Epidemiologe Scholz zum Corona-Lockdown - „Die Maßnahmen wurden in der ersten Welle stärker befolgt“

Warum funktioniert der Lockdown-Light nicht? Müssten Schulen und Geschäfte geschlossen werden? Wie kommt es zu vermeintlich unerklärlichen Hotspots? Die aktuelle Corona-Lage wirft viele Fragen auf. Epidemiologe Markus Scholz beantwortet sie im Interview.

Ein Piktogramm weist auf der Straße auf die Maskenpflicht hin / dpa
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Autoreninfo

Jakob Arnold hospitierte bei Cicero. Er ist freier Journalist und studiert an der Universität Erfurt Internationale Beziehungen und Wirtschaftswissenschaften. 

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Prof. Dr. Markus Scholz arbeitet an der Universität Leipzig am Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie.

Herr Scholz, wir haben seit über einem Monat Lockdown-Light. Warum will der nicht funktionieren? Oder ist meine Einschätzung falsch?
Der Lockdown hat insofern funktioniert, als dass er den überexponentiellen Trend, den wir davor gesehen haben, gestoppt hat. Aber Sie haben recht; er reicht nicht aus, um die Pandemie deutlich zurückzudrängen. Wir haben das auch erwartet, er war schließlich schwächer als der erste Lockdown. Nach unseren Modellen hätten wir einen ebenso starken Lockdown benötigt wie in der ersten Welle.

Es sind vor allem die offenen Geschäfte und Schulen, die diesen Lockdown vom letzten unterscheiden. Sind sie der Grund für die weiterhin hohen Zahlen?
Die Geschäfte spielen nach unserer Einschätzung keine große Rolle, wenn dort ein Hygienekonzept vorliegt. Restaurants spielen eine Rolle, aber die sind geschlossen. Bei den Schulen ist es schon anders. Durch die Schließung der Schulen haben wir im ersten Lockdown eine deutliche Senkung der Infektionszahlen gesehen. Hier muss man aber unterscheiden. Damals hatten die Schulen auch überhaupt kein Hygienekonzept.

Wie sieht es mit privaten Treffen aus?
Was wir sehen, ist, dass die Mobilität deutlich größer ist als im letzten Lockdown. Das heißt, die Leute treffen sich öfter als während des letzten Lockdowns. Die persönlichen Verzichte sind also deutlich geringer als bei der ersten Welle. Es sind also nicht nur die Schulen oder Geschäfte; offenbar ist generell die Maßnahmeneinhaltung geringer.

Aber heißt es nicht, dass die Deutschen in der Gesamtheit die Regeln so gut einhalten?
Ja, aber gemittelt über ganz Deutschland gibt es mehr Treffen als beim ersten Lockdown. Der übrigens auch nur ein Lockdown-Light war. Wir hatten nie Ausgangssperren wie andere Länder. Wir haben eher den schwedischen Weg gewählt, auch wenn das viele nicht so sehen.

Und werden wir den Weg auch so weiter gehen?
Bei den Schulen ist jetzt im Unterschied zur ersten Welle zu sehen, dass die Generation der Kinder deutlich stärker betroffen ist. In der Gruppe der 0- bis 15-Jährigen sind die Inzidenzen fast 15 Mal so hoch wie in der ersten Welle. In anderen Gruppen ist dieser Faktor nicht so stark. Es gibt verstärkte Kind-zu-Kind-Ansteckungen. Schulen muss man also schon im Blick behalten. Das gilt auch für die Grundschulen, hier gibt es auch Ausbrüche. Es ist nicht so, dass sich kleine Kinder nicht anstecken können, wie teilweise behauptet wird. Bei hohen Inzidenzen muss man da die Maßnahmen verschärfen.

Klingt bei den Schulen auch mit Hygienekonzepten nicht beruhigend.
Wir müssen uns das ganze Umfeld um die Schulen anschauen. Zum Beispiel das Hortpersonal müsste genauso behandelt werden wie das Lehrpersonal. Die müssten genauso getestet werden, weil sie genauso Kontakt mit den Schülern haben. Und wenn die Zahlen immer weiter steigen, ist die Konsequenz wie in Sachsen. Hier werden Schulen jetzt geschlossen. Wenn die Kontrolle verloren geht, steigt es immer weiter an, weil Bremsmechanismen versagen.

Welche Bremsmechanismen?
In Sachsen war es beispielsweise so, dass selbst Hochrisikokontakte teilweise nicht mehr verfolgt werden konnten. Kontaktverfolgung ist jedoch ein wichtiger Faktor. Und die muss vor allem zeitnah passieren. Es nützt nichts, wenn man die Meldung erst Wochen später bekommt. Dann hat man schon die nächsten angesteckt.

Die Gesundheitsämter sind beim Kontaktieren überfordert?
Richtig. Und wenn die einmal überfordert sind, verliert man zum Beispiel in den Schulklassen die Kontrolle und irgendwann hilft nur noch ein harter Lockdown wie jetzt in Sachsen. Wenn die Inzidenzen in anderen Bundesländern nicht so hoch sind, braucht man auch nicht so harte Maßnahmen.

Markus Scholz / privat

Bleiben wir in Sachsen. Das Robert-Koch-Institut meldet hier Hotspots wie den Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge. Ich war schon in der Gegend und nach meiner Erfahrung stapeln sich die Menschen dort nicht. Wie kommt es zu solchen Hotspots?
Für Sachsen gibt es mehrere Faktoren. Einer sind die Nachbarländer Tschechien und Polen, die deutlich höhere Inzidenzwerte haben, als es Deutschland je hatte. Dort ist relativ viel Austausch durch Einkaufen und die Arbeit. Ein nächster Punkt ist die Altersstruktur. In diesen Kreisen ist das Durchschnittsalter deutlich höher und ältere Menschen stecken sich untereinander stärker an als Jüngere. Inzwischen sind in Sachsen alle Altersgruppen deutlich häufiger betroffen, aber vor allem in der Gruppe 80-plus gab es diese Steigerung zuerst. Eine weitere Sache – die aber etwas spekulativ ist – ist, dass die erste Welle in Sachsen fast nicht stattfand. Bei niedrigem Inzidenzgeschehen kann man die Maßnahmen auch relativ lax umsetzen und es passiert nichts. So könnte sich durchgesetzt haben, dass eine weniger strenge Regelbefolgung auch ausreicht. Das fällt uns jetzt auf die Füße.

Die Sachsen sind in Sachen Corona nicht geübt?
Ja, es könnte ein Aspekt sein. Aber das ist natürlich spekulativ. Es ist in ganz Mitteldeutschland so, dass in den Ländern, in denen die erste Welle fast nicht stattgefunden hat, die Zahlen jetzt rasant steigen. Ein Aspekt könnte auch noch sein, dass die Menschen in den eher ländlichen Gebieten mehr soziale Kontakte haben. Damit einher geht auch die Haushaltsgröße. In Innenstädten gibt es viel mehr Singlehaushalte. Aber diese Effekte sind noch nicht so ganz klar.

Ländliche Regionen gibt es ja auch in anderen Teilen Deutschlands.
Das hat man sogar in den USA gesehen; dass Corona auch auf dem Land wüten kann. Es muss also in einer Großstadt nicht schlimmer sein als auf dem Land.

Boris Palmer schützt in Tübingen vor allem die alten Menschen, die sogenannten vulnerablen Gruppen. Die weniger Gefährdeten haben mehr Freiheiten. Hat er die bessere Strategie als der Rest Deutschlands?
Die vulnerablen Gruppen zu schützen, ist richtig. Aber das versuchen alle. Dauerhaft geht das aber nicht. Erstmal ist nicht klar definiert, was genau die vulnerablen Gruppen sind. Das sind teilweise auch Berufstätige, die man nicht komplett isolieren kann. Und wenn die Inzidenzwerte rund herum immer stärker werden, muss der Schutz der Vulnerablen immer mehr intensiviert werden. Das ist das Problem.

Warum?
Das hat man auch hier in Sachsen versucht, aber es ist nicht gelungen, das Virus dauerhaft aus den Pflegeeinrichtungen herauszuhalten. Wenn drumherum immer mehr Menschen infiziert sind, wird das irgendwann in die vulnerablen Gruppen hineingetragen. Man müsste die Gruppen komplett isolieren, aber das funktioniert nach meinem Dafürhalten gesellschaftlich nicht. Man muss den Schutz aber natürlich versuchen. Die Besucher und das Personal müssen regelmäßig getestet werden, da diese Gruppen Kontakt mit anderen Personen haben.

Was ist Ihr Ausblick für die Weihnachtszeit?
Da muss man dringend zu Treffen in kleinen Gruppen appellieren. Dass die Schulen eher den Präsenzunterricht verlassen, ist eine sinnvolle Maßnahme. Aber jeder sollte sich der Risiken des Weihnachtsfestes bewusst sein. Die Gefahr, dass sich das Infektionsgeschehen anheizt, ist durchaus da.

Denken Sie, die Appelle werden erhört oder werden wir ab Januar fast schon gezwungenermaßen in einen harten Lockdown gehen müssen?
Das kann man nicht ausschließen. Das kann man auch alles nicht kontrollieren, in welchen Größen gefeiert wird. Wenn die Zahlen aber steigen, wird es bundesweit einen Lockdown geben, sonst sind die Intensivstationen überlastet. Ich glaube, dass einige noch nicht verstanden haben, wie ernst die Situation ist.

Auch trotz des Impfstoffes?
Durch Impfungen wird die Pandemie perspektivisch sicherlich zurückgedrängt. Man kann aber nicht gleich alle durchimpfen. Karl Lauterbach hat zum Beispiel gesagt, dass in den ersten drei Monaten mit den Impfdosen nur drei bis vier Prozent der Bevölkerung geimpft werden können. Wenn damit aber die Gruppen geimpft werden, die besonders zum Infektionsgeschehen beitragen oder besonders gefährdet sind, kann das schon einen gewissen Effekt haben. Ich erwarte auch durch das Frühjahr ab April eine Entspannung, wenn Aktivitäten ins Freie verlagert werden. Zusammen mit den Impfungen könnten dann die Haupteinschränkungen wegfallen. 

Die Fragen stellte Jakob Arnold.

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