Debattenkultur und Corona - Die Talkshow stirbt zuletzt

Der Ausnahmezustand, den Covid-19 auslöst, legt das gesamte öffentliche Leben lahm. Nur die Talksendungen und einige Geltungssüchtige agieren wie immer. Es ist Zeit, an eine mehr als 350 Jahre alte Mahnung zu erinnern.

Sicherheitsabstand und keine Zuschauer im Studio, sonst alles wie immer bei "Maischberger" / Screenshot ARD
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Ich mache mir bekanntlich nichts aus Fußball. Aber manche Charaktere im großen Spektakel um den Ball auf dem Rasen interessieren mich schon. Jürgen Klopp zum Beispiel. Das ist oft hochintelligente Unterhaltung, Schlagfertigkeit und Situationskomik, die dieser energetische Berserker an den Tag legt. Herrlich, wie er einmal fallen ließ, wie dankbar er jetzt mal für eine intelligente Frage wäre. Unvergessen, wie er einst einen Reporter des SWR zum „Seuchenvogel“ erklärte, weil seine Mannschaft immer dann abschmierte, wenn dieser Kollege auftauchte. Was für eine geistreiche Wortschöpfung. Dass sie in diesen Tagen und Wochen einen bitteren Beigeschmack hat, dafür kann Klopp nichts. Der Vorgang ist neun Jahre her.

Kein Wort zu Corona

Damit sind wir bei Klopp und Corona. Ein Reporter versuchte zuletzt, als Fußball noch stattfand, Jürgen Klopp einen O-Ton zum Virus und der Seuche zu entlocken. Klopp faltete ihn auf Postkartenformat zusammen. Warum er ihn dazu frage, dazu habe er nichts zu sagen, weil er davon nichts versteht. Punkt. Ende. Aus.

Was für ein wohltuender Kontrast zu all jenen, denen man im Augenblick nicht nur einen Mundschutz, sondern ein breites Klebeband vor dem Mund wünschte. Der Mitteilungsdrang ohne jeden Erkenntnisgewinn grassiert unter den Geltungssüchtigen so exponentiell wie das Virus selbst. Schlimmster Fall: Der tägliche Videochat von Sigmar Gabriel und Wolfgang Bosbach bei Bild. Beide sind ausgeschiedene Politiker, die weder als Experten noch als politische Entscheider irgendeine Bewandtnis hätten. Bei Gabriel ist die Bedeutungslosigkeit sogar frei gewählt. Er hat den Parteivorsitz der SPD aus freien Stücken abgegeben, anstatt als Kanzlerkandidat 2017 anzutreten. Und bei Bosbach kommen einem als erstes die unzähligen Interviews in den Sinn, die er in den letzten zehn Jahren zu seinem unheilbaren Prostatakrebs gegeben hat.  

Stammspieler im Talkshowbetrieb

Gabriel und Bosbach haben nichts Substanzielles beizutragen zu Covid-19. Sie sind lediglich Aufmerksamkeitsjunkies auf Entzug. Wenn man den Ton abschaltet, was man ohne Verlust an Information tun kann, dann sieht man ihrer Mimik an, wie die Bedeutsamkeit des Moments sie beglückt, wie die Endorphine ihres Körpers ausgeschüttet werden und sie mit Glücksgefühl durchrieseln. 

Gabriel und Bosbach besetzen Stammplätze im deutschen Talkshowbetrieb. Ich habe gar nichts gegen Talkshows, bin selbst gelegentlich dort zu Gast. Dieses Sendeformat hat seinen eigenen Reiz und seine eigene Funktion. Deshalb hat es auch so hohe Einschaltquoten. 

Der Reiz liegt aber nicht in erster Linie im Erkenntnisgewinn. Sondern darin, wie sich die Diskutanten rhetorisch duellieren, wie sie attackieren und parieren, im besten Fall mit dem Florett, manchmal auch mit dem Dreschflegel. Die Positionen sind vorher gecastet und vorher von der Redaktion individuell abgeklopft. Das ist ein Schaukampf, eine Art Wrestling mit Worten. 

Wie gesagt, reizvoll. Aber eher in der Abteilung Unterhaltung als der Abteilung Information beheimatet. Circus Maximus, Brot und Spiele im Zeitalter des Fernsehens. Wenn dabei etwas politische Bildung und Aufklärung rauskommt: umso besser. 

Die Unbeirrtheit des „Weiter so“

In diesen Wochen nun geht alles ins Home Office, ganze Zeitungen werden täglich vom Küchentisch aus layoutet und produziert. Weil die Leute, wenn es irgend geht, sich nicht begegnen sollen, zum Beispiel im wuseligen Newsroom. Alle schalten also ihren Betreib um, soweit es geht. Nur die Talkshow macht weiter wie bisher. Die Talkshow stirbt zuletzt. Wahrscheinlich würde sie noch Gäste ins Studio fahren, am besten den Verteidigungsminister, wenn Fliegeralarm ist. Und wenn man weiß, wie viele Menschen da im Studio auf engstem Raum im Studio tätig sind, vom Fahrer über den Regisseur bis zu den Tonleuten und den Maskenbildnern, den beruhigt nur mäßig, dass im Augenblick kein Publikum anwesend ist. 

Diese Unbeirrtheit des „Weiter so“ hat neulich sogar einen bekennenden Talk-Show-Fan veranlasst, seiner Irritation darüber freien Lauf zu lassen. Markus Söder schätzt die Herausforderung dieser Sendungen grundsätzlich, weil sie den Geist schärfen und die Schlagfertigkeit schulen. Aber als er vor zwei Wochen bei Anne Will aus München zugeschaltet war, hielt er das Muster, aus dem die Moderatorin nicht auszubrechen imstande war, nicht mehr aus. Wieder und wieder versuchte sie, Söder gegen NRW-Ministerpräsident Armin Laschet in Stellung zu bringen, mit dem sich Söder nach Medienberichten in einer Schaltkonferenz gezofft hatte. Sie schob Söder gleichzeitig in die Position desjenigen, der persönliche Profilierung betreibe, nicht so sehr den Schutz seiner Bevölkerung. Söder blieb lange ungerührt bei diesem Spiel, bis er sich die Gegenfrage erlaubte, ob sich Frau Will sicher sei, die im Moment richtigen Fragen zu stellen.

Weckruf eines Virologen

Der derzeit wichtigste deutsche Virologe hat daraus inzwischen seine Konsequenzen gezogen. In dem preiswürdigen täglichen Podcast mit dem NDR hat Christian Drosten von der Berliner Charité sein Unwohlsein mit dem Talkshowbetrieb öffentlich gemacht. Weil dort nur versucht werde, den einen Kollegen auf den anderen loszulassen. Er gehe dort deshalb nicht mehr hin. Es bringe nichts. 

Man hat nach den Einschlägen der gekaperten Passagierflugzeuge in die beiden Türme des World Trade Center vor fast 20 Jahren gesagt, nichts werde mehr so sein wie vorher. Und vieles war eben doch bald wieder wie vorher. Bei diesem Satz ist also Vorsicht geboten. „Die Macht der Gewohnheit“ heißt nicht ohne Grund ein grandioses Theaterstück von Thomas Bernhard. 

Eine Mahnung aus dem Jahre 1657

Aber vielleicht könnte wenigstens für die akute Dauer dieser Seuche die öffentliche Debatte dem Ausnahmezustand angepasst werden. Nicht zuletzt in den Talkshows. Das Diktum dazu hat vor mehr als 350 Jahren der Arzt Johannes Scheffler alias Angelus Silesius seinen Zeitgenossen und Landsleuten in ebenso dunkler Zeit zugerufen. „Mensch, werde wesentlich“, mahnte der Barockdichter und Priester 1657. „Denn wenn die Welt vergeht, dann fällt der Zufall weg. Das Wesen, das besteht.“ Man muss sich nicht den apokalyptischen Unterton dieses Gedichts zu eigen machen. Das ist der Zeit geschuldet und dem damals herrschenden Geist des Vanitas-Gedankens, der Vergänglichkeit. Aber die Besinnung aufs Wesentliche allemal.         
      

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