Coronavirus in Berlin - Das Zögern der Verantwortlichen kann tödlich enden

Statt den Empfehlungen der Experten zu folgen und harte Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus zu beschließen, schieben sich Regierender Bürgermeister, Senat und Behörden gegenseitig den Schwarzen Peter zu. Will man wirklich warten, bis es in der Stadt zu Todesfällen durch den Erreger kommt?

Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller, Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci: Viel zu zaghaft / dpa
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Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Corona wird allmählich persönlicher. Mittlerweile gibt es zwei Menschen in meinem Bekanntenkreis, die sich derzeit in Quarantäne befinden, in ein paar Stunden könnten es bereits noch mehr sein. Über die Gefahren, die die Ausbreitung des Virus mit sich bringt, kann sich kein einigermaßen vernünftiger Mensch mehr irgendwelche Illusionen machen.

Die Phase, in der umfangreiche Schutzmaßnahmen als „Hysterie“ abgetan werden konnten, sollte endgültig vorbei sein. Und die Zeit der absurden Berichte über angebliche Versorgungsengpässe bei Spaghetti und Klopapier und der schalen Witze über „Hamsterkäufe“ ebenfalls. Ernst nehmen sollte man dagegen die ständig aktualisierten, nüchternen Analysen des Robert-Koch-Instituts und die eindringlichen Warnungen von Experten vor der Gefahr eines kollabierenden Gesundheitssystems im Falle einer schnellen, exponentiellen Ausbreitung des Virus.

Ein nationaler Hotspot

Mittlerweile ist Berlin einer der nationalen Hotspots der Corona-Pandemie. Bis zum heutigen Mittag waren 118 Fälle offiziell bestätigt. Stündlich werden es mehr und man kann von einer erheblichen Dunkelziffer ausgehen. Es wäre also höchste Zeit für schnelle, durchgreifende und in sich schlüssige Maßnahmen zum bestmöglichen Schutz der Bevölkerung, was in diesem Fall auch bedeutet, Menschen vor sich selbst zu schützen.

Corona ist aber auch ein Paradebeispiel für die Unzulänglichkeiten des föderalen Systems, denn die Bundesregierung hat – anders als in Italien, Österreich und Frankreich - keine zentralen Durchgriffsrechte, etwa in Bezug auf das Verbot von Veranstaltungen und Versammlungen. Umso mehr wären der Berliner Senat und besonders der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) gefordert, schnell und unmissverständlich zu reagieren. Aber davon kann keine Rede sein. Stattdessen nimmt sich die Landespolitik seit Tagen Zeit für Schwarzer-Peter-Spiele und schiebt die Verantwortung hin und her: Der Regierende zu einzelnen Senatoren, die weiter zu den Bezirken, wo die Verwaltungsspitzen dann gerne auf die Kompetenzen der Amtsärzte verweisen – obwohl die schon seit Tagen eindeutige politische Entscheidungen über drastische Einschnitte in das öffentliche Leben einfordern, statt die Verantwortung an die einzelnen Gesundheitsämter zu delegieren.

Öffentliches Leben einstellen

„Wir sind längst über den Punkt hinaus, wo wir noch die Hände in den Schoß legen können. Wir glauben, dass abzuwarten im Moment tatsächlich Menschenleben kosten kann", sagt der Reinickendorfer Amtsarzt Patrick Larscheid. Er hoffe, dass die Verantwortlichen der Stadt Berlin „sich einen Ruck geben und das verstehen, was alle anderen um uns herum, was auch viele Menschen in der Stadt selber längst verstanden haben." Die einzige Chance sei es, das öffentliche Leben weitgehend einzustellen.  

Doch die Landesregierung belässt es bei der Salami-Taktik. Kultursenator Klaus Lederer (Die Linke) schließt die großen städtischen Bühnen und Konzerthallen, nicht aber deren kleinere Spielstätten. Außerdem lässt er die privaten Kultur-Anbieter und vor allem die von ihm protegierte Club-Szene, die wesentlich zur bisherigen Verbreitung des Virus in der Hauptstadt beigetragen hat, zunächst außen vor.

Tröpfchenweise geht es weiter

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Tröpfchenweise geht es weiter: Plötzlich wird die Obergrenze bei Kulturveranstaltungen nicht mehr bei 1000, sondern bei 500 Teilnehmern gezogen, bei Versammlungen aber weiterhin bei 1000. Alle weiter gehenden Restriktionen sollten doch bitteschön von den Amtsärzten verfügt werden, sagte Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD). Manchmal tun die das auch. Zwei prestigeträchtige Groß-Events, das MyFest und der Karneval der Kulturen, wurden in Kreuzberg-Friedrichshain abgesagt, obwohl sie erst Anfang beziehungsweise Ende Mai stattfinden sollten. Doch alle anderen Maßnahmen wurden vorerst nur bis zum 19. April terminiert, dem Ende der Osterferien. Auch die Verlängerung der Semesterferien an den Hochschulen um eine Woche (sic!) wirkt nicht sonderlich zielstrebig.

Natürlich kommen harte Einschnitte bis weit in die persönliche Lebensgestaltung in Teilen der Bevölkerung nicht sonderlich gut an. Es gibt ein diffuses Gefühl, dass immer mehr verboten, reglementiert oder gebrandmarkt wird: alte Diesel-PKW in Innenstädten, der Fleischkonsum, die Urlaubsreise und jetzt auch noch der Besuch von Fußballspielen und Konzerten. Befragte Club-Besucher wurden in den letzten Tagen von verschiedenen Medien mit Aussprüchen zitiert wie „Ich habe keine Angst vor Corona“, „Ich will mich nicht einschränken“ oder „Gerade jetzt braucht man doch ein bisschen Spaß“.

Viel zu zaghaft

Doch allmählich kann ich dem Virus auch etwas Positives abgewinnen. Es zwingt uns, die wir an schrankenlose Mobilität und Freizeitkultur gewöhnt sind, zur Entschleunigung. Die Einbrüche des Flugverkehrs, der Tourismusbranche, der Event- und Party-Industrie und auch des Messegeschäfts bedeuten für die vielen Beschäftigten in diesen Bereichen natürlich harte Einbußen, die auch kompensiert werden müssen. Aber der virale Keulenschlag als solcher eröffnet auch Chancen. Wir leben schließlich im Internetzeitalter. Pressekonferenzen, Meetings, Konferenzen aller Art und vieles andere mehr kann über virtuelle Vernetzung durchgeführt werden. Der globale Massentourismus ist kein Fortschritt, sondern in erster Linie eine Plage für die betroffenen Hotspots. Und der vermeintliche Anspruch auf permanente Massen- oder Elitenbespaßung gehört ohnehin gründlich auf den Prüfstand.

Die Klimakrise kann man für sich persönlich (noch) ausblenden, Corona nicht. Gut so! Doch zunächst geht es darum, die Verbreitung so gut wie möglich zu verlangsamen, auch um einen Kollaps der Gesundheitsversorgung zu verhindern. Dazu sind offenbar drastische Einschnitte in den gewohnten Alltag notwendig. Und in diesem Licht betrachtet, kommt mir das bisherige Agieren der Verantwortlichen noch viel zu zaghaft vor. Oder wollen die wirklich auf gehäufte Todesfälle warten, bevor sie entschlossen handeln?

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