Covid und psychische Probleme - Die Pandemie der Untherapierten – und der Beitrag der Medien

Psychische Erkrankungen sind in der Pandemie steil nach oben geschnellt. Auf Gesundheitssysteme und Volkswirtschaft kommen jährlich zweistellige Milliardenschäden zu. Eine neue Studie zeigt: Ursache sind nicht nur Lockdownmaßnahmen – sondern insbesondere die Emotionalisierung und Negativdynamik in journalistischen und sozialen Medien.

Wenn Negativität krank macht: Depression in der Pandemie / dpa
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Autoreninfo

Jan Schoenmakers ist Gründer und Geschäftsführer der Analyse- und Beratungsfirma Hase & Igel, die sich darauf spezialisiert hat, mit Verhaltensdaten – von Google-Suchen über Social Media Gespräche bis zu Werbeausgaben – Entwicklungen in Markt und Gesellschaft zu bewerten. Nach seinem Studium der Medien- und Politikwissenschaft arbeitete der Statistikexperte lange Zeit als Kommunikationsmanager in der Energiewirtschaft.

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Alle Jahre wieder steigen zur Weihnachtszeit nicht nur der Karpfen- und der Alkoholkonsum – auch die Zahl jener, die wegen psychischer Leiden Hilfe suchen, schnellt verlässlich um den Jahreswechsel in die Höhe. Dieses Jahr ist die Zahl der Hilfesuchenden um 22 Prozent höher als zu Beginn der Corona-Pandemie. Das zeigt eine neue Studie, die das vom Autor geführte Analyseunternehmen HASE & IGEL zusammen mit dem Institut für Verhaltensökonomie veröffentlicht hat.

Hinter dieser Zahl verbirgt sich nicht nur millionenfaches persönliches Leid. Durch die massive Zunahme psychischer Erkrankungen rollt auf die Gesundheits- und Sozialsysteme sowie die Betriebe auch eine Welle von 10 bis 30 Milliarden Euro Kosten pro Jahr zu. Das entspricht in etwa derselben Belastung, als wenn sich sämtliche aktuell Ungeimpfte gleichzeitig mit Corona infizierten – und das einmal jährlich.

Doch während das Land sorgenvoll die Inzidenzen verfolgt, während Vakzine gegen das Virus die Talkshows und Stammtischgespräche dominieren, bleibt die Pandemie der psychisch Erkrankten weitgehend unbeachtet. Angesichts dessen, dass psychisch Kranke im Vergleich zu Gesunden im Durchschnitt zehn Jahre Lebenszeit verlieren, während Corona bisher die Lebenserwartung um 0,15 Jahre reduziert hat, wird sich diese Nichtbeachtung noch als schwerer Fehler herausstellen.

Die psychische Gesundheit verfällt in allen Lebensbereichen dramatisch

Dies gilt umso mehr, als sich der Anstieg psychischer Leiden durch alle Bereiche zieht. Ob Angststörungen, Überlastungserkrankungen im Beruf, toxische Beziehungen oder Depressionen – die Zahl der Hilfesuchenden ist seit Anfang 2020 durchweg im zweistelligen Prozentbereich gestiegen. Besonders alarmieren muss uns dabei der Umstand, dass die Inzidenz psychischer Leiden in akuten Krisensituationen – zum Beispiel während der Lockdowns – steil in die Höhe geschnellt ist, doch bei einer Entspannung der Pandemielage kaum wieder absinkt. Mit jedem Corona-Zyklus werden so neue Gipfel erklommen.

An der Spitze stehen dabei – an den schieren Zahlen gemessen – Angststörungen. Wenig überraschend haben neben einem allgemeinen Anstieg an Ängstlichkeit und Panikattacken insbesondere Störungen in Bezug auf Menschenansammlungen und öffentliche Plätze massiv zugenommen. Im Kontext der Impfkampagne nicht uninteressant: Die Angst vor Spritzen ist mehr als doppelt so stark gestiegen wie die Angst vor Krankheit.

Das Bild vom Nächsten als möglichem Virenüberträger hat sich tief eingegraben. Dies mag auch zu der fragwürdigen Figur beitragen, die die Arbeitswelt abgibt: Während kaum mehr Menschen Hilfe wegen akuter Arbeitsüberlastung suchen, ist die Zahl jener, die bei sich einen Burnout vermuten, insbesondere dann in die Höhe geklettert, wenn es nach längeren Homeoffice-Phasen wieder zurück ins Büro gehen sollte.

Doch auch daheim ist bei Weitem nicht alles in Ordnung: der Problembereich, der prozentual am Stärksten zugenommen hat (+44%!), sind Beziehungsstörungen wie etwa Co-Abhängigkeiten und toxische Beziehungen.

Durch die Bank ist so die Lebensfreude messbar gesunken, die Zahl jener, die mit Symptomen depressiver Verstimmung Hilfe suchen, ist um mehr als ein Sechstel gestiegen.

Die Medien drücken stärker auf die Stimmung als der Lockdown

Die Vermutung liegt nahe und wurde häufig geäußert, dass restriktive Corona-Maßnahmen wie Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen die stärksten Treiber psychischer Leiden sind. Unsere Studie zeigt, dass diese Erklärung nur bedingt zutrifft – und ein wesentliches Element außer Acht lässt.

So haben nur zwei der politischen Maßnahmen durch die Bank einen wissenschaftlich abgesicherten Einfluss auf die Zahl derer, die Hilfe und Beratung wegen psychischer Krankheitssymptome suchen: das Verbot oder die Beschränkung von Veranstaltungen sowie die Maskenpflicht. Darüber hinaus hat die Schließung des Einzelhandels Angststörungen signifikant befeuert, während die laufende Kontaktnachverfolgung und Risikoermittlung unter anderem über die Corona-App zu einem Anstieg an Stress in Beziehungen und im Beruf geführt hat. Keine dieser Maßnahmen erklärt jedoch für sich oder in der Zusammenschau auch nur die Hälfte des messbaren Zuwachses an psychischem Leidensdruck.

Mindestens zu zwei Dritteln stärker hat sich ein anderer Faktor ausgewirkt, der in der Debatte bislang nur selten im Rampenlicht steht: nämlich, wie wir über die Pandemie öffentlich kommunizieren. Der stärkste „Brandbeschleuniger“ psychischer Störungen ist eindeutig die Kombination aus der eklatanten Negativdynamik in sozialen Medien und einer emotionalen, oft auch wutgeladenen journalistischen Berichterstattung. Die Kombination aus reichweitenstarken Corona-Schlagzeilen in der Presse und Shitstorms in sozialen Medien reicht aus, um mehr als drei Viertel des Anstiegs psychischer Nöte zu erklären.

Gerade mit dem Blick auf die aktuelle Situation, in der der Konflikt um den richtigen Weg aus der Pandemie zu eskalieren droht und Omikron zugleich die Angst vor einem Kontrollverlust im Gesundheitssystem befeuert, kann dieser Befund gar nicht überbewertet werden: Je emotionaler wir kommunizieren, desto kranker macht uns die Situation. In einem besonnenen, nüchternen und neutralen Journalismus und einer hohen Mediennutzungskompetenz des Einzelnen – gerade in den sozialen Medien – liegt der größte Hebel, die Pandemie ohne noch mehr psychische Kollateralschäden durchzustehen. Besonnenheit statt „Haltung“, Fakten statt Konflikt retten uns den Verstand.

Wir müssen jetzt handeln – und können das auch

Ein fatales Missverständnis liegt der Haltung zugrunde, dass die eskalierende Zahl psychisch Erkrankter ein bedauerlicher Nebeneffekt der Pandemie sei, gegen den man leider Gottes wenig unternehmen könne. Es stimmt, dass psychische Störungen oft langwierig zu therapieren sind und auch erfolgreiche Therapien nicht automatisch zu einer vollen, nachhaltigen Gesundung führen. So bewirken entsprechende Erkrankungen überproportional lange Ausfallzeiten und sind der Grund für beinahe die Hälfte aller Frühverrentungen.

Umso wichtiger ist es jedoch, es so weit nicht kommen zu lassen – denn wenn psychische Krankheiten früh erkannt und behandelt werden, ist die Erfolgsaussicht wesentlich höher. Dies gilt umso mehr, als die Betroffenen in diesem Stadium mit der richtigen Unterstützung meist noch selbst in der Lage sind, ihre Situation zu verbessern und das Erleben von Selbstwirksamkeit ein entscheidender Faktor für die Gesundung ist.

Doch bei entsprechenden „Erste-Hilfe-Programmen“ für die psychische Gesundheit liegt Deutschland weit abgeschlagen – nicht nur im Vergleich mit anderen großen Industriestaaten, selbst nach absoluten Zahlen liegen kleine Länder wie Malta vor der Bundesrepublik. Dabei gibt es international bewährte niedrigschwellige Maßnahmen, mit denen man auch hierzulande sofort ansetzen könnte.

So ließen sich zum einen betriebliche Ersthelfer schnell und kostengünstig zu psychischen Ersthelfern weiterbilden, um im Betrieb als Frühwarnsystem zu fungieren und Betroffenen erste Handreichungen zu geben – ein Konzept, das weltweit gute Erfolge aufweist. Zum anderen haben sich in vielen Ländern Programme bewährt, bei denen Sozialversicherungsträger Betroffene mit Trainingsprogrammen versorgen, mit denen diese anhand bewährter Arbeitsmaterialien in Eigenregie an der Verbesserung ihrer psychischen Gesundheit arbeiten. So sind sie wesentlich seltener auf die Verfügbarkeit von Coaches und Therapeuten angewiesen – angesichts der seit Jahren immer drastischen Unterversorgung auf diesem Gebiet ein wichtiger Punkt.

Genügen solche Maßnahmen als Antwort auf die oben dargestellten gewaltigen Probleme? Natürlich nicht in Gänze – doch wir müssen anfangen, die psychischen Schäden durch die Pandemie ernst zu nehmen und ihnen sofort und niedrigschwellig zu begegnen. Jeder pragmatische Schritt hilft dabei, Schlimmeres zu verhindern.

Im Moment indes passiert nichts, Politik und Sozialsysteme verschanzen sich hinter dem Virus als Schuldigem. Doch während niemand für die Pandemie verantwortlich gemacht werden kann, liegt unser Umgang damit vollends in der Domäne politischer Gestaltung. Es ist höchste Zeit, zu handeln.

 

Über die Studie

Der Pre-Print der Studie „Entwicklung und Treiber psychischer Krankheitsindikatoren in der Covid-19-Pandemie wurde am 5. Dezember auf www.researchgate.net veröffentlicht.

Das Datenanalyseunternehmen HASE & IGEL (u.A. Urheber der ersten systematischen Untersuchung der Wirksamkeit von Corona-Maßnahmen in Deutschland) und das Institut für Verhaltensökonomie (seit 2013 Kooperationspartner von Renten- und Versicherungsträgern im Bereich der psychischen Gesundheit) haben auf eigene Veranlassung und Rechnung untersucht, wie sich im Pandemiezeitraum die Zahl der Hilfesuchenden in den wichtigsten Bereichen psychischer Störungen entwickelt hat und welchen Einfluss darauf politische Corona-Maßnahmen und die mediale Kommunikation rund um die Pandemie hatten.

Wie viele Menschen mit welchen Symptomen nach Hilfe suchen, wurde ermittelt auf Basis der Entwicklung der 553 häufigsten Google-Suchanfragen, die Betroffene auf Websites und Profile von Ärzten, Therapeuten und Coaches führen. Das Suchverhalten als Indikator zu verwenden, hat sich gerade im Kontext der Pandemie international etabliert, da bei der Suche nach Gesundheitsinformationen und Behandlungsmöglichkeiten die Online-Recherche zum wichtigsten Vehikel geworden ist. 12.688.496 Suchanfragen vom 1.1.2019 bis zum 30.6.2021 wurden erhoben und mit Software von HASE & IGEL-KI-gestützten Trendanalysen unterzogen.

Der Einfluss politischer Maßnahmen wurde für das Jahr 2020 untersucht auf Basis einer aus einem vorherigen Forschungsprojekt zur Wirksamkeit der Corona-Bekämpfung vorhandenen, nach Bundesland und Kalenderwoche differenzierten Maßnahmendatenbank. Die Zusammenhänge wurden KI-gestützt in multivariaten Analysen mit Tools von HASE & IGEL ermittelt.

Der Einfluss der Kommunikation in Journalismus und Sozialen Medien wurde untersucht anhand aller öffentlichen digitalen Beiträge vom 1.1.2020 bis 30.6.2021, die entweder mindestens 100.000 Leser oder mindestens 100 Reaktionen (z.B. Kommentar, Zitat, Verlinkung) erzielt haben. Die 7.852.852 Beiträge wurden vom Medienanalyse-Unternehmen Talkwalker erhoben und bereitgestellt, inklusive der Zahl der Leser und Reaktionen sowie einer KI-gestützten Analyse der Emotionalität und Art der Emotionen im Text. Die Untersuchung der Zusammenhänge erfolgte in multivariaten Analysen mit Tools von HASE & IGEL, unterstützt von künstlicher Intelligenz.

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