Deutsche Auswanderer - Nichts wie weg - Teil 2

Corona-Maßnahmen, Wirtschaftskrise, Meinungsklima: Immer mehr Deutsche verlassen das Land, um andernorts ihr Glück zu suchen. Der Unternehmer Hans Hoffmeister plant wegen der deutschen Energiepolitik, in die USA zu gehen. Der Theaterintendant Tobias Morgenstern sucht in Schweden Zuflucht vor der Cancel-Kultur. Die Titelgeschichte aus der aktuellen Cicero-Ausgabe.

Mit einem Bein in Amerika: Unternehmer Hans Hoffmeister verzweifelt an den hohen Energiepreisen / Maurice Weiss
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Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Daniel Gräber leitet das Ressort Kapital bei Cicero.

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Zu Teil 1.

Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, ist noch immer Sehnsuchtsziel vieler Deutscher. Die USA liegen nach den beiden deutschsprachigen Nachbarländern Schweiz und Österreich auf Platz drei der beliebtesten Auswanderungsziele. Allerdings ist die Zahl der Rückkehrer aus den USA vergleichsweise hoch. Das bedeutet, dass viele Deutsche nicht dauerhaft dorthin auswandern, sondern nur für einen begrenzten Zeitraum. Etwa, weil sie von ihrem deutschen Arbeitgeber für zwei, drei Jahre in die Vereinigten Staaten entsandt werden, um am dort angesiedelten Firmenstandort Erfahrungen zu sammeln und Know-how einzubringen.

Diese Form der „Gastarbeit“ in den USA wird in den kommenden Jahren wohl zunehmen. Denn viele Mittelständler planen, ihre Geschäftsaktivitäten in Nordamerika auszubauen. Das ergab eine aktuelle Umfrage des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbauer. „Sowohl die Größe des Marktes und die Wachstumsperspektiven als auch die zunehmenden geopolitischen Spannungen machen es attraktiv, direkt vor Ort vertreten zu sein“, sagt Karl Haeusgen, Präsident des Branchenverbands.
Einer, der mit dem Gedanken spielt, den Atlantik dauerhaft zu überqueren, ist Hans Hoffmeister. Der mittelständische Unternehmer ist mit einer Amerikanerin verheiratet und zweifelt an der Zukunftstauglichkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Seine Firma Hiper Ceramics hat ihren Hauptsitz in Brandenburg und galt als ostdeutsche Erfolgsgeschichte. Politiker gingen bei Hoffmeister ein und aus und bestaunten die dort hergestellten Präzisionsteile aus Keramik, die in etlichen Maschinen stecken: vom Eurofighter bis zum Urknallsimulator in Genf. Auch medizinische Produkte wie künstliche Hüftgelenke stellt Hoffmeisters Unternehmen her.

Gegründet hat er es 1995. Das Land Brandenburg lockte mit Fördergeld. „Das war aber nicht der einzige Grund, warum wir uns für den Standort entschieden haben“, sagt der in Westberlin aufgewachsene Firmenchef und promovierte Chemiker. „Ich wollte den saturierten Westen hinter mir lassen und etwas Neues aufbauen. Das ging hier besser. Es gab gut ausgebildete Ingenieure und Facharbeiter, die Arbeit suchten.“

Deutsche Bürokratie erstickt Unternehmer

Was Hoffmeister nahezu verzweifeln lässt, ist die deutsche Energiepolitik. Denn er braucht große Mengen an Energie. Seine Keramikteile werden bei Temperaturen von bis zu 2000 Grad Celsius gebrannt. Erst dadurch werden sie so hart und widerstandsfähig, wie sie sein müssen. „Unsere Strom- und Gaskosten liegen momentan bei knapp 700.000 Euro im Jahr“, sagt er. „Jetzt hat unser Versorger angekündigt, dass er den Gaspreis verfünffachen muss und uns Strom überhaupt nicht mehr liefern kann. Das bedeutet, wir hätten dann Energiekosten von drei Millionen Euro oder mehr. Wenn wir überhaupt etwas bekommen.“

Hiper Ceramics ist einer der Fälle, die Wirtschaftsexperten meinen, wenn sie vor einer Deindustrialisierung Deutschlands warnen: hochspezialisierte Firmen mit einer energieintensiven Produktion, denen die steigenden Strompreise schon seit Jahren zu schaffen machen. Der durch Russland ausgelöste und durch die realitätsferne deutsche Antiatompolitik verschärfte Energiepreisschock tut nun sein Übriges.

Unternehmer Hoffmeister will Deutschland eigentlich nicht verlassen. „Dieses Land, oder genauer gesagt die Steuerzahler dieses Landes haben mir eine sehr gute Ausbildung finanziert. Mein Unternehmen habe ich mit vielen Millionen an Förder­geld aufgebaut. Daraus erwächst die Verantwortung, etwas zurückzugeben“, sagt er. „Aber ich brauche dafür Rahmenbedingungen, die wirtschaftlichen Erfolg ermöglichen, statt ihn zu behindern. Leider fehlt es in der deutschen Politik am Bewusstsein dafür, woher unser Wohlstand kommt. Es geht nur noch um Umverteilung und Reglementierung, wir ersticken in Bürokratie. Die aktuelle Energiekrise ist ein Symptom des Problems, die Ursachen liegen tiefer.“

Mit einem Bein ist Hans Hoffmeister bereits in den USA. Er hat dort einen zweiten Firmenstandort gegründet, seine Tochter lebt dort und führt ihn. Noch hat Hiper Ceramics nur eine Handvoll Mitarbeiter in Amerika, aber das soll sich bald ändern. Denn eine neue Produktionshalle für Hüftprothesen aus Keramik, die eigentlich am Hauptsitz in Brandenburg geplant war, wird jetzt im Mittleren Westen gebaut. „Der Grund dafür war, dass die Baukosten explodierten und unkalkulierbar wurden. Also haben wir die Reißleine gezogen. Die Maschinen, die schon bestellt waren, sind nun auf dem Weg in die USA“, sagt Hoffmeister. Die Entscheidung hat sich im Nachhinein als glücklich erwiesen. Denn so entflieht Hiper Ceramics auch den steigenden Energiepreisen. In den USA sind Strom und Gas deutlich billiger. Dennoch betont der Unternehmer: „Hier alle Zelte abbrechen und komplett rübergehen, das würden wir erst dann tun, wenn es gar nicht mehr anders geht.“

Schluss mit geistiger Einengung

Die Energiekrise, das macht Hoffmeisters Beispiel deutlich, kann zu einer schleichenden Abwanderung von Industriebetrieben führen. In die Schlagzeilen kommen diese Fälle nicht. Denn es werden keine Werke geschlossen, keine Mitarbeiter auf die Straße gesetzt. Nur wird eben woanders in die Zukunft investiert. 

Tobias Morgenstern hat Deutschland nicht aus wirtschaftlichen Gründen verlassen, sondern weil er es hier nicht mehr aushielt. Der 62-jährige Akkordeonist und Theaterintendant aus dem sächsischen Dresden, der in seiner langen Karriere viel beachtete Plattenaufnahmen mit Musikern wie Rio Reiser oder Gerhard Schöne eingespielt und der sich mit dem 1998 im brandenburgischen Oderbruch gegründeten Theater am Rand für die kargen Kulturlandschaften in den Außenbezirken des Landes verdient gemacht hatte, packte im Dezember des Jahres 2020 ein Dutzend Umzugskartons zusammen und verließ Deutschland in Richtung Schweden. 

In der Schweiz fühlt sich Martina Efing als
Altenpfleger wertgeschätzt / Katharina Lütscher

Irgendwann musste schließlich Schluss sein: Schluss mit der Schuldvermutung gegen jedermann und Schluss mit der Krittelei an zu viel Kritik. Die war Tobias Morgenstern schon früh auf die Füße gefallen. Und das nur, weil er es gewagt hatte, die deutsche Corona-Politik in aller Öffentlichkeit zu hinterfragen, ja, mehr: In einem Lied hatte er sogar Hohn und Spott mit ihr getrieben: „Das Grundgesetz war gestern / heut’ kommt die Polizei“, hieß es da gewollt vorlaut. Und: „Heute sammle ich mit Vergnügen / Verschwörungstheorien.“ Mochten derlei Zeilen für Morgenstern selbst auch einen ironischen Zungenschlag gehabt haben, einem Querkopf wie ihm nahm man Kritik übel: „Ich bin halt ein kritischer Mensch. Ich war zu DDR-Zeiten kritisch und das bin ich noch immer.“ 

Unfrei im eigenen Theater

Doch es kam der Tag, an dem es selbst für einen erprobten Oppositionellen zu viel wurde: „Meine Freundin und ich hatten eigentlich nie die Absicht auszuwandern.“ Doch irgendwann sei es ihm in Deutschland zu unsicher geworden: Das Theater war zu, und auch menschlich war es viel zu dunkel. Zu seiner Freundin hat Tobias Morgenstern dann gesagt: „Komm, wir gucken lieber mal nach einem Rückzugsort!“ Und so haben sie geguckt. Und – sie haben ihn gefunden. Nicht, wie vor Jahren einmal geplant, in der brandenburgischen Uckermark, sondern in einem kleinen Dorf namens Tingsryd, Småland: 3000 Einwohner hat es auf diesem kleinen Flecken Erde, dazu einen See und ein weit über Tingsryd hinaus bekanntes Eishockeyteam. 

Småland ist Pippi-Langstrumpf-Land. Es gebe dort, schwärmt Morgenstern noch heute, nur einen unmittelbaren Nachbarn. Aber vermutlich war gerade diese Einsamkeit der entscheidende Grund dafür, dass er genau hier wieder Freiheit unter die Füße bekam: „Hier, im liberaleren Schweden, kriege ich endlich wieder so ein Gefühl, wie ich es früher auch in meinem Theater hatte.“ Mit „früher“ meint er die Zeit vor dem Virus; die Zeit der Unschuld – ohne das moralische Gängelgefühl. Diese Zeit aber, für Tobias Morgenstern ist sie zumindest in Deutschland vorerst passé: „Ich durfte in meinem eigenen Theater ja nicht mal mehr sagen, was ich denke. Alles war so komisch geworden.“

Aus dem Diffamierungsbaukasten

Und komisch geworden war selbst das, was noch werden sollte. Später, im Herbst 2021. Da nämlich sollte Tobias Morgenstern – „Musiker des Jahres 1987“ in der Kategorie „Weltmusik“, Träger des Verdienstordens des Landes Brandenburg – von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eigentlich das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen. Alles war dafür vorbereitet; auch eine mehr als plausible Begründung: Morgenstern, so war darin zu lesen, habe sich „in besonderer Weise um Kunst und Kultur verdient gemacht“.

Theaterintendant Tobias Morgenstern fand in
Schweden Ruhe und Freiheit / Bettina Homeyer 

Was dann genau zu der Absage der großen Ehre geführt hatte? Tobias Morgenstern kann es noch immer nicht sagen: „Bis zum heutigen Tag habe ich nicht einmal eine schriftliche Begründung vom Präsidialamt erhalten. Die musste ich mir von woanders herholen.“ Und da hieß es dann, dass es konkrete Hinweise darauf gebe, dass der gestern noch hoch angesehene Musiker und Theaterbetreiber Tobias Morgenstern der sogenannten Querdenker-­Szene angehöre, ja dass er sogar Nachrichten von Antisemiten verbreite.

Morgenstern kann das alles nicht fassen. Auch jetzt noch nicht, fast ein Jahr danach. Da werde in einen Diffamierungsbaukasten hineingegriffen, aus dem dann irgendetwas zusammenkonstruiert und behauptet wird. Nein, Schweden sei wirklich goldrichtig gewesen, die beste Entscheidung während der schlechtesten Zeit. Es habe sogar einen Vorteil, so fügt Morgenstern hinzu, dass er bis dato kein Wort Schwedisch spreche. So bliebe er von all dem überhitzten Geraune in den Nachrichten verschont. „Vielleicht ist es das, was ich hier empfinde: Hier gibt es Ruhe, und es gibt Gesundheit.“ 

In die Schweiz wegdrangsaliert

Auch Carsten und Martina Efing haben Deutschland während der Pandemie verlassen. Das Paar aus Neckarburken im eigentlich idyllischen Odenwald ist vor wenigen Wochen in die Schweiz gezogen: Seftigen, eine mittelgroße Gemeinde am Rande des Berner Oberlands. Allein in den vergangenen 40 Jahren hat sich die Bevölkerung in diesem Dorf fast verdoppelt. Natürlich kamen nicht alle aus Deutschland, aber für die Efings scheint Seftigen binnen kürzester Zeit zu einem neuen Zuhause geworden zu sein. „Wir haben definitiv das Richtige gemacht“, sagt Carsten Efing im Brustton der Überzeugung. Dabei hat „das Richtige“ gerade mal acht Wochen gedauert. Acht Wochen, um eine alte Heimat abzuwickeln und um den Sprung in ein neues Leben zu wagen.

Deutschland scheint es dem Paar aber auch einfach gemacht zu haben. Denn irgendwann durfte Martina Efing, die zunächst eine Ausbildung zur Altenpflegerin gemacht hatte, auf die sie dann vor sechs Jahren eine weitere Ausbildung zur Krankenpflegerin aufgesattelt hatte, nicht mehr arbeiten – zumindest nicht mehr in dem Beruf, der trotz aller Engpässe und Nöte eigentlich ihr Traumberuf war. Weil sie sich nicht hatte gegen Corona impfen lassen, erhielt Martina Efing im Frühjahr ein Schreiben vom Gesundheitsamt. Entweder lege die Krankenpflegerin einen Immunisierungsnachweis vor oder sie müsse mit einem Betretungsverbot ihrer damaligen Arbeitsstelle und einem Bußgeld von 2500 Euro rechnen. Was dann noch folgte, war die Kündigung. 

Für die Efings, die beide im gleichen Beruf arbeiten, war das der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: „Natürlich hat man den Notstand in der Pflege seit langem bereits gespürt“, sagt Carsten Efing: die Überstunden, die oft neun oder zehn Tage Arbeit am Stück ohne einen einzigen Tag Pause. „Wir hätten das schon noch weiter verkraftet“, meint Carsten Efing mit dem Mut eines verzweifelten Alltagshelden. Das mit seiner Frau Martina war dann aber zu viel: „Wir haben dann überlegen müssen, was eine Alternative sein könne. Und Freunde von uns haben uns schließlich auf die Schweiz gebracht. Dort sei man, so hieß es, mit der Impfung sehr liberal.“

Seit dem 1. August also arbeiten Carsten und Martina Efing in einer Pflegeeinrichtung im Kanton Bern: Es gibt eine halbe Stunde Frühstückspause, eine Dreiviertelstunde Mittagessen. „Das nimmt den Druck raus“, sagt Martina Efing, die es noch immer nicht ganz fassen kann, dass selbst der Direktor des Hauses geduzt wird und dass die oberste Tugend Wertschätzung heißt. „Wenn ich abends nach Hause komme, habe ich sogar noch die Kraft für einen Ausflug. In Deutschland war das längst nicht mehr vorstellbar.“ 

Manchmal muss man eben erst fortgehen, zuweilen über alle Berge. Dann wird das scheinbar Normale mit einem Mal ganz klein – und im Innern spürt man neue Weite.

 

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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