Diesel-Gipfel - Die Stoßregierung

Um überhaupt handlungsfähig zu bleiben, hat die Große Koalition offenbar eine neue Form des Regierens erfunden: Die größten Streitthemen werden im Schnellverfahren stoßweise aus dem Weg geräumt. Doch der Diesel-Gipfel zeigt: Seriöse Arbeit ist so nicht möglich. Und die Kosten trägt im Zweifel der Steuerzahler

Ein ordentliches Stoßlüften täte dieser Regierung gut / picture alliance
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Die deutsch-amerikanische Kabarettistin Gayle Tufts hat einen Klassiker in ihrem Programm über die Merkwürdigkeiten der Deutschen: das Stoßlüften. Überall, wo sie auftauchten, rissen sie erstmal die Fenster auf, um stoßzulüften. Es gebe nicht Deutscheres als dieses Stoßlüften, frotzelt die Entertainerin auf der Bühne.

Für ihr nächstes Programm könnte sie zum Stoßlüften das Stoßregieren als typisch deutsch hinzufügen. Wochenlang macht sich dicke Luft breit in der Großen Koalition, müffelt es nach abgestandenen Stress-Schweiß. Und dann, nach etwa zwei Wochen, trifft man sich im Kanzleramt zum Koalitionsgipfel, um so die größten Streitthemen in einem Akt des Stoßregierens aus dem Weg zu räumen. Danach hat man dann wieder Zeit, sich gegenseitig einigermaßen unerträglich zu finden und wechselseitig zu beschimpfen. 

Krisenrunde folgt auf Krisenrunde

Besonders beliebt ist dafür der Stoßsonntag. Erst vor zwei Wochen kamen abends im Kanzleramt unter der Regie der Kanzlerin die Spitzen der Koalition zusammen, um abermals die Personalie Hans-Georg Maaßen zu bereden, was eine Woche vorher beim Stoßlüften beziehungsweise Stoßregieren noch gemeinsam ins Leere lief. Unmittelbar im Anschluss daran macht sich die Stoß-Regierungschefin daran, in einer weiteren Krisenrunde das Dieselthema in der Koalition zu einem gedeihlichen Ende zu bringen. 

Das hatte auch hier wieder nicht im ersten Anlauf geklappt. Deshalb fand sich das leidige Dieselthema und damit die Frage, ob die Autofahrer oder die Hersteller den Betrug von VW und Co. bezahlen, wieder auf der Tagesordnung im Kanzleramt. Darüber hinaus der so genannte Spurwechsel und das Fachkräftezuwanderungsgesetz. 

Das könnte alles sehr amüsant sein, wenn es nicht so erbärmlich wäre. In einem permanenten Notmodus ist das Bündnis aus Union und SPD nur noch fähig, die allerdringendsten Brocken aus dem Weg zu räumen, die sich in einem nutzlos verstrichenen Jahr seit der Bundestagswahl aufgestaut haben.

Auch Fahrradfahrer müssen für Autokonzerne einspringen 

Diese Form der Regierungskunst verströmt jedoch keinen Hauch von Seriosität, sondern nur den Eindruck völliger Verzweiflung. Abgesehen davon, dass die Kompromisse, die bei den Krisengipfeln gefunden werden, der letzen Überzeugungskraft entbehren. Lange hieß es, es werde auf keinen Fall Steuergeld zugeschossen, um für die Autokonzerne die finanziellen Folgen ihres kriminellen Tuns abzupuffern. Nun gibt es doch welches, und zwar für Handwerker und Lieferanten. Wie viel dafür in die Hand genommen wird, ist zwar„noch unklar“, wie Verkehrsminister Andreas Scheuer sagte. Klar ist aber, dass damit schon das Versprechen der Kanzlerin gebrochen ist, dass die Kosten der technischen Nachrüstung zu 100 Prozent bei den Konzerne liegen müssten. Weil man sich zu Recht nicht traut, den Kunden einen Teil der Kosten aufzubrummen, wird das Staatssäckel aufgeschnürt. Das geht natürlich immer, ist aber am Ende Geld der Verbraucher, und zwar das der Schummeldieselfahrer ebenso wie das der Fahrradfahrer. 

Deshalb ist auch der Satz des hessischen CDU-Ministerpräsidenten Volker Bouffier vom Winde verweht, der vor der Einigung eine Lösung gefordert hatte, bei der „der Bürger keinen Schaden hat“. Genau das ist jetzt eingetreten. 

In Hessen und Bayern drohen Konsequenzen

In Hessen ist in vier Wochen Landtagswahl. Bouffier hat miese Umfragewerte, und die Diesel-Lösung ist nicht dazu angetan, diese zu verbessern. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet ein ruhiger und souveräner Routinier wie Bouffier die Auswirkungen dieser Berliner Stoßregierung höchstwahrscheinlich am stärksten zu spüren bekommen wird. 38 Prozent hatte seine CDU vor vier Jahren in Hessen erreicht und ist ein ziemlich solides Bündnis mit den Grünen eingegangen. Zehn Prozentpunkte weniger werden Bouffier derzeit bescheinigt. Und der Sinkflug in den Umfragen ist kontinuierlich. 

Vor der Hessen-Wahl am 28. Oktober ist am 14. Oktober noch die Bayernwahl. Es sieht derzeit ganz danach aus, als könne deutschlandweit erst von November an mit einem richtigen politischen Stoßlüften zu rechnen sein. 

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