Covid-Pandemie - Was fehlt, ist ein Diskurs über den Tod

Die Corona-Krise erfordert, sich mit den Themen Selbstbestimmung, Akzeptanz der eigenen Sterblichkeit, Generationengerechtigkeit und der Dominanz überalterter westlich-industrieller Gesellschaften auseinanderzusetzen. Das bedeutet auch, die Einseitigkeit in den Blick zu nehmen, mit der der Begriff Solidarität derzeit verwendet wird.

Viele sehr alte Menschen wollen gar nicht um jeden Preis geschützt werden / dpa
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Autoreninfo

Dr. med. Thilo Hashemi ist niedergelassener Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie und philosophischer Praktiker in Mettmann bei Düsseldorf.

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In der intensiv und vielfältig geführten Debatte der vergangenen zwei Jahre über die Gefährdung durch das Coronavirus und was zu unserer Sicherheit dagegen zu tun sei, fehlte bisher das Thema, das im Hintergrund aller Erregungen und Verordnungen womöglich der eigentlich treibende Faktor ist: die Verunsicherung der modernen Gesellschaft angesichts des Todes, der uns allen bevorsteht.

Kein Wunder. Denn seit die Botschaften, wonach der Tod nicht das letzte Wort behalte, die Mehrzahl der Menschen nicht mehr erreicht, ist der Tod zum Todfeind geworden, den es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt, dem aber letztlich und ausnahmslos am Ende der Sieg gehört. Eine Einsicht, zu der zu finden verständlicherweise unangenehm ist. Also beschäftigt man sich lieber damit, wie sich gegen ihn aufrüsten ließe. Ich denke jedoch: das ist falsch. Sehen wir uns an, was geschieht.

Dreh- und Angelpunkt aller Maßnahmen sowie der Impfkampagne, schließlich der diskutierten Impfpflicht, ist der Schutz vulnerabler Gruppen und insbesondere der Schutz von Pflegeheimbewohnern. Von Anfang an genoss dieser Schutz oberste Priorität, war 2020 die Grundlage der Lockdowns und ist nun, neben der fraglichen Intensivbettenknappheit (wohlgemerkt im Land mit der höchsten Intensivbettendichte Europas) die Grundlage für die Impfpflicht. Es heißt, die ganze restliche (und mehrheitliche) Gesellschaft müsse Solidarität üben, um diese Gruppen zu schützen, selbst wenn sie ein deutlich weniger bedrohliches, jedenfalls für Einschränkungen der Grundrechte nicht ausreichendes Risiko trägt.

Gericht bestätigt Recht auf selbstbestimmtes Sterben

Pikanterweise fällte zum anderen fast gleichzeitig mit dem Beginn der Krise der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts am 26. Februar 2020 eine bahnbrechende Entscheidung zum Thema selbstbestimmtes Sterben. Es wurde darin geurteilt, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht als Ausdruck persönlicher Autonomie auch das Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasst: „Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen.“ Und auch: „Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren“.

Im Weiteren gab das Bundesverfassungsgericht, um dieser Selbstbestimmung Raum zu verschaffen, den Weg zur geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung in Deutschland frei. Ein entsprechendes Gesetz muss noch vom Bundestag verabschiedet werden, und es gibt hierzu bereits Entwürfe. Die Entscheidung des obersten Gerichts dürfte unter normalen Umstanden eine breite Diskussion ausgelöst haben, was allerdings unterblieb. Wie ist das zu verstehen?

Zum einen hat die Corona-Krise natürlich auch dieses Thema, wie viele andere Themen, überlagert. Ist es aber nicht auch so, dass Politik und Medien wohlweislich dieses Thema nicht forciert haben, nicht forcieren konnten, weil es unter den gegebenen Umständen schlichtweg eine intellektuelle, ethische und emotionale Überforderung aller dargestellt hatte, gleichzeitig einerseits mit Hilfe von Wissenschaft, moderner Technik und Statistik verzweifelt um jeden einzelnen Überlebenstag vulnerabler Gruppen zu kämpfen, und andererseits möglicherweise genau hinsichtlich dieser Gruppen den Weg zum selbstbestimmten Tod zu diskutieren? Jedoch hat das Bundesverfassungsgericht ja nun mit dieser Entscheidung der Selbstbestimmung höchste Priorität zugesprochen.

Die Frage der individuellen Selbstbestimmung lässt sich aber nicht mehr durch Zahlenakrobatik klären. Hier wird man wohl oder übel auf den Einzelnen hören müssen. Aber was bekommen wir da zu hören? Als Arzt, der nicht nur seit 30 Jahren tätig ist und seit 22 Jahren als Neurologe, Psychiater und Psychotherapeut arbeitet, sondern darüber hinaus seit 18 Jahren regelmäßig 15 bis 18 Altenpflegewohnheime und -einrichtungen besucht, berichte ich daher von meinen Erfahrungen.

Mittlere Verweildauer beträgt etwa zwei Jahre

In den Altenpflegeheimen finden sich die verschiedensten neurologischen und psychiatrischen Störungen. Natürlich viele Demenzen, aber nicht nur. Jeder psychiatrisch tätige Kollege, der gewissenhaft vorgeht, klärt im Rahmen seiner Befunderhebung die Frage der Suizidalität. Hierdurch sind wir es, die regelhaft und unmittelbar Stellungnahmen der Bewohner zum Thema Tod bekommen. Ich fordere daher von Politik und Medien, auch einmal auf uns Praktiker zu hören und sich nicht ausschließlich von den Urteilen wissenschaftlich-theoretischer Experten leiten zu lassen, welche zwar unbestritten wissenschaftlich fundiert, jedoch oft lebens- und erfahrungsfern ausfallen.

Wie sieht die Population der Altenheimbewohner nun aus? Wir wissen, dass nur eine Minderheit der pflegebedürftigen Alten überhaupt in Altenpflegeheimen wohnt. Der größte Teil der Pflege im Alter findet im häuslichen Bereich statt. Das heißt, die Bewohner in den Altenpflegeheimen stellen sozusagen eine „negative“ Auswahl dar in der Hinsicht, dass es Menschen sind, die aufgrund ihrer körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen und/oder fehlender, pflegeunwilliger oder pflegeunfähiger Angehöriger nur noch dort versorgt werden können. Die mittlere durchschnittliche Verweildauer in Altenpflegeheimen beträgt in Deutschland je nach Erhebung etwa zwei Jahre. Das heißt, die Überlebenszeit, über die wir nun durch Impfungen oder Maßnahmen sprechen, bewegt sich maximal in dieser Dimension, oft sind es nur einige Monate.

Jeder Tod im Alter ist akzeptabel, nur nicht der durch Corona

Was teilen uns diese Menschen nun zum Thema Tod mit? Demente Menschen sind – zwar nicht am Beginn der Erkrankung, in den fortgeschrittenen Stadien (die wir ja in den Heimen antreffen) aber zumeist schon – nicht mehr in der Lage, hierüber Auskunft zu geben. Sie sterben in der Regel nicht an ihrer Demenz, sondern oft nach langem Siechtum an anderen im Verlauf auftretenden Krankheiten (Herzinfarkt, Pneumonie, Lungenembolie, Schlaganfall, schwerer grippaler Infekt etc.). Die Politik hat entschieden, dass der Coronatod in dieser Liste nicht auftauchen darf, obwohl dieser aufgrund seiner Pathophysiologie (Stichwort „Happy Hypoxaemia“) vergleichsweise schnell verläuft. Warum eigentlich?

Von nicht-dementen Menschen in einer solchen Situation bekommen wir schon fast regelhaft und bei über 90-Jährigen zu fast 100 Prozent die Auskunft: „Herr Doktor, ich möchte mich nicht umbringen, aber wenn der Tod kommt, dann ist es in Ordnung. Ich habe mein Leben gelebt. Ich habe niemanden mehr (Partner sind oft tot, Kinder auch schon häufig verstorben, andere Verwandte oder Bekannte ebenfalls), was soll ich hier noch? Ich hatte ein erfülltes Leben, aber jetzt ist es gut.“

Diese Auskunft geben schon körperlich noch relativ gesunde Menschen. Wenn starke körperliche Beeinträchtigungen bestehen oder Schmerzen, kommt umso häufiger die Stellungnahme: „Was habe ich noch vom Leben?“ Dem Geist dieser Erkenntnis entspricht auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Ich habe auch schon von hochbetagten geistig klaren Menschen, die sich nicht impfen lassen wollten, die ganz klare Auskunft bekommen: „Der Corona-Tod ist doch das Beste, was mir passieren kann.“

Auch ist es mir bei meinen Visiten tatsächlich schon passiert, dass in einem Zimmer ein Bewohner mit Demenz im Endstadium lag, durch Kontrakturen völlig verkrümmt und zu keiner geistigen Aktivität mehr fähig, dem alle Beteiligten ein baldiges Ende wünschten und gönnten (wohlgemerkt aber geimpft, um zwar alle Todesarten, aber bloß nicht den Coronatod zu sterben), und im benachbarten Zimmer ein geistig klarer Mensch mit noch relativ überschaubaren Beeinträchtigungen, der aber nach der „Pille“ fragte und nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil sogar auch darauf abhob und sagte: „Da hat sich doch was geändert, Herr Doktor, nicht wahr?“ In diesem Spannungsfeld bewegt sich die Realität an der Front. Ähnliche Einstellungen finden sich aber im Übrigen nicht nur bei Pflegeheimbewohnern, sondern auch bei weiterhin häuslich bestens wohnenden alten Menschen, mit denen wir es in unseren Praxen zu tun bekommen.

Wissenschaft und Technologie treten an die Stelle der Religion

Mein Impuls ist nun: Wäre angesichts all dessen der Politik nicht zu raten, das Thema Selbstbestimmung und Tod neu, und zwar mutig zu reflektieren? Kann es auch sein, dass bei der bisherigen Tabuisierung dieser Thematik zum Teil schlicht schlechtes Gewissen gegenüber diesen Menschen eine Rolle spielt, weil die Entscheidung getroffen wurde, Pflege in der letzten Lebensphase an Dritte zu delegieren und dies nun zu – sicher gutgemeinter – Überkompensation führt, welche zwar unser Gewissen besänftigt, jedoch im Endresultat gar nicht mehr den Einstellungen der Menschen entspricht, die es betrifft?

Bitte berücksichtigen Sie auch die Selbstbestimmung der Menschen, über die Sie zur Zeit entscheiden, und lassen Sie sich nicht von Ihren eigenen Vorurteilen, Annahmen, Denkblockaden, Ängsten und Tabus leiten. Denken Sie an Epiktet zurück: „Es sind nicht die Dinge, die uns beunruhigen, sondern die Meinungen, die wir von den Dingen haben.“

Verhältnis zu Leid und Tod neu bestimmen

Wie es aussieht, erleben wir nun den Kulminationspunkt der Aufklärung. Es ist deshalb notwendig, unser Verhältnis zum Thema Leid und Tod neu zu bestimmen. Wir haben es im Rahmen der Aufklärung abgelegt, bei Religionen Zuflucht zu suchen, die uns früher in ausweglosen Situationen Halt geboten haben. Dieses Rad lässt sich nicht mehr zurückdrehen, da hierfür unsere Welt anscheinend zu vernunftgeprägt geworden ist.

Jedoch erleben wir zurzeit, was passiert, wenn wir diesen Halt stattdessen in Wissenschaft und Technologie suchen. Zunehmender Fortschritt macht uns dies auch leicht und schmackhaft. Durch die Fortschritte der Medizin (Intensivmedizin, Onkologie, Fortschritte der vaskulären Medizin und möglicherweise bald auch die „Heilung“ der Alzheimer-Demenz durch Antikörper) können wir das Thema Leid und Tod zwar immer weiter verdrängen. Es besteht jedoch die Gefahr, dass die Black Box damit immer größer wird und am Ende frühere Generationen hier spirituell möglicherweise weiter waren, weil zur Akzeptanz gezwungen und dadurch besser darin geübt als unsereins – und auf diese Weise trotz aller technologischer Rückschrittlichkeit größere Gelassenheit hatten.

Es ist die Frage, ob die verzweifelte Suche nach Kontrolle und die fast schon größenwahnsinnige Annahme, dass absolute Kontrolle möglich ist, das Thema Akzeptanz für Leid, Schmerz und Tod komplett verdrängen soll. Der Preis dafür ist hoch und heißt ewige Unruhe und Getriebenheit, wie wir sie zurzeit erleben. Den Preis dafür zahlt vor allem die junge Generation.

Wer hat eigentlich Fürsorge für wen zu tragen?

Der Faden lässt sich noch weiterspinnen: In Anbetracht der demografischen Überalterung westlich-industrieller Gesellschaften stellt sich die Frage, ob es sich bei der Pandemie nicht eigentlich um eine Gerontopandemie und bei den Maßnahmen somit um „gerontokratische“ handelt?

Oder anders: Seit Beginn der Krise verzeichen wir erhebliche Lernausfälle und die stationärern kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlungen (darunter Fälle von Suizidalität) haben stark zugenommen, ebenso Spielsucht und Adipositas unter Kindern. Hinzu kommen überlastete Kinderkliniken durch Überflutung mit dem RS-Virus nach unnatürlicher viraler Abschottung im vergangenen Jahr. Aber denken Sie auch an deutlich jüngere Gesellschaften weniger entwickelter Länder, die ebenfalls weniger gefährdet sind. Dort hat zum Beispiel die Zahl der Hungertoten, circa 130 Millionen Menschen weltweit, maßnahmenbedingt zugenommen, sagt die WHO.

Es lässt sich also auch fragen: Was gibt uns das Recht, von unserer eigenen jungen, vom Coronavirus selbst nicht ernsthaft, sehr wohl aber von den Maßnahmen gravierend betroffenen Generation und von Gruppen, welche am Beginn oder mitten im Leben stehen, aufgrund unseres eigenen maßlosen Überlebenswillens und gleichzeitig abhandengekommener Akzeptanzstrategien genau die Akzeptanz einzufordern, über welche wir selbst nicht verfügen? Wer muss hier eigentlich Solidarität mit wem üben? Die, die ihr Leben vor, oder diejenigen, die es weitestgehend hinter sich haben?

Die bisherigen Ansätze stellen keine Lösung dar

Zu unseren traditionellen Werten gehörte es bisher, dass Erwachsene für Kinder sorgten und sich im Extremfall sogar für sie opferten. Wann wurde es schon einmal umgekehrt gehandhabt? Kam es in der Geschichte in irgendeiner Kultur schon einmal vor, dass wir Kinder, ohne dass für diese ein gravierendes natürliches Risiko bestand, einer medizinischen Prozedur aussetzten, mit der wir keine ausreichende Erfahrung hatten und die selbst erhebliche Nebenwirkungen aufweist?

Ich möchte nicht behaupten, für diese Fragen die Patentlösungen zu kennen, jedoch kann mit Sicherheit konstatiert werden, dass die bisherigen Ansätze nicht die Lösung darstellen. Diese Fragen müssen gestellt werden (dürfen). Ein offenerer und enttabuisierter Umgang wäre meines Erachtens schon hilfreich, weil er den Druck von den Verantwortlichen nähme. Ausgefeilte Statistik, Modelle und Rechnereien helfen da nicht weiter.

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