll-schweigsamen Nebendarstellerin mit ihrem klassischen Standardsatz („Murmel Murmel“). Insgesamt erreichte das Schmierentheater solides Falk-Richter-Niveau: schlechte Schauspieler, hölzerne Monologe (Martin Schulz: „Die SPD hat sich mit einer guten Einigung durchgesetzt“) und viel gemimte Betroffenheit. Vorhang zu, die offenen Fragen werden demnächst in den Folgeinszenierungen „Streit um Familiennachzug, Teil 3-5“ abgehandelt. Und offene Fragen gibt es viele.

Besonders naive Gemüter könnten sich zum Beispiel folgende Fragen stellen: Wenn schon Große Koalition, sollte diese dann nicht auch die politischen Präferenzen eines Großteils der Bevölkerung abbilden? Und da sich ja laut Umfragen eine klare Mehrheit der Deutschen (und übrigens sogar der SPD-Wähler unter ihnen) gegen Familiennachzug bei subsidiär Schutzberechtigten ausspricht, warum muss die Sache dann eigentlich so kompliziert sein? Nun ja, die Antwort ist ganz einfach: Weil es nicht um die Bevölkerung geht, sondern darum, dem Willen der SPD-Parteitagsdelegierten gerecht zu werden. Also der mittleren sozialdemokratischen Funktionärsebene. Und die fordert eben „Nachbesserungen“. Sie wünschen, wir spielen.

Zahlenmystik im Ungefähren

Jetzt wurde also nachgebessert, und das Ergebnis darf sich sehen lassen. Zumindest insofern, als sämtliche Akteure ihre Durchsetzungskraft behaupten können: Die CSU hat den Familiennachzug laut eigener Auskunft abgeschafft, während die SPD gleichzeitig dafür gesorgt haben will, dass künftig sogar mehr Flüchtlingsfamilien zusammengeführt werden. In diesem politischen Wunderland namens Bundesrepublik ist also alles möglich und auch das Gegenteil, vorausgesetzt man akzeptiert das von den Parteien hierfür zugrunde gelegte magische Denken. Der Kompromiss zum Familiennachzug gleicht denn auch mehr einer Zauberformel die da lautet: 1000 + x.

Die Zahl 1000 beziffert dabei ein „Monatskontingent“ für enge Angehörige, die aus „humanitären Gründen“ ein Visum erhalten können; das x ist die Variable für Härtefälle. Worin genau der Unterschied besteht zwischen Humanität und Härtefällen, wie die entsprechenden Kriterien eigentlich aussehen und wer am Ende darüber befinden soll, das alles sind vernachlässigbare Details. Hauptsache: tausend. Zahlenmystik also in einem Land, das in Sachen Migration längst den Überblick verloren hat und nur noch im Ungefähren lebt. Während sich derzeit etwa an der deutsch-dänischen Grenze wieder der tägliche Kontrollverlust manifestiert, weckt die Zahl 1000 auch und gerade aufgrund ihrer kompletten Willkürlichkeit die Illusion, der Staat habe etwas im Griff – zählbar, messbar, nachprüfbar. Nicht 999, und auch nicht 1001. Sondern tausend.

Aus Mutmaßung werde Gewissheit

Anstatt sich wenigstens der Frage zu widmen, ob der Familiennachzug tatsächlich zur Integration beiträgt und nicht zur Verfestigung von Parallelgesellschaften, werden Mutmaßungen als Gewissheiten verkauft. Gleichzeitig werden Probleme ausgeblendet, etwa das bewusste Vorschicken Minderjähriger zum Zweck der Kettenmigration. Der Pinneberger Fall einer nachziehenden Zweitfrau gilt derweil als skurrile Randerscheinung ohne Relevanz und Symbolwert. Fakten werden geschaffen, aber eine inhaltliche Debatte findet nicht statt. Stattdessen tönen die Ideologen und mahnen die Kirchen. Dass letztere zu den finanziellen Hauptnutznießern der Massenmigration zählen, lässt den hohen Ton mitunter etwas flacher klingen.

Seit dem vermeintlichen Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise im Herbst 2015 hat sich erstaunlich wenig geändert an der öffentlichen Debatte. „Fluchtursachen bekämpfen“ ist zur Standardformel der Beschwichtigungspolitik geworden – auch das ein Zauberspruch, wie jeder Bürger mit demografischen Grundkenntnissen weiß. Erstaunlich auch folgendes: Ich spreche viel mit Bundestagsabgeordneten, und insbesondere bei der Union und bei der FDP zweifelt kaum jemand daran, dass das deutsche Asylrecht in seiner jetzigen Form nicht mehr tragfähig ist. Nur öffentlich würde das keiner zu behaupten wagen. Doch lassen sich mit Tabus, magischem Denken und Zahlenmystik eben keine Probleme lösen.

Der schlechtinszenierte Streit über den Familiennachzug bot einen üblen Vorgeschmack auf die Große Koalition. Denn die einzelnen Milieus und Interessengruppen in und hinter den beteiligten Parteien werden mehr denn je umgarnt werden müssen, um sie in der von Anfang an brüchigen und widersprüchlichen Konstellation bei Laune zu halten. Und was nicht zusammenpasst, wird mit einer dicken Farbschicht aus Symbolpolitik überpinselt. Wenn aber – wie jetzt beim Familiennachzug – sogar ein und dasselbe Symbol zu einander diametral widersprechenden Interpretationen führt, dreht sich dieses Land bald nur noch im Kreis.
 

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