Deutsche Autoindustrie - Das Spaltmaß aller Dinge

Der Niedergang der deutschen Autoindustrie ist ein Lehrstück darüber, dass Marktismus allein zu wenig ist. Die Politik muss mitbestimmen, wohin sich die Industrie hierzulande entwickelt

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Jeden Freitag beenden die Fridays for Future Demos das deutsche Automärchen / picture alliance
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Frank A. Meyer ist Journalist und Kolumnist des Magazins Cicero. Er arbeitet seit vielen Jahren für den Ringier-Verlag und lebt in Berlin.

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Für die Automobilwirtschaft war er das Maß aller Dinge. Er schuf den größten Fahrzeugkonzern der Welt. An ihm nahm die Konkurrenz Maß. Und er galt als maßlos autoritär. Auf Auslandsreisen soll er Führungskräfte aus dem Begleittross, deren Performance seinen Ansprüchen nicht genügte, durch Zustellung eines Flugtickets nach Hause abkommandiert haben: Martin Winterkorn, bis vor wenigen Jahren unumschränkter Herrscher über den Volkswagenkonzern.

Winterkorns ganz persönliches Maß allerdings war eher eng: Das „Spaltmaß“, der millimeterknappe Abstand zwischen Tür und Türrahmen eines Autos, war zeitweise in aller Munde, nachdem auf Fotos zu sehen war, wie der oberste Boss mit seinem höchstpersönlichen Kugelschreiber an einer VW-Türe Maß nimmt.

Die Wunderwelt der Winterkorns

Für die Herren über die deutsche Leitindustrie waren es herrliche Zeiten – feudale Zeiten: Man hielt Hof an internationalen Automessen, ließ sich bewundern von der Politik, verwöhnen von den Medien. Und der Rummel war berechtigt: Die Schlitten aus Wolfsburg, Dingolfing, Sindelfingen, Ingolstadt oder Zuffenhausen galten weltweit als die besten. Wer es sich leisten konnte in Europa und Übersee, fuhr VW, BMW, Mercedes, Audi, Porsche – auch wenn sich die Deutschen alles Zubehör, das von Franzosen, Italienern oder Japanern inklusive anboten wurde, exklusiv entgelten ließen. Ein böser Witz, den Mercedes-Käufer einander gern erzählen, geht so: „Was? Sie möchten auch ein Lenkrad? Kostet extra!“

Die Wunderwelt der Winterkorns war so sehr in Ordnung, dass ihre Ingenieure sogar Zeit und Wege fanden, Betrugsprogramme für die Steuerung von Diesel-Abgasen auf Prüfständen zu entwickeln – der Anfang vom Ende der Legende. Seither geht’s bergab mit den PS-Potentaten: Staatsanwälte fahnden nach dem angemessenen Strafmaß für die Verantwortlichen des Diesel-Debakels.

Und dann wurde auch noch der Freitag zum Unglückstag der deutschen Automobilwirtschaft – jeder Freitag! Fridays for Future nennt die Jugend der wohlhabenden westlichen Welt ihren Kampftag, an dem sie allwöchentlich eben diese Welt rettet, unter anderem vor dem veralteten Diesel- oder Benzinmotor.

Der Markt richtet’s

Warum gibt’s diesen Antrieb eigentlich immer noch, obwohl man längst um seine Emissionsproblematik weiß? Warum haben die Motormogule nicht auf alternative Konzepte gesetzt, obwohl die doch als Zukunftsgeschäft zu erkennen waren? Warum wurde in klandestiner Kungelei unter Konkurrenten konventionelle Technik konserviert, obwohl im Silicon Valley bereits der verrückte Elon Musk seinen Tesla zusammenbaute?

Ja, warum fand sich kein Verrückter in den Macht­etagen von VW oder Audi oder Mercedes oder BMW, der die großartige Autonation Deutschland mit einem avantgardistischen Antrieb hätte adeln können? Nur nichts verrücken, lautete die Profitparole: Solange die Kassen klingeln, soll keiner in die Zukunft springen. Dabei hätte doch alles ganz anders sein müssen, wie jeder Neoliberale weiß: Der Markt richtet’s! Stets zum Besten! Zum Fortschritt! Seine unsichtbare Hand waltet, wo immer, wann immer die wirtschaftliche Zukunft derlei magisches Wirken erfordert.

Der Schaden für Deutschland ist unermesslich. In ihren Hochburgen baut die heimische Leitindustrie Tausende Stellen ab, derweil sich Elon Musk mit seiner Tesla-Produktion, die in Wolfsburg und Sindelfingen jahrelang nur mit einem müden Lächeln quittiert wurde, im Raum Berlin niederzulassen gedenkt: fürs Erste mit 7000 Arbeitsplätzen. Denn der Amerikaner stellt her, was die deutsche Öffentlichkeit, was die deutsche Politik erwartet: umweltgerechte Automobile. Was die Besten der Branche nicht vermochten, der Disruptor macht es vor.

Die Politik muss reglementieren und animieren

Erschrocken beschwören zwar nun auch die Feudalherren der deutschen Fahrzeugwelt die Elektrozukunft und beeilen sich mit modernen Modellpaletten. Ja, die führende Industrie der führenden europäischen Wirtschaftsmacht kommt allmählich in Fahrt. Erzwungen hat das Aufholrennen allerdings nicht der Markt, nicht die Hand des Marktgottes, erzwungen haben es die Kinder der total mobilen Autogeneration. Durch gesellschaftlichen Druck, politischen Druck, also durch Einsicht und Vernunft jenseits unternehmerischer Unvernunft.

Im Land der schicksten und schnellsten Automobile spielt sich gerade ein Lehrstück ab. Was wäre daraus zu lernen? Dass es mehr als Glauben an den Markt braucht, damit eine Marktwirtschaft ihre Zukunftsmärkte erkennt und erschließt. Und was folgt aus dieser Erkenntnis? Dass die Politik in der Marktwirtschaft mitbestimmen muss, indem sie reglementiert und animiert.

In der Schweiz gab es für diese Rolle eigens eine Partei: die Freisinnigen, die 1848 mitten im Monarchen- und Fürsteneuropa den modernen Bundesstaat schufen – eine absolut avantgardistische Republik. Bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts geleitete der Freisinn die Wirtschaft mitsamt ihren Kapitalisten durch Politik und Gesellschaft. Erst als die eidgenössische FDP auf das neoliberale Diktum „mehr Freiheit, weniger Staat“ hereinfiel, gab sie ihren politisch-wirtschaftlichen Führungsanspruch auf.

Ende für das deutsche Automärchen

Fest steht: Marxismus ist Gift für die Marktwirtschaft. Klar indes ist aber auch: Das angebliche Gegengift Marktismus wirkt nicht minder verderblich. Das Schicksal der deutschen Automobilwirtschaft führt mustergültig vor, wie sehr es politischer Vernunft bedarf, um erfolgreich neue Märkte anzusteuern – aktuell den Markt menschheitsgerechter Mobilität.

Dazu allerdings braucht es auch gesellschaftlich und politisch engagierte Manager und Unternehmer. In Deutschland schweigen sie, wie die Frankfurter Allgemeine betrübt feststellt: „Die wenigen Manager und Unternehmer, die sich in Deutschland in eine Talkshow trauen, lassen sich an einer Hand abzählen (…) Die wirtschaftliche Elite drückt sich vor dem öffentlichen Diskurs.“

So ist es nun mal: Wer über sein Tun und Lassen nicht nachdenkt, der hat auch nichts zu erzählen. Was hätte Martin Winterkorn in der Blütezeit seiner Macht denn auch berichten sollen? Dass der Diesel prima ist? Und das Spaltmaß am Volkswagen Weltklasse? Immer am Freitag beendet Kindermund das deutsche Automärchen!

Dieser Text ist in der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

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