Diskussion über Impfpflicht - „Impfpflicht verfassungsrechtlich nicht ausgeschlossen“

Aufgrund der Coronakrise traten seit März 2020 immer wieder massive Eingriffe in unsere Grundrechte in Kraft. Waren die Einschränkungen alle mit dem Grundgesetz vereinbar? Und wie würde sich das mit einer möglichen Impfpflicht verhalten? Fragen an den Rechtsphilosophen und Medizinrechtler Josef Franz Lindner.

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe - hier wird über die Verfassungsmäßigkeit der Coronamaßnahmen entschieden werden Foto:Uli Deck/dpa
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Alissa Kim Neu studiert Kulturwissenschaften und Romanistik in Leipzig. Derzeit hospitiert sie bei Cicero.

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Prof. Dr. Josef Franz Lindner ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Medizinrecht und Rechtsphilosophie der Universität Augsburg sowie Geschäftsführender Direktor des Instituts für Bio-, Gesundheits- und Medizinrecht (IBGM).

Herr Lindner, wir haben seit dem Beginn der Coronapandemie viele Einschränkungen unserer Freiheitsrechte erlebt. War das alles verfassungsrechtlich einwandfrei?

Ob die Maßnahmen insbesondere rund um die Bundesnotbremse verfassungswidrig waren oder nicht, darüber entscheidet noch das Bundesverfassungsgericht. Das gilt auch für Maßnahmen, die vielleicht ab Herbst ergriffen werden.

Jetzt sprechen Sie schon von neuen rechtlichen Maßnahmen und Einschränkungen. Da bekommt man doch das Gefühl, dass unsere Freiheitsrechte zu Privilegien geworden sind ...

Viele Politiker vermitteln den Eindruck, als ob Grundrechte Privilegien wären. Das ist allerdings eine grobe Verkennung der verfassungsrechtlichen Lage. Die Grundrechte, die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger werden vom Staat nicht gewährt oder eingeräumt. Dem Bürger stehen diese Rechte unmittelbar aufgrund unseres Grundgesetzes zu. Die Politik, die diese Grundrechte einschränkt, muss sich dafür rechtfertigen und nicht anders herum.

Welche Mechanismen stellen sicher, dass vorgenommene Grundrechtseinschränkungen nur so lange gelten, wie sie von Nöten sind?

Zunächst muss die Bundesregierung oder die Landesregierung beim Erlass jeglicher Maßnahmen prüfen, ob diese verhältnismäßig sind. Weiterhin werden Maßnahmen dann regelmäßig von Gerichten geprüft.

Beim Wort „Verhältnismäßigkeit stellt sich natürlich dann gleich die Frage, ob es denn verhältnismäßig ist, dass der Staat verbieten darf, dass ich meine Oma im Altenheim besuche.

Sie sprechen von den massiven Grundrechtseingriffen im vergangenen Jahr, die zu einem gewissen Teil auch von den Gerichten korrigiert worden sind. Die Politik schoss da einige Male deutlich über die Ziellinie hinaus. Eine Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit vieler Maßnahmen steht beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe aber noch aus.

Also kann es sein, dass sich im Endeffekt einige Maßnahmen als verfassungswidrig herausstellen?

Das ist denkbar. Ich glaube es aber eher nicht. Das Bundesverfassungsgericht wird hier der Politik nachträglich grünes Licht geben. Die bisher ergangenen Eilentscheidungen deuten jedenfalls in diese Richtung.

Ist das nicht bedenklich, dass die Politik Schritte unternahm, im Risiko verfassungswidrig zu handeln?

Die Regierung hat natürlich die Pflicht, jegliche Schritte auf ihre Vereinbarkeit mit unserem Grundgesetz zu prüfen. Aber wenn die Regierung der Meinung ist, dass ein Lockdown das Beste für alle ist, dann sieht man es bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung vielleicht nicht so eng. Manchen Politikern konnte es gar nicht streng genug sein. Und in der Kommunikation wurde den Freiheitsrechten nur wenig Platz eingeräumt.

Jetzt kommt bald der Herbst, und wir wissen noch nicht, wie sich die Pandemiesituation entwickeln wird. Inwiefern sollten sich die getroffenen Maßnahmen aber verändern?

Ein erneuter Lockdown, wie wir ihn im Frühjahr 2020 und dann von November 2020 bis April 2021 hatten, wäre aus heutiger Sicht in eklatanter Weise verfassungswidrig. Und zwar aus zweierlei Gründen: Erstens ist der Inzidenzwert, auf den bisher gesetzt wurde, nicht mehr aussagekräftig. Zweitens haben wir eine Veränderung in den Infektionsstrukturen. Viele Personen sind geimpft, haben deswegen im Fall der Infektion weniger schwere Verläufe und belasten das Gesundheitssystem dadurch weniger, jedenfalls derzeit.

Was hat sich am Inzidenzwert geändert?

Die Inzidenz ist derzeit gerade bei den Bevölkerungsgruppen hoch, die überwiegend keine schweren Verläufe haben. Deswegen brauchen wir eine Neujustierung der Entscheidungsgrundlagen. Auch der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensiv- und Notfallmedizin, Christian Karagiannidis, schlägt vor, die Inzidenz um die Anzahl der Hospitalisierungen zu ergänzen. Es ist nicht mehr vertretbar, die Inzidenz als alleiniges Kriterium für massive Grundrechtseingriffe zu verwenden.

Anscheinend reichte es ja nicht, die Bürger um Einhaltung bestimmter Maßnahmen zu bitten, sondern es wurde mit gesetzlichen Eingriffen gearbeitet. Haben sich in der Pandemie die Schwächen des demokratischen Systems gezeigt?

Die demokratischen Mechanismen funktionieren, und die Gerichtsbarkeit überprüft die Maßnahmen. Zu beanstanden ist eher, dass die Politik den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht hinreichend berücksichtigt und es sich in ihrer Lockdown-Logik monatelang recht bequem gemacht hat. Das ist aber eine politische Frage, nicht die der grundsätzlichen Funktionalität des demokratischen Systems.

Josef Franz Lindner / privat

In Deutschland gibt es eine immer größere Diskussion um Erleichterungen für Geimpfte und eine Impfpflicht. Wäre eine solche denn verfassungskonform?

Eine Impfpflicht gab es ja schon bei den Pocken und jetzt begrenzt auch bei Masern, was aber noch vom Bundesverfassungsgericht bestätigt werden muss. Das bedeutet, dass eine Impfpflicht verfassungsrechtlich nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden kann.

Warum scheiden sich beim Thema Impfen so sehr die Geister?

Es gibt ein paar Themen im Bereich der Medizin, die emotional diskutiert werden. Dazu gehören die Impfpflicht, der Umgang mit Embryonen in der Fortpflanzungsmedizin und die Organspende. Bei der Impfpflicht betrifft die Injektion natürlich dann jeden Einzelnen, und viele haben auch Angst vor Spätfolgen.
 
Stellt die Impfpflicht nicht einen massiven Eingriff in das Recht der körperlichen Unversehrtheit dar?

Allerdings. Deswegen würde es überhaupt nur als letztes Mittel in Betracht kommen. In einer Situation mit stark steigenden Hospitalisierungen und einer großen Anzahl an Verweigerern. In der jetzigen Situation ist eine Impfpflicht verfassungsrechtlich noch nicht darstellbar.

Aber gelten Grundrechte nicht auch für die Menschen, die sich aus persönlichen Gründen nicht impfen lassen wollen?

Wenn sich eine neue Variante verbreitete und die Alternative ein Lockdown wäre, dann stellt sich schon die Frage, ob der Staat sich nicht über den Willen derer, die sich einer Impfung verweigern, hinwegsetzen könnte. Es kann – moralisch wie rechtlich – nicht sein, dass eine Minderheit von Personen die ganze Gesellschaft in Geiselhaft hält. Natürlich geht es dabei nicht um Menschen, die sich nicht impfen lassen können oder dürfen. Aber diejenigen, die sich einer Impfung bewusst verweigern, profitieren natürlich von den anderen. Wenn sich 85 Prozent impfen lassen und 15 Prozent nicht, dann haben die 15 Prozent einen doppelten Vorteil. Sie unterziehen sich erstens nicht einer Impfung, die ja mitunter unangenehm sein kann, und sie profitieren gleichzeitig von der Immunität in der Bevölkerung. Das ist das typische Trittbrettfahrersyndrom – und letztlich unsolidarisch.

Aber Solidarität ist doch eine freie Wahl.

Eine Impfpflicht ist derzeit ja auch nicht in Kraft. Viel wichtiger sind jetzt eine wirksame Impfkampagne und sehr niederschwellige Impfmöglichkeiten.

Angenommen, es käme nur zu Einschränkungen für Nicht-Geimpfte: Damit wird doch die Freiheit, die dem Einzelnen per Grundgesetz zusteht, zu einem Privileg degradiert je nach Impfstatus.

Es ist rechtlich nicht zulässig, durch die Einschränkung der Rechte von Nicht-Geimpften Druck auf diese auszuüben. Eine solche Entscheidung muss vor einem epidemiologischen Hintergrund getroffen werden. Ich würde es aber auch anders formulieren: Es geht nicht um Wegnahme von Freiheiten, sondern um die Tatsache, dass man Geimpften selbst in angespannteren Situationen ihre Rechte nicht mehr vorenthalten kann.

Andere Formulierung hin oder her: Am Ende kommt doch das Gleiche raus?

Im Ergebnis kommt das möglicherweise auf das Gleiche heraus. Es ist aber doch eine Frage der Kommunikation: Bestrafe ich Ungeimpfte damit, dass sie das Fußballstadion nicht besuchen dürfen, oder gelten die Kontaktbeschränkungen zunächst für alle, werden aber für Geimpfte aufgehoben?

Staatliche Eingriffe müssen geeignet sein, den Zweck zu erreichen, das mildeste Mittel darstellen und verhältnismäßig sein. Aber eine Corona-Impfung ist doch wohl nicht das mildeste Mittel?

In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts heißt es, dass ein Mittel geeignet und erforderlich sein muss. Und erforderlich ist es dann nicht, wenn es ein milderes Mittel gibt, das in gleicher Weise geeignet ist. Diese gleiche Eignung ist der Knackpunkt, denn eine Aufklärungskampagne, so gut sie auch sein mag, wird nicht den gleichen Effekt haben wie eine Impfpflicht.

Der Staat muss laut Grundgesetz die Gesundheit der Bürger schützen. Dabei wurde während dieser Pandemie die psychische Gesundheit oft vergessen. Gibt es da eine Fehlgewichtung?

Die Politik hat solche Kollateralschäden billigend in Kauf genommen. Wenn Familien im Lockdown mit Ausgangssperre in kleinen Wohnungen bleiben müssen oder Schüler nicht die Schule besuchen können, führt das zu psychischen Belastungen und Krankheiten.

Halten Sie persönlich eine Impfpflicht für sinnvoll?

Ich bin der Meinung, dass eine Impfpflicht derzeit das falsche Mittel wäre. Allein dadurch, dass erst versprochen wurde, dass es keine Impfpflicht geben werde und nun darüber diskutiert wird, wurde schon viel Vertrauen verspielt. Wenn aufgrund von weiteren Mutationen neue Erkenntnisse vorliegen, kann schon darüber nachgedacht werden. Aber in der jetzigen Situation erst einmal nicht.

Die Fragen stellte Alissa Kim Neu.

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