Ehrenmord an einer Afghanin - Ist ein Frauenleben weniger wert als ein Pferd?

Weil sie nach ihrer Scheidung „zu westlich“ gelebt hat, haben zwei afghanische Brüder in Berlin ihre ältere Schwester getötet. Über den Begriff „Ehrenmord" ist eine Kontroverse entbrannt. Die Frauenrechtlerin Seyran Ates schreibt, warum er richtig ist und warum es hier um mehr geht als um Symbolpolitik.

Kein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung: Auch in Deutschland unterliegen viele Frauen der muslimischen Tradition / dpa
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Autoreninfo

Seyran Ateş arbeitet als Anwältin und Publizistin. Sie ist Gründerin der liberalen Ibn Rushd-Goethe Moschee in Berlin.

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Die Täter gingen planvoll vor. Sie ermordeten ihr Opfer in Berlin. Sie verpackten die Leiche in einem Koffer und transportierten sie mit dem Zug nach Bayern, um sie dort in einem Wald zu begraben. Ihre Kaltblütigkeit ist erschreckend. Denn Täter und Opfer waren verwandt. Es waren zwei afghanische Brüder, 22 und 25 Jahre, die ihre ältere Schwester, 34 Jahre, umbrachten – um die „Ehre“ der Familie zu retten, wie es in einer Mitteilung der Staatsanwaltschaft Berlin heißt. Die Frau, Mutter zweier Kinder, habe nach ihrer Scheidung „zu westlich“ gelebt. 

Wieder ein „Ehrenmord“ also. Kaum wurde der Fall bekannt, entbrannte auf Twitter eine Kontroverse über den Begriff „Ehrenmord“. Verharmloste er nicht, was da passiert ist? Suggerierte er nicht, dass die Frau selbst Schuld war, weil sie die „Ehre" der Familie beschmutzte und nicht so lebte, wie es der kulturelle oder religiöse Hintergrund ihrer Familie vorschrieb? Von „Opfern häuslicher Gewalt" oder „Opfern eines Familiendramas“ war noch bis vor kurzem die Rede, wenn deutsche Frauen von ihren Männern getötet werden. Frauenrechtlerinnen haben einen langen Atem gebraucht, bis sich dafür ein Begriff etablierte, der den Straftatbestand viel besser beschreibt: Femizid. Frauen oder Mädchen werden aufgrund ihres Geschlechtes getötet.

Wo bleibt der Aufschrei? 

War also auch dieser so genannte Ehrenmord ein Femizid? Um es gleich vorweg zu sagen: Ich bin dafür, den Begriff beizubehalten, wenn auch nur in Anführungszeichen. Wer den kulturellen oder religiösen Hintergrund einer solchen Tat ausblendet, schützt die Täter, aber nicht die Opfer. Gerade sie aber haben unseren Schutz nötig. Und Prävention kann nur funktionieren, wenn wir präzise sind. 

Doch merkwürdig, wo bleibt der Aufschrei? Während die Medien ausgesprochen ausführlich über die Olympischen Spiele und den Fall der  Fünfkämpferin Annika Schleu berichteten, die ihr Pferd mit Gewalt über ein Hindernis zwang, gab es relativ wenige Berichte über den „Ehrenmord“. Beim Wettkampf der Frauen hatte Schleus Trainerin  – belegt durch Videoaufnahmen – mit der Faust auf das Pferd geschlagen, auf dem die Athletin Annika Schleu saß. Und sie hatte die Athletin aufgefordert, mit der Gerte „richtig draufzuhauen“, weil sich das Pferd beim Springreiten mehrfach verweigerte.

Ich will damit nicht sagen, dass diese unsägliche Tierquälerei keine Aufmerksamkeit und keinen Aufschrei verdient. Im Gegenteil, jede Art von Ausbeutung und Missbrauch von Tieren zum sportlichen Vergnügen des Menschen sollte verboten und unter Strafe gestellt werden. Die Trainerin sollte an kein Pferd mehr gelassen werden. Und die Athletin sollte in den Spiegel schauen und sich fragen, warum sie so sehr nur um sich und ihre verlorene Medaille weint.

Warum die Politik schweigt

Aber dass ein gequältes Pferd mehr Aufmerksamkeit bekommt als eine Frau, die mitten in Deutschland im Namen eines Begriffs umgebracht wird, der noch aus der Steinzeit stammt, erschüttert mich. Ist ein Frauenleben weniger wert als ein Pferd? Dabei glaube ich nicht, dass dieser kaltblütige Mord niemanden interessiert. Nein, dass er kaum kommentiert wird, dahinter steckt politisches Kalkül.

Kurz vor der Bundestagswahl und der Wahl zum Abgeordnetenhaus im rot-rot-grün-regierten Berlin haben offensichtlich nur wenige Politike und Politiker und Politikerinnen Lust, über  „Ehrenmorde“ sprechen. Kein Wunder. Sie müssten sich dann der Frage stellen, warum die Integration dieser Familie gescheitert ist und ob sie mit ihrer Politik nicht auch dazu beigetragen haben, dass mitten in der Stadt Parallelgesellschaften entstanden sind, in denen nicht deutsches Recht gilt, sondern, nun ja, das Recht der Taliban.

Die Angst, der AfD in die Hände zu spielen 

Zu tief sitzt offenbar auch die Angst, der AfD in die Hände zu spielen und als Rassist oder islamfeindlich abgestempelt zu werden. Ich bin der Meinung, das ist genau der falsche Weg. Wir lösen das Problem doch nicht, indem wir es totschweigen und es einer Partei überlassen, die am liebsten die Grenzen dichtmachen würde und alle Muslime unter Generalverdacht stellt.

Wir liberalen und säkularen Migranten und Muslime versuchen seit den 80er-Jahren, die deutsche Politik und Zivilgesellschaft aufzuklären und wachzurütteln, damit sie endlich genauer hinsieht und aufhört zu leugnen, dass es Parallelgesellschaften, Zwangsehen, Genitalverstümmelungen und „Ehrenmorde“ in Deutschland gibt. Und es sind keineswegs Einzelfälle. Sie alle sind symptomatisch für eine gescheiterte und verweigerte Integration in die freiheitlich demokratische Grundordnung.

Liegen Ehrenmorde in der Natur des Islam? 

Am schwersten tun sich junge und ältere Männer aus islamischen Ländern mit der Integration. Die Tatsache, dass Ehrenmorde überwiegend im islamischen Kulturkreis vorkommen, hat die Frage aufgeworfen, inwieweit der Koran und die Scharia dieses Verbrechen legitimieren. Schließlich werden solche Morde auch von Christen und Yeziden in islamischen Ländern begangen. Aber das stützt nach meinem Erachten erst recht die These, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der vorislamischen Tradition von Ehrenmorden und islamisch-kulturellen Einflüssen. 

Ich werde oft gefragt, ob dabei nicht auch die Bildung eine Rolle spielt. Diese Frage lässt sich pauschal nicht mit ja beantworten. Nach einer Umfrage, die das türkische Meinungsforschungsinstitut Metropol 2007 durchführte, halten bis zu 30 Prozent aller Studenten an den osttürkischen Universitäten einen Ehrenmord für eine legitime Reaktion auf eine Verletzung der Familienehre.

Diese Studenten sind mit Sicherheit nicht alle besonders religiös. Aber sie sind aufgewachsen in einem muslimischen Land. Und auch, wenn die Türkei formell ein laizistischer Staat ist, prägt der Islam das Alltagsleben. In Afghanistan hat sich dieser Trend mit dem Siegeszug der Taliban noch verschärft. Die Ablehnung von Gleichberechtigung und Akzeptanz von LGBTIQ*-Identitäten wird von Männern damit begründet, dass es sich um westliche Werte handeln würde, denen Muslime nicht verpflichtet seien.

Westliche Werte vs. islamische Tradition 

So haben auch die beiden Brüder der ermordeten Afghanin argumentiert. So hat sich auch der Bruder von Hatun Sürücü ausgedrückt. Ayhan Sürücü hat am 7. Mai 2005 seine ältere Schwester an einer Bushaltestelle vor ihrem Haus mit drei Schüssen in den Kopf getötet. Oben in der Wohnung schlief der 5-jährige Sohn und Neffe. Auch hier gibt es eine Parallele. Die ermordete Afghanin hinterlässt zwei kleine Kinder. Die Grausamkeit der Tat ist in beiden Fällen unfassbar.  

Wie konnte es dazu kommen? Schließen Sie doch bitte einfach die Augen und stellen sich Folgendes vor: Zwei junge Männer fliehen mit ihrer Familie aus Afghanistan, um in Deutschland, in einem demokratischen und freien Land, ein besseres Leben zu führen. Wir wissen noch nicht viel über die jungen Männer. Wir wissen aber genug, um uns ein Bild von ihrer Schwester zu machen.  

Von ihrer „abla“, wie es im Türkischen voller Respekt gegenüber älteren Schwestern heißt. Der ältere Bruder wird mit „abi“ angesprochen. In Afghanistan ist es auch üblich, die älteren und jüngeren Geschwister explizit zu bezeichnen. „Amsheere kalan“ heißt große Schwester, „Bradare kalan“ heißt großer Bruder. Dahinter verbirgt sich eine schöne Kultur und Tradition. Für Außenstehende bringt sie nicht nur die Altersfolge bei den Geschwistern zum Ausdruck. Sie zeigt auch, wie sich der Respekt und die Achtung verteilt. Diese schöne Tradition wird aber nur praktiziert, solange sich alle an die Regeln und ihre Rolle halten.

Das Leiden der Täter 

Und da fängt das Problem an. Die ältere Schwester hat Probleme mit ihrem Ehemann, sie lässt sich scheiden und nimmt ihre beiden Kinder, um mit ihnen ein friedliches, freies Leben zu führen. Das ist aber in ihrer Kultur nicht vorgesehen, denn in der Welt der Brüder gibt es kein freies, selbstbestimmtes Leben für Frauen. Jedenfalls keines, dass solche Männer akzeptieren würden.

Also beschließen die beiden Brüder, ihre Schwester zu töten, damit sie die „Ehre“ der Familie nicht weiter beschmutzen kann. Für westlich Zivilisierte ist es nur schwer vorstellbar, aber diese Männer leiden tatsächlich unter dem Verhalten der Schwester. Sie haben Angst, dass Bekannte mit dem Finger auf die Schwester zeigen könnten und der Tabubruch auf die Familie zurückfällt. Sie sind besessen von der Idee, das soziale Ansehen der Familie zu retten. Schauen Sie sich mal den Spielfilm „Nur eine Frau“ über den Mord an Hatun Sürücü an.  Er zeigt, was für eine Dynamik dabei entstehen kann. 

Der Ehrbegriff dieser Männer ist ein archaischer. Er ist eng verbunden mit der Stellung in der Frau in der familiären Hierarchie. Aber was heißt „Ehre“ eigentlich? Gemeint ist die sexuelle Selbstbestimmung der Frau. In der Welt dieser Muslime ist es nicht vorgesehen, dass Frauen selbst entscheiden, mit wem sie Sex haben. Wer es doch tut, stellt die Macht der Männer in Frage. Es ist ein tödliches Sakrileg.

Hat es die Frau nicht verdient? 

Das ist auch der Grund, warum viele Migranten auf einen solchen „Ehrenmord“ mit Zuspruch und Applaus reagieren. Ich habe mich für erste Reaktionen unter Menschen aus Afghanistan interessiert und unseren Mitarbeiter M. gefragt, dessen Familie aus Afghanistan stammt. Seine ältere Schwester sagte, dass es afghanische Familien gibt, die als erste die Frage stellen: „Was hat die Frau falsch gemacht? Hat sie gesündigt? War sie eine Nutte? Hat sie es nicht sogar verdient? Warum musste sie sich so nuttig verhalten?"

M. schrieb noch „Tut mir leid für diese Ausdrucksweise, aber diese vulgäre Sprache wird tatsächlich so verwendet. Die Schuld wird immer bei der Frau gesucht. Irgendwie wird Mitleid geäußert, aber dann kommt stets das „Aaaaaaber...." M. erinnert sich auch noch daran, dass im Fall von Hatun Sürücü einige seiner Verwandten der Ansicht waren, dass sie den Tod verdient habe. So haben sich damals auch viele Schüler und Schülerinnen in Berlin geäußert.

Der Begriff der Ehre

Wenn wir über „Ehrenmorde“ sprechen, sprechen wir also über einen Ehrbegriff, der nicht identisch ist mit dem Ehrbegriff, der mittlerweile in europäischen Demokratien Konsens ist. Was tun? Wie können wir die Begriffsdebatte beenden und dennoch der Tatsache gerecht werden, dass die Täter aus keinem anderen Grund töteten als aus verletzter Ehre? In der Literatur findet man  zum Beispiel folgende Definition: „Ehrenmorde sind Tötungsdelikte, die aus vermeintlich kultureller Verpflichtung heraus innerhalb des eigenen Familienverbandes verübt werden, um der Familienehre gerecht zu werden“.

Dies alles berücksichtigend, müssen wir weiterhin von „Ehrenmorden“ sprechen, gerne auch in Anführungszeichen. Solange dieser tödliche kollektive Ehrbegriff, der sich vor allem gegen die sexuelle Selbstbestimmung der Frauen innerhalb einer Familie richtet, so lange wird es leider „Ehrenmorde“ geben. Das zeigt auch ein Blick auf die Geschichte Europas und der Aufklärung. Erst als sich die Liebesehe im 19. Jahrhundert langsam durchsetzen konnte, wandelt sich in Europa der Ehrbegriff, für den Männer bereit waren, sich zu duellieren und Töchter ins Kloster zu stecken oder umzubringen.

Viele islamische Familien stecken aktuell noch in diesem Entwicklungsprozess. Aber ich bin sicher, am Ende wird auch dort die Freiheit siegen. Dass sie das in Deutschland nicht längst getan hat und so ein Mord in einer freiheitlichen Demokratie überhaupt passieren konnte, ist ein gefährliches Signal, gerade vor dem Hintergrund der Flüchtlingsströme, die gerade aus Afghanistan nach Europa kommen. Es sollte ein Weckruf an die Politik sein.

Schaut endlich hin! 

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