Einigung bei Sondervermögen für Verteidigung - Es geht um viel mehr als nur ums Geld

Die Ampel-Parteien einigen sich mit der Unions-Opposition auf Leitlinien beim 100 Milliarden Euro schweren Sondervermögen für die Bundeswehr. Doch die vom Kanzler beschworene „Zeitenwende“ ist damit noch längst nicht vollzogen. Dafür braucht es vor allem einen tiefgreifenden Bewusstseinswandel in Sachen Militär, ohne den Deutschland nur ein Zaungast der Weltpolitik bleibt.

Bundeswehr-Soldaten vom Aufklärungslehrbataillon 3 üben auf einem Standortübungsplatz neben dem Spähwagen vom Typ Fennek / dpa
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Die vom Bundeskanzler ausgerufene „Zeitenwende“ klingt zwar reichlich bedeutungsschwanger und fast wie der Beginn einer neuen Epoche in der Menschheitsgeschichte. In Wahrheit markiert sie aber allenfalls die widerwillige und lange hinausgezögerte Ankunft Deutschlands in der Realität. Am 27. Februar, drei Tage nach Beginn des russischen Einmarschs in die Ukraine, verkündete Olaf Scholz staatsmännisch, dass „die Welt“ nach der Invasion „nicht mehr dieselbe“ sei „wie die Welt davor“. Das ist jedoch eine Binse, weil hinterher sowieso immer alles anders ist als vorher – und mithin jeder Tag eine Anpassung der eigenen Handlungen an sich ständig ändernde Gegebenheiten erfordert. Erst wenn diese Anpassung lange Zeit unterbleibt, werden mitunter abrupte Kurswechsel nötig, die sich politisch nur schlecht erklären lassen und entsprechend schweres rhetorisches Geschütz erfordern. So wie jetzt bei der deutschen Verteidigungsfähigkeit.

100 Milliarden Euro: Diese an Zahlenmagie erinnernde Riesensumme stand also seit drei Monaten im Raum und bedurfte, weil Politik eben doch keine Zauberei ist, der Konkretisierung. Der Weg zum jetzt gefundenen Kompromiss war schwierig, am Anfang stand des Kanzlers Formel, die hier der Klarheit wegen noch einmal im Wortlaut wiedergegeben werden soll: „Aber machen wir uns nichts vor: Bessere Ausrüstung, modernes Einsatzgerät, mehr Personal – das kostet viel Geld. Wir werden dafür ein ,Sondervermögen Bundeswehr‘ einrichten.“ Der Bundeshaushalt 2022 werde dieses Sondervermögen einmalig mit 100 Milliarden Euro ausstatten, die Mittel würden für „notwendige Investitionen und Rüstungsvorhaben“ genutzt. „Wir werden“, so der Kanzler am 27. Februar, „von nun an Jahr für Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren.“ Und er appellierte an alle Fraktionen des Bundestags: „Lassen Sie uns das Sondervermögen im Grundgesetz absichern.“

Auch die Union ist verantwortlich

Mit der am späten Sonntagabend gefundenen Verhandlungslösung zwischen den Ampel-Regierungsparteien und der Unions-Opposition scheint ein großer gemeinsamer Schritt getan worden zu sein – der schon deshalb nötig war, weil die Vernachlässigung der Bundeswehr bis hin zu ihrer mangelnden Einsatzfähigkeit ein gemeinsames Versäumnis aller Parteien war, die dieses Land in den vergangenen Jahrzehnten regiert haben – also zuvorderst SPD, CSU und CDU. Letztgenannte steht da sogar in besonderer Verantwortung, immerhin stellten die Christdemokraten bis zum jüngsten Regierungswechsel mehr als zehn Jahre lang die Ressortchefs im Verteidigungsministerium. Fundamentalopposition in Sachen „Zeitenwende“ wäre jetzt also kaum eine vertretbare Alternative gewesen.

Die Stimmen der Union werden bekanntlich gebraucht, um das Grundgesetz zur Umgehung der Schuldenbremse ändern zu können. Und die C-Parteien hatten für ihre Mithilfe prompt einige Forderungen aufgestellt, mit denen sie – das ist gewissermaßen ein historischer Treppenwitz – ihren Willen zur Ertüchtigung der Bundeswehr noch einmal besonders entschlossen herausstellen wollten. Konkrete Gelegenheiten hätte es dazu in den langen Jahren eigener Regentschaft unter Scholzens Vorgängerin zwar hinlänglich gegeben, aber da wurde die „Friedensdividende“ für diverse andere Populärprojekte benötigt.

Jetzt also Kriegsanleihen. Und tatsächlich sollen die avisierten 100 Milliarden Euro, wie von der Union gefordert, ausschließlich der Truppe zugutekommen: „Wir stellen gemeinsam sicher, dass die Bundeswehr in den kommenden Jahren mit 100 Milliarden Euro zusätzlicher Investitionen gestärkt wird“, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung von SPD, Grünen, FDP und CDU/CSU. Entgegen ursprünglichen Wünschen von Bündnis90/Die Grünen sollen „Maßnahmen zur Cybersicherheit, Zivilschutz sowie zur Ertüchtigung und Stabilisierung von Partnern“ unabhängig vom Sondervermögen über den Bundeshaushalt finanziert werden.

Was nach dem großen Wurf aussieht, Stichwort „Zeitenwende“, ist aber bei Lichte besehen nichts anderes, als jetzt in ein Gesetz gießen zu wollen, was schon seit Jahren als Nato-Ziel formuliert wurde: nämlich zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben. Über den Zeitraum von fünf Jahren hinweg sollen mit 100 Milliarden Euro nicht einmal alte Versäumnisse wettgemacht, sondern lediglich bündnispolitische Vorgaben erreicht werden. Denn es geht darum, Lücken zu schließen – und zwar mit durchschnittlich 20 Milliarden jährlich bis zum Jahr 2027. Auch das hatte am 27. Februar irgendwie anders geklungen.

Misstrauen gegenüber den Strukturen

Ohnehin ist es ja nicht so, dass die magisch klingenden 100 Milliarden Euro von sich aus für eine Wiedererlangung der Verteidigungsfähigkeit sorgen. Das dysfunktionale Beschaffungswesen etwa wird mit Geld allein noch keineswegs reformiert sein; dass die konkreten Beschaffungsvorhaben „von einem beratenden Gremium des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages begleitet“ werden sollen, deutet vielmehr auf tiefes Misstrauen gegenüber den bestehenden Strukturen hin. Es geht auch um Bürokratie, um die Frage, mit welchen Waffensystemen Streitkräfte sinnvoll ausgerüstet werden sollen – und zu welchem Zweck. Und nicht zuletzt darum, die Bundeswehr insgesamt wieder attraktiv zu machen als einen Arbeitgeber, der im Wettbewerb um Fachkräfte überhaupt eine Chance hat gegen die Konkurrenz. Militär ist Hightech, und wie sehr technologische Fähigkeiten kriegsentscheidend sind, zeigt sich ja derzeit in der Ukraine.

Bei alledem hat der Begriff „Zeitenwende“ also durchaus seine Berechtigung – als Chiffre für einen längst überfälligen Bewusstseinswandel. Nämlich dergestalt, dass militärische Handlungsfähigkeit die Voraussetzung ist für politische Souveränität. Dass Mützenich-Pazifisten in der SPD (und ähnlichen Formats auch in anderen Parteien) einerseits die Bundeswehr am liebsten ganz abschaffen würden, andererseits aber ihren traditionellen Antiamerikanismus pflegen, geht logisch nicht zusammen. Wenn etwa im aktuellen Ukrainekonflikt die Ziele der USA längst nicht immer denen der Europäer entsprechen, sollte man auch in der Lage sein, eigene Ziele und Strategien zu formulieren – und sie notfalls auch durchsetzen können. Mit einem abgewirtschafteten Militär wird aber insbesondere Deutschland in solchen Konfliktlagen nur die Rolle des Zaungasts bleiben – wohlgemerkt auf dem eigenen Kontinent. Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger hat das verstanden. In der Politik hingegen scheint es bei einigen noch Nachholbedarf zu geben.

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