Corona-Krise - Die liberale Demokratie zwischen Pest und Cholera

Die Corona-Pandemie stellt nicht nur den Zusammenhalt der Gesellschaft und die Wirtschaft auf die Probe, sondern auch die Demokratie. In Zeiten der Krise ist sie gleichermaßen gefordert wie gefährdet.

Macht das Virus auch unsere Staatsform krank? / picture alliance
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Autoreninfo

Markus Karp ist an der Technischen Hochschule Wildau Professor für Public Management und Staatssekretär a.D.

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Seitdem die Volkssouveränität in Gestalt der modernen repräsentativen Massendemokratie wieder die Weltbühne betreten hat, musste sie zahlreiche Krisen bewältigen, die ihr das Leben abzuschnüren drohten: Von außen wurde sie bedroht durch zunächst royalistische, später totalitäre Kräfte.

Heute steht sie in einem existenziellen Systemwettbewerb mit autoritären und illiberalen Ländern, die vielfach eine durchaus beachtliche Erfolgsbilanz vorweisen können. Auch von innen ist Demokratien oft der Garaus gemacht worden: Putsche, Staatsstreiche, häufig hat auch der wählende Souverän selbst für ein schleichendes oder sogar abruptes Ende gesorgt, indem er Antidemokraten gewähren ließ und mit Macht ausstattete.

Der Glaube an Demokratie

In der Geschichte hat sich das berühmte Diktum des Staatsrechtlers Böckenförde, das gar nicht zu Tode zitiert werden kann, weil es so richtig ist, des Öfteren bewahrheitet: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“

Nie werden diese Voraussetzungen mehr auf die Probe gestellt als in der Zeit einer Krise, von deren Bewältigung die Fortexistenz des Staats abhängt. Glauben die Individuen, aus denen der Souverän sich zusammensetzt, mehrheitlich an die Abwehrkräfte der Demokratie oder macht sich das Gefühl breit, mit diesem System sei kein Staat mehr zu machen?

Eine resistente Staatsform

In der Geschichte haben viele, viele einzelne Demokratien diesen Test nicht bestanden, die Idee aber hat sich als resistent erwiesen und seit dem späten 18. Jahrhundert allem getrotzt, obwohl sie oft in der Defensive war. Es stellt sich die Frage, ob das in der gegenwärtigen Situation wieder gelingt.

Seitdem das Coronavirus die gesamte westliche Welt im Griff und in weiten Teilen zum Erliegen gebracht hat, ist gewöhnlicher Politikbetrieb unmöglich geworden. Und bereits die letzten Jahre waren in vielen demokratischen Ländern reichlich turbulent: Der bräsigen Selbstgefälligkeit der etablierten Politik infolge des gefühlten „Endes der Geschichte“ nach dem Epochenjahr 1989 ist der Aufstieg des Populismus gefolgt.

Beispiellose Einschränkungen von Grundrechten 

Und alles oft genug berechtigte Verurteilen desselben kann nicht verdecken, dass eine der Ursachen dieses Aufstieges die mangelnde Lösungskompetenz der etablierten Politik für die Herausforderungen von Globalisierung und Digitalisierung war und ist. Es ist also nicht so, dass sich mit der Pandemie eine Wolke am blauen Himmel der westlichen Demokratie zeigt, sondern dass die steifen Böen, die bereits an ihr zausten, sich zum Sturm ausgewachsen haben.

Als Covid-19 aufkam, war nahezu überall im Westen dieselbe Reaktion zu beobachten: Kleinreden, Abwiegeln, im äußerst unwahrscheinlichen Fall der Fälle sei alles vorbereitet. Jetzt, wo die Krankheit mit Wucht über die Gesundheitssysteme hereinbricht, hat eine Kaskade ständig verschärfter Maßnahmen eingesetzt, die mit besserer Prävention vielleicht hätte vermieden werden können. Die vorgenommenen Grundrechtseinschränkungen sind für demokratische Staaten in Friedenszeiten beispiellos.

Die Zukunft zeigt, wer richtig gehandelt hat

Der österreichische Bundeskanzler Kurz war in der westlichen Welt die Avantgarde bei der Ergreifung präzedenzloser Maßnahmen. Mit entschlossenem und vergleichsweise früh außerordentlich strengem Handeln zur Eindämmung von Infektionen hat er sich klar positioniert: Sein Ansatz war von Anfang an ein anderer als der jener Politiker, die für ein maßvolleres Vorgehen eintraten, sei es wegen Zweifeln an der epidemiologischen Notwendigkeit der Maßnahmen, aus Sorge um deren wirtschaftliche Folgen oder wegen Vorbehalten ob der harten Einschnitte in die Freiheitsrechte.

Antworten darauf, wer richtig gelegen hat, wird erst die Zukunft geben. Kurz zumindest scheint sich über die Implikationen seiner Politik im Klaren zu sein: Im Interview mit der Kronenzeitung sagte er, die Welt werde nach der Corona-Krise anders aussehen. Sie habe große Auswirkungen auf die Art wie wir leben, aber auch die Globalisierung werde in vielen Bereichen hinterfragt werden. In Europa sähe man, dass die Solidarität nicht funktioniere, wenn es ernst werde.

Dem ökonomischen Niedergang könnte ein politisches Desaster folgen

Damit erweist sich einer der Treiber der derzeit repressiven Politik als überaus hellsichtig. Denn es muss sich erst erweisen, ob die wehrhafte Demokratie aus dem Ausnahmezustand gut wieder herausfindet. Es wird dann zunächst um handfeste materielle Fragen gehen. Der Stillstand könnte zum stärksten wirtschaftlichen Einbruch seit der Großen Depression führen.

Eine wichtige Lehre von damals ist, dass sich diese Probleme weder mit einer Politik der schwarzen Null noch mit der Notenpresse lösen lassen, sondern mit unorthodoxen keynesianischen Mitteln der Schock abgefedert werden muss, soll nicht dem ökonomischen Niedergang ein politisches Desaster folgen.

Fragen an das Grund- und Bürgerrecht

Auch in Grundrechts- und Bürgerrechtsfragen wird es eine Abwägung geben müssen. Ist der Datenschutz so wichtig, dass er es rechtfertigt, Gesunde, geheilte Immunisierte und Infizierte gleichermaßen in ihr Heim zu verbannen? Oder wäre es nicht zielführender, dafür zu sorgen, dass die Wirtschaftsleistung, auf welcher Wohlstand, aber auch Sozialstaat und Gesundheitssystem fußen, durch Abstriche beim Datenschutz dennoch weiter erbracht werden und dass ein Großteil der Bürger weiterhin die Freizügigkeit, Versammlungs- und Berufsfreiheit in Anspruch nehmen kann?

Muss Datenschutz zwingend wie derzeit bedeuten, dass auch in der Not auf technische Instrumente verzichtet wird oder wäre es nicht sinnvoller, rechtlich sicherzustellen, dass sie nur in Notzeiten und -fällen angewandt werden? Dies ist auch keine abstrakte Diskussion, selbst wenn sie für jetzt zu spät kommt: Wie ein Blick nach Asien zeigt, sind auch im 21. Jahrhundert Epidemien kein singuläres Ereignis, sondern drohen selbst in einer hochtechnisierten Welt regelmäßig.

Der Stresstest für die Demokratie

Auch kann niemand sagen, wann ein Impfstoff bereitsteht. Bis es soweit ist, kann das Coronavirus nicht beseitigt, sondern bestenfalls in Schach gehalten werden. Sollte dieser Zustand über Jahre andauern, was nicht ausgeschlossen ist, bedeutet dies den ultimativen Stresstest der Demokratie, die sich zur Eindämmung nicht der Methoden aus dem Arsenal des autoritären Staates bedienen darf – will sie nicht ein solcher werden.

Die Verfassungen und Grundrechtskataloge müssen dafür gewappnet sein. Auch wenn die Seuche nicht das Ende der Globalisierung bedeutet, erweist sich doch, dass sichergestellt sein muss, dass in der Krise lebenswichtige und grundlegende Güter auch vor Ort gefertigt werden können müssen.

Die EU als Spielball und Scheinriese

Dass es schon länger an Medikamenten mangelt und simpelste Schutzartikel Bückware werden, ist ein Armutszeugnis. Auch der transkontinentale Personenverkehr muss im Zweifelsfall schneller angehalten werden können. Diese Erkenntnis sollte aber hierzulande nicht zum Nationalismus verführen: Dafür sind die Nationen des Kontinents zu klein.

Wenn der Rest der Welt sieht, dass sich die EU-Mitglieder wechselseitig mit Exportstopps überziehen, einander Lieferungen durch Beschlagnahme vorenthalten und jegliche koordinierte Kooperation fahren lassen, ist es nicht verwunderlich, dass die EU auf der Weltbühne ein Spielball und Scheinriese ist. Das muss sich ändern.

Gemeinsames Krisenmanagement

Mit geteilten Kapazitäten, gemeinsamen Reaktionsmechanismen und gegenseitiger Unterstützung. Die Behandlung von Patienten aus überforderten Regionen in (noch) ungenutzten Intensivbetten andernorts ist hier ein erster, lange überfälliger, Schritt. Aber auch die Union selbst muss sich überlegen, weshalb sie bislang nicht einmal durch Vorschläge eines europäischen Krisenmanagements aufgefallen ist.

Indes darf auch nicht vergessen werden, dass die liberale Demokratie bei der Bekämpfung der Epidemie nicht nur daran scheitern kann, dass sie aus Katastrophenopportunismus ihre Werte über Bord wirft. Wenn ihre wertvollsten Güter, die Freiheitsrechte und der Individualismus, zum Kontrollverlust führen, weil nötige Maßnahmen, die autoritäre Herrscher mit einem Federstrich dekretieren, nicht durchgesetzt werden können, sind diese Werte zwangsläufig diskreditiert.

Es besteht Handlungszwang

Ihre Feinde würden künftig immer hämisch auf das resultierende Chaos und Sterben verweisen können. Die politisch Verantwortlichen haben also die Wahl zwischen Pest und Cholera. Sie dürfen sich weder in Potentaten noch in Schwächlinge verwandeln. So wird das Coronavirus zum Katalysator entweder des Zerfalls der liberalen Demokratie oder erzwingt ihre ganzheitliche Reform.

Fakt ist aber: Wenn die westlichen Demokratien sich als unfähig erweisen, die Sache in den Griff zu bekommen, nimmt das demokratische Modell im Systemwettbewerb erheblichen Schaden. Ein liberales Land mit kollabierter Gesundheitsversorgung und siechender Wirtschaft wird ebenso wenig die Strahlkraft der Demokratie mehren wie eine virusfreie Demokratur mit deformierten Grundrechten und Kommandowirtschaft, wenn auf der anderen Seite ungeschminkt autoritäre Systeme die Seuche rascher und zu geringeren Kosten bewältigt haben.

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