EU-Atomwaffen - Die Scheindebatte

Wieder einmal wird über EU-Atomwaffen diskutiert. Doch ein solches Programm ist unrealistisch. Vor allem aber werden bei der ganzen Debatte die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen übersehen: Große konventionelle Kriege werden wieder möglich und denkbar.

Und wer soll den Knopf drücken – etwa Ursula von der Leyen? / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Ernsthaft debattieren kann man über alles. Über Weihnachtsbäume zu Ostern. Über ein Grundrecht auf Gummibärchen. Oder eine Verlegung von Berlin an die Ostsee. Warum nicht? Schließlich braucht es in diesem Land mehr Phantasie und mehr geistige Flexibilität. Man sollte über alles reden.

Die Bemerkung Christian Linders, ernsthaft über eine EU-Atombombe zu diskutieren, ist daher wohlfeil. Auch Katarina Barley, Spitzenkandidatin der SPD für die EU-Wahl, plädierte für Atomwaffen unter Kontrolle und Kommando der Europäischen Union.

Immerhin: Verteidigungsminister Pistorius äußerste Unverständnis für die Diskussion. Und selbst die in Rüstungsfragen in der Regel für jede nassforsche Haltung zu habende Marie-Agnes Strack-Zimmermann warnte vor Überlegungen, einen eigenen europäischen Atomschirm aufzubauen. Auch der Kanzler zeigte sich eher reserviert.

Rückendeckung bekam der Regierungschef dabei ausgerechnet von der Opposition. Der ebenfalls nicht als übertriebenes Friedenstäubchen bekannte CDU-Verteidigungsexperte Roderich Kiesewetter wies drauf hin, dass ein atomarer EU-Schutzschirm kaum finanzierbar sei. Und eine Ausweitung des französischen Atomwaffenprogramms, wie es Präsident Macron vorgeschlagen und Christian Lindner aufgegriffen hatte, sei nicht umsetzbar.

Atomwaffen sind nicht dazu da, wirklich eingesetzt zu werden

Auslöser die jüngsten Atomwaffen-Debatte waren Äußerungen des ehemaligen und möglicherweise auch zukünftigen US-Präsidenten Donald Trump, Nato-Staaten, die zu wenig für Verteidigung ausgeben, gegebenenfalls nicht vor einem Angriff Russlands zu schützen.

Lassen wir mal die Frage beiseite, ob ein solcher Angriff in den kommenden Jahren ernsthaft droht, ob er realistisch ist und was genau Russland und Herr Putin davon hätten. Wäre ein EU-Atomwaffenprogramm ein möglicher Schutz? Die Antwort ist einfach: Nein, wäre es nicht. Die ganze Debatte ist lachhaft.

Atomwaffen sind nicht dazu da, wirklich eingesetzt zu werden. Sie wirken durch Abschreckung. Um abzuschrecken, braucht es aber glaubwürde und für den Abzuschreckenden erkennbare Befehlsstrukturen. Doch wer sollte den Einsatz europäischer Atomwaffen befehlen. Ursula von der Leyen? Die Vorstellung ist albern, dafür verfügt die EU-Kommissionspräsidentin nicht annähernd über das notwendige Mandat.

 

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Oder sollte der rote Knopf zusammen mit der Ratspräsidentschaft durch die europäischen Hauptstädte wandern, wie vorgeschlagen wurde? Auch dieses Szenario ist lächerlich. Kaum anzunehmen, dass sich Frankreich, Spanien oder Italien im Falle eines russischen Angriffs beispielsweise von einer Kaja Kallas in einen Atomkrieg ziehen lassen.

Kurz und gut: Die Idee von Atomraketen mit dem gelben Sternenkreis auf ihren Sprengköpfen ist so undurchdacht und wirklichkeitsfremd, dass eine Debatte komplette Zeitverschwendung ist. Und auch die kleine Lösung – die Ausweitung des französischen Atomschildes auf die ganze EU – ist angesichts innerfranzösischer Unwägbarkeiten absurd. Marine Le Pen, durchaus als zukünftige Präsidentin Frankreichs vorstellbar, hat auf jeden Fall umgehend abgewunken.

Konventionelle Kriege werden unter dem Atomschirm wieder möglich

Nun sind bekanntermaßen in Deutschland, Holland, Belgien und Italien Atomwaffen stationiert. Und nicht zu knapp. Dabei handelt es sich vermutlich um klassische taktische Fliegerbomben vom Typ B 61-3/-4. Sie gehören zum Programm des Nuclear Sharing. Heißt: Die Einsatzcodes liegen bei der US-Führung, der Befehl über die Trägersysteme bei den jeweiligen Bündnispartnern. Wie abschreckend eine solche Konstruktion wirkt, sei einmal dahingestellt. Sie dient vor allem der politischen Aufwertung der betroffenen Bündnispartner.

Das eigentliche nukleare Abschreckungspotential liegt weder bei französischen oder britischen Atomwaffen noch bei der nuklearen Teilhabe, sondern vor allem im strategischen Potential der USA. Und daran wird sich auch in absehbarer Zeit nichts ändern. Wer also aus guten Gründen daran interessiert ist, Europa nicht erpressbar zu machen (und darum geht es im Kern, nicht um einen russischen Einmarsch), der ist gut beraten, auch mit einem Präsidenten Trump kooperativ und entgegenkommend zu agieren.

Diese Einsicht darf aber zugleich nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Funktion von Atomwaffen mit dem Ukraine-Krieg zu ändern scheint. Allen wüsten Drohungen Medwedews zum Trotz gewinnt man den Eindruck einer ganz anderen Gefahr: dass Atomwaffen so erkennbar in der Katastrophe führen, dass keiner sie einsetzt und ihre Abschreckungswirkung damit stumpf wird.

Im Gegenzug werden konventionelle Kriege unter dem Atomschirm wieder möglich. Und das bedeutet: Wer Sicherheit und Stabilität in Europa möchte, muss quantitativ und qualitativ massive konventionelle Potentiale bereitstellen. Hier liegt das eigentliche Problem. Alles andere sind Scheindebatten.

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