Tag der deutschen Einheit und 40. Jahrestag des konstruktiven Misstrauensvotums gegen Helmut Schmidt - Sinn für das Machbare, strategisches Handeln, Mut zur Entscheidung

Mit dem heutigen Tag der deutschen Einheit jährt sich auch zum 40. Mal der Anfang der Regierungszeit von Helmut Kohl – beide Ereignisse sind aufs engste mit seinem herausragenden politischen Instinkt verbunden. Als Lehre für die Gegenwart bleibt die Einsicht, dass der Wille zu einem grundlegenden politischen Kurswechsel ein hohes Maß an Staatskunst erfordert.

Helmut Kohl im Deutschen Bundestag bei seiner Vereidigung zum sechsten Bundeskanzler am 1. Oktober 1982 / dpa
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Autoreninfo

Ulrich Schlie ist Historiker und Henry-Kissinger-Professor für Sicherheits- und Strategieforschung an der Universität Bonn.

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Der 3. Oktober des Jahres 1990 bescherte die dem deutschen Volk die  Vollendung der Einheit in Frieden und Freiheit. Das in der Präambel des Grundgesetzes beschriebene, aber für viele Deutschen schon in weite Ferne gerückte Ziel, war nun erreicht. Die Wiedervereinigung gilt als Glücksfall der Geschichte und Helmut Kohl als Architekt der Einheit.  

Es ist eine Laune der Geschichte, dass der 3. Oktober, der Moment des größten politischen Triumphs von Helmut Kohl, in diesem Jahr mit der 40. Wiederkehr des Anfangs seiner Regierungszeit, der Wende des Jahres 1982, zusammenfällt. Beide Ereignisse sind aufs engste mit dem politischen Instinkt Helmut Kohl verbunden und zeigen seine Fähigkeit zum strategischen Handeln. Im einen Fall – der Wiedervereinigung von 1990 – war er es, der mit Geschick und Augenmaß das lang ersehnte Ziel verwirklichte. Und auch im anderen Fall, bei dem von ihm eingefädelten Machtwechsel des Jahres 1982, sind sein planvolles Vorgehen und Ausnutzen der vom Grundgesetz gegebenen Möglichkeiten ausschlaggebend gewesen.

Der Schlagabtausch vom 1. Oktober 1982

Ein Blick zurück: Der Schlagabtausch, der in Bonn am Freitagnachmittag des 1. Oktober 1982 stattfand, zählt zu den großen Debatten der deutschen Parlamentsgeschichte. Der Deutsche Bundestag sprach damals mit den Stimmen von CDU/CSU und Teilen der FDP Helmut Schmidt das Misstrauen aus und wählte den damaligen Oppositionsführer aus den Reihen der CDU, Helmut Kohl, zum neuen Bundeskanzler: der Beginn der Ära Kohl, die erst 16 Jahre später, am 27. September 1998 enden sollte. Zweimal erst seit Begründung der Bundesrepublik ist Artikel 67 Grundgesetz, der die Wahl eines neuen Bundeskanzlers auf der Basis eines konstruktiven Misstrauensvotums vorsieht, zur Anwendung gekommen. Nur ein einziges Mal, eben am 1. Oktober 1982, ist dies erfolgreich durchgeführt worden. 

Gut zehn Jahre zuvor, im April 1972, hatte der damalige Oppositionsführer Rainer Barzel, auf der Basis von Art. 67 GG erfolglos Bundeskanzler Willy Brandt zu Fall bringen wollen. Sein Versuch war an der hauchdünnen Mehrheit von zwei – wie sich im Nachhinein herausstellte – durch die Stasi gekaufte Stimmen in den eigenen Reihen gescheitert. Rainer Barzel war es wiederum, der am 1. Oktober 1982 für seine Fraktion den Antrag auf die Abwahl Helmut Schmidts im Plenarsaal begründete. 

Die wiederkehrend in seiner Rede angeführte Begründung, das Signal einer Wende zu setzen und die Handlungsfähigkeit der Regierung wiederherstellen zu wollen, war vor allem wirtschaftspolitisch begründet: „Wir halten es für erforderlich, vorher das Signal der Wende zu geben, um deutlich zu machen: Hier beginnt eine neue Politik, die nicht nach mehr Staat, sondern nach mehr Bürgerfreiheit und mehr realer sozialer Gerechtigkeit verlangt.“

Barzels Wunden der Niederlage

Bei Barzel selbst waren, wie er an einer Stelle seiner Rede durchblicken ließ, die Wunden der Niederlage des Jahres 1972, die seine Kanzlerambitionen begruben und seinen Rückzug von der Spitze der Fraktion, ein Jahr darauf auch von der Partei, noch nicht verheilt. Dies wird auch daraus ersichtlich, dass es Barzel in seiner Begründung nicht unterließ, die SPD, deren amtierender Bundeskanzler Helmut Schmidt zuvor geschickt durch den Aufbau eines Verratsnarrativs durch den abtrünnigen Koalitionspartner Hans-Dietrich Genscher das Ansinnen seiner Abwahl zu delegitimieren versucht hatte, an frühere Ereignisse „in diesem Hause …  zu einem Zeitpunkt im Jahre 1972“ erinnerte. 

Der Kampf zwischen Regierung und Opposition, der am 1. Oktober 1982 endete, hatte bereits den ganzen Sommer getobt und sich im September zugespitzt. Angefangen hatte es im Juni mit der Koalitionsaussage der hessischen FDP, bei den bevorstehenden Landtagswahlen im Herbst zugunsten der CDU stimmen zu wollen. Das Wort von der „Wackelpartei“ machte damals die Runde. Die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte und die Parole vom „sozialen Netz, dass nicht zur sozialen Hängematte werden“ dürfe, wurden von Genschers FDP als Standpunkte in die Debatte geworfen, die das Schisma bewusst vorantreiben sollten. Scharfe Angriffe Hans-Dietrich Genschers gegen den damaligen hessischen Ministerpräsidenten Holger Börner und der Satz, „dass die Aufgaben, die in einer Demokratie gestellt werden, sich ihre eigenen Mehrheiten suchen“, deuteten damals darauf hin, dass die Lebensdauer der 1980 bestätigten sozialliberale Koalition überschaubar war. 

Die parlamentarische Sommerpause brachte durch pointierte Interviews auf allen Seiten weitere Zuspitzungen. Ganz offen hatte der Vorsitzende der SPD, Willy Brandt, in einer Mitgliederzeitschrift die Liberalen in die Nähe der politischen Gegner gebracht.  Von einer vertrauensvollen Zusammenarbeit in der Koalition konnte jedenfalls im Sommer 1982 nicht mehr die Rede sein. Helmut Schmidt hatte sich entschlossen, bei der Gestaltung des Endes seiner Koalition Herr des Verfahrens zu bleiben. Damit konnte er zugleich das Narrativ vom Verrat der FDP bestimmen und durch die scheinbar leichthin nachvollziehbare Lösung der Schuldfrage die FDP an den Rand des Abgrunds bringen. 

Das Lambsdorff-Papier

Als Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff am 31. August 1982 in einem Interview mit der Bild-Zeitung noch eins draufsetzte, indem er erklärte, dass es dem Wähler in Hessen obliege zu entscheiden, was er von einem Koalitionswechsel der FDP halte, wurde er am Tag darauf im Kabinett von Bundeskanzler Helmut Schmidt gerügt und aufgefordert, seine Vorstellung zu Wirtschafts- und Sozialpolitik darzustellen. Das sogenannte Lambsdorff-Papier vom 9. September 1982 wurde weithin als eine „Scheidungsurkunde“ dargestellt, die in ihrer klaren wirtschaftsliberalen Formulierungen von der SPD-Bundestagsfraktion und auch von großen Teilen der Öffentlichkeit als bewusste Provokation empfunden worden war. Helmut Schmidt nutzte die Steilvorlage seines Wirtschaftsministers, um von seinem Koalitionspartner eine eindeutige Festlegung auf die Koalition zu verlangen. Zu jenem Zeitpunkt existierte bereits ein geheimer Draht zwischen dem FDP-Vorsitzenden und Bundesminister des Auswärtigen, Hans-Dietrich Genscher, und dem damaligen Oppositionsführer Helmut Kohl. 

Die Beratung des Haushaltsentwurf 1983 wurden dann zum letzten Schlagabtausch vor der Scheidung. Hans Dietrich Genscher verwies auf seinen unlängst erschienen Aufsatz zur Friedensordnung in Foreign Affairs und ermahnte unter lebhaftem Beifall von Abgeordneten aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion die sozialdemokratische Fraktion dazu, die Grundlinien der Außen- und Sicherheitspolitik nicht zum Gegenstand von Landtagswahlkämpfen zu machen. Die Konturen einer neuen Mehrheit zeichneten sich bereits ab.  

In seiner Regierungserklärung am 17. September beendete Helmut Schmidt die sozialliberale Koalition. Er zeichnete den Weg für vorgezogene Neuwahlen nach dem Beispiel des Jahres 1972 auf und kündigte die Fortsetzung eine SPD-Minderheitsregierung unter seiner Führung an. Die vier FDP-Minister kamen ihrer Entlassung durch Rücktritt zuvor. Sowohl Hans-Dietrich Genscher als auch Helmut Kohl lehnten mit dem Votum ihrer Fraktionen sofortige Neuwahlen ab. Dies hätte die Pläne für die Kanzlerwahl auf der Grundlage des angestrebten konstruktiven Misstrauensvotums über den Haufen geworfen und womöglich zu einem Resultat geführt, dass die FDP aus dem Deutschen Bundestag verdrängt hätte. Wie sehr die These vom Verrat für kurze Zeit emotional gegriffen hatte, machte nicht zuletzt das Ergebnis der hessischen Landtagswahlen vom 26. September 1982 deutlich, bei dem die CDU mit leichten Verluste gegenüber der vorausgegangenen Wahl des Jahres 1978 abgeschlossen hatte und die FDP mit einer erdrutschartigen Niederlage auf knapp über drei Prozent zusammengeschrumpft war.

Der Hessen-Faktor

Das Ergebnis von Hessen beschleunigte die Trennung, so wie es die Führungsgremien von CDU, CSU und FDP bereits am 20. September vereinbart hatten, in Koalitionsgesprächen eingeflossen war und am 28. September in einem gemeinsamen Beschluss der künftigen Koalitionspartner der künftigen Koalitionspartner zusammengefasst war. Nach heftigen Debatten hatte die FDP-Bundestagsfraktion das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen und die Entscheidung für ein konstruktives Misstrauensvotum mit 32 zu 20 beziehungsweise 34 zu 18 Stimmen angenommen. Noch am gleichen Tag brachten beide Fraktionen den Antrag gemäß Art. 67 Grundgesetz den Vorschlag ein, Bundeskanzler Helmut Schmidt das Misstrauen auszusprechen und Helmut Kohl zu seinem Nachfolger zu wählen.

Anders als 1972 lief dieses Mal der Kanzlerwechsel nach Plan. Der schwierigste Part fiel dabei den Freien Demokraten zu. Es war vor allem dem Wirken des Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Mitschnick zu verdanken, dass die FDP mit relativer Mehrheit die Wende vollziehen konnte.  In einer beeindruckenden Rede begründete Wolfgang Mischnick am 1. Oktober den Wechsel als demokratisch legitim. Mit der Bekundung seines Respekts für diejenigen in seiner Partei, die eine abweichende Auffassung zur geplanten Wende hatten, und den anerkennenden Worten für die Zusammenarbeit mit Bundeskanzler Helmut Schmidt und dem Vorsitzenden der SPD -Bundestagsfraktion Herbert Wehner setzte er dabei Maßstäbe für den innerparlamentarischen Umgang. Es war sichtbar, dass es Wolfgang Mischnick sich nicht leicht gemacht hatte, und er selbst sprach von einer „schweren Stunde“.  

Die Wende war 1982 umstritten. Schon zehn Tage nach dem Abtritt von Helmut Schmidt hatte dessen Regierungssprecher Klaus Bölling mit der Veröffentlichung seines Tagebuchs der letzten Tage der Regierung von Helmut Schmidt im Spiegel den Ton für die bevorstehende Auseinandersetzung gesetzt. Die FDP war mit ihrem Wende-Manöver an den Rand ihrer politischen Existenz gegangen. Es war Helmut Kohl, der sich mit diesem Vorgehen gegen den CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß durchsetzte. Wäre es nach Strauß gegangen, der sich gegen ein konstruktives Misstrauensvotum ausgesprochen hatte, dann wäre es zum politischen Exodus der Liberalen gekommen.

Kampf um die Deutungshoheit

Helmut Kohl hingegen hatte anders aus Strauß auf eine dauerhafte strategische Allianz mit den Liberalen gesetzt, weil er sich eine Mehrheit aus eigener Kraft nicht zutraute. Diese Überlegung sollte sich im Nachhinein als richtig erweisen.  Die FDP ist die gesamten 16 Jahre seiner Amtszeit In der Regierung an der Seite der Union verblieben. 

Alles in allem bleibt das verfassungsmäßige Instrument des konstruktiven Misstrauensvotums, eine Lehre aus den instabilen Zeiten der Demokratie von Weimar, ein sparsam zu nutzendes Mittel des letzten Rückgriffs, dessen Handhabung gerade für den den Wechsel vollziehenden Partner nicht ohne Risiko ist. Der Kampf um die Deutungshoheit, auch dies lehrt die Erfahrung von 1982, gilt nicht nur dem Eintrag ins Geschichtsbuch. Er gehört in der Demokratie zum Instrumentarium der politischen Auseinandersetzung. 

Wie später 1989/90 bei der Wiederherstellung der nationalen Einheit hatte Helmut Kohl im Herbst 1982 Machtinstinkt, Gespür für das Machbare bewiesen, und er war klug genug, die Liberalen als Partner am Leben zu erhalten. 

Als Lehre für die Gegenwart bleibt die Einsicht, dass der Wille zu einem grundlegenden politischen Kurswechsel eine richtige Lagebeurteilung, Sinn für das Machbare, strategisches Handeln und den Mut zur Entscheidung – anders gesagt: Staatskunst – erfordert. 

Die Klugheit der Verfassungsväter, die aus den Lehren von Weimar heraus das Instrument des konstruktiven Misstrauensvotums schufen und das Wiedervereinigungsgebot im Grundgesetz verankerten, gilt es auch und gerade am Tag der Einheit gebührend zu würdigen. Die Wiedervereinigung ist nicht nur ein Geschenk der Geschichte, sondern das Grundgesetz von 1949 darf getrost auch als  Glücksfall  bezeichnet werden. Es gibt mehrfachen Anlass, am 3. Oktober dankbar zu sein.

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