Corona und die Zahlen - Die Pandemie der Wissenslücken

Je länger die Corona-Krise anhält, desto mehr tappen wir im Dunkeln. Fast zwei Jahre nach Beginn der Pandemie fehlen immer noch wichtige Zahlen und Daten - etwa zur Intensivbettenbelegung, zur Impfquote, zu Inzidenzen und zu Wirksamkeit und Nebenwirkungen der Impfstoffe.

Pflegekraft in einer Klinik: Zu Beginn der Pandemie wurde ihre Station in eine Covid-Station umgewandelt. / Patrick Junker
Anzeige

Autoreninfo

Cornelia Stolze ist Wissenschaftsjournalistin in Hamburg. Philipp Fess ist Journalist in Karlsruhe. Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero.

So erreichen Sie Cornelia Stolze, Philipp Fess, Ralf Hanselle:

Anzeige

Die Zahlen klingen furchteinflößend, drastische Maßnahmen scheinen unumgänglich: Nach Angaben der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) hat sich die Zahl der Covid-19-Patienten auf deutschen Intensivstationen seit September mehr als vervierfacht. Die vom Robert-Koch-Institut (RKI) gemeldeten Inzidenzen erreichen neue Höchststände. Vielerorts gebe es über mehrere Landkreise hinweg keine freien Intensivbehandlungsplätze mehr, berichtet die DKG. Eine solche Belastungssituation habe es im deutschen Gesundheitswesen nach Ende des Zweiten Weltkriegs „noch nie gegeben“. 

Die Ursache der Misere ist für viele Politiker und Mediziner ausgemacht: die große Zahl von Ungeimpften. Jenen uneinsichtigen Bürgern also, die sich trotz monatelangen guten Zuredens noch immer dem Angebot einer kostenlosen Impfung gegen Covid-19 entziehen. Sie machen nach Angaben des Robert-Koch-Instituts rund 30 Prozent der Bevölkerung aus. Für die DKG steht fest: „Es ist ganz eindeutig diese Gruppe, die das Gesundheitswesen unter Druck setzt.“ 

Impfpflicht ins Blaue

Kein Wunder, könnte man meinen. Schon im September teilte der DKG-Vorstandsvorsitzende Gerald Gaß mit, dass „mehr als 90 Prozent der Intensivpatienten mit Covid-19 ungeimpft sind“. Es zeige sich überdeutlich, dass nur eine Impfung die Pandemie beenden und das Gesundheitswesen sicher vor Überlastung schützen kann. Der logische Schluss für ihn ist: Einen Durchbruch in der Pandemiebekämpfung gibt es nur mit härteren Maßnahmen und einer Impfpflicht, wenigstens für all diejenigen, die im medizinischen oder pflegerischen Bereich tätig sind

Unklar ist indes, woher der DKG-Chef sein Wissen nimmt. Denn brauchbare, belastbare Fakten für derlei Aussagen gibt es nicht. Epidemiologen und Statistiker beklagen inzwischen ein Datenchaos, aufgrund dessen ein professionelles Pandemie-Management gar nicht möglich ist. Es fehlt an grundlegenden Informationen. Zur Verbreitung des Virus. Zur Impfquote. Zur Zahl der Genesenen. Zur Frage, wie gut die Impfung vor Ansteckung, Übertragung und einem schweren Verlauf von Covid-19 schützt.

Die Folgen sind fatal. Noch immer haben Mediziner und Politiker die Pandemie nicht im Griff. Immer schärfere Maßnahmen – überwiegend gegen Ungeimpfte – sollen der Krise Einhalt gebieten. Doch diese treiben vor allem die Spaltung der Gesellschaft voran. Zahlreiche Politiker haben inzwischen in der Diskussion um die Impfpflicht ihr Wort gebrochen. Manch einer von ihnen versprach noch vor wenigen Wochen, dass diese mit ihr oder ihm niemals machbar sei. Jetzt soll die Impfpflicht unter der neuen Regierung von Kanzler Olaf ­Scholz so schnell wie möglich umgesetzt werden. Fest steht schon jetzt, dass sich der Gesetzgeber dabei auf dünnes Eis begibt, juristisch ebenso wie wissenschaftlich.

Fehlender Fremdschutz

Dabei war auch zuvor bereits offensichtlich: Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik haben die Regierenden so massiv in die Grundrechte eingegriffen. Solche Eingriffe sind aber nur zulässig, wenn sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen. So muss jeder staatliche Eingriff in ein Grundrecht einem legitimen Zweck dienen. Zudem müssen die Eingriffe geeignet sein, diesen Zweck überhaupt zu erreichen. Drittens müssen sie das mildeste Mittel darstellen und viertens im engeren Sinne verhältnismäßig sein. 

Ob all das auf eine Impfpflicht zutrifft, ist mehr als zweifelhaft. Denn längst hat sich herausgestellt, dass auch Geimpfte Überträger von Sars-CoV-2 sind. Zwar hatten Hersteller wie Biontech und Pfizer bei ihren Zulassungsstudien noch angegeben, dass ihr Impfstoff eine Ansteckung und damit auch eine Weitergabe von Viren an andere Menschen verhindert. Aber das war ein Trugschluss, wie man heute weiß. Genauso wie die Aussage, dass die Impfung mit zweimal Piksen im Abstand von mehreren Wochen „vollständig“ sei. 

Die Frage aber, ob mit der Impfung nur der Eigenschutz – also der Schutz vor einer schweren Erkrankung – oder auch der Fremdschutz – dass man andere nicht mehr anstecken kann – gewährleistet ist, macht einen maßgeblichen Unterschied: Ohne Fremdschutz nämlich fehlt für die Impfpflicht vermutlich das entscheidende juristische Argument. 

Eine Sechs für Jens Spahn

Schon die heute geltenden Maßnahmen stehen wissenschaftlich und logisch auf tönernen Füßen. Warum zum Beispiel brauchen Ungeimpfte für Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder der Deutschen Bahn, in denen 3G gilt, einen Test – und Geimpfte nicht? Schließlich kann heute niemand wissen, ob ein ungetesteter Geimpfter ungefährlicher ist als ein getesteter Ungeimpfter. Und was rechtfertigt es, Ungeimpften durch die 2G-Pflicht für Restaurants, Fitnessstudios und Cafés den Zugang zu Sportangeboten und Gastronomie zu verwehren – nicht einmal das Robert-Koch-Institut weiß, wie hoch die Inzidenzen unter Geimpften auf der einen und unter Ungeimpften auf der anderen Seite sind. 

„Eigentlich müsste man dem ehemaligen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn für seine Arbeit in der Corona-­Krise ein Zeugnis ausstellen“, sagt Ulrike Haug, Professorin für Klinische Epidemiologie am Leibniz-Institut für Präventionsforschung BIPS in Bremen. Für sie ist klar, dass da keine guten Noten draufstünden. „Beim Thema Datenerfassung in Sachen Corona bekäme er von mir eine glatte Sechs.“ 

Die Pharmazeutin führt seit Jahren Studien zur Bewertung der Sicherheit von neu zugelassenen Medikamenten durch und weiß: Um die Sicherheit und Wirksamkeit neuer Arzneimittel wie den Impfstoffen von Biontech und Pfizer, Astrazeneca, Moderna und Johnson&Johnson nach der Marktzulassung solide bewerten zu können, braucht es eine unabhängige Datenbasis. Diese liegt in Deutschland bereits vor, nämlich die bei den gesetzlichen Krankenkassen vorhandenen Routinedaten. 

Taube Ohren im Ministerium

Doch als das Bundesgesundheitsministerium (BMG) im Oktober 2020 ein erstes Konzept für die nationale Impfstrategie veröffentlichte, stellte Haug fest, dass ein zentraler Aspekt dabei fehlte. Dadurch, dass Spahn mit den Impfzentren nicht die üblichen Strukturen nutzen wollte, würden die Informationen zu den Impfungen auch nicht wie üblich in die Abrechnungsdaten der Krankenversicherungen fließen. Damit wäre es später nicht möglich, aussagekräftige Studien zur Sicherheit der neuartigen Impfstoffe durchzuführen. Und das, obwohl dies gerade in der ersten Phase, in der besonders vulnerable Personen wie Alte und Schwerkranke geimpft werden sollten, wichtig gewesen wäre. 

Schon früh startete Haug deshalb mit der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie (DG Epi) einen entsprechenden Appell an das Bundesgesundheitsministerium, das RKI und das Paul-Ehrlich-Institut (PEI). Doch mit ihren Forderungen stießen sie und ihre Kollegen auf taube Ohren. Es habe zwar eine Besprechung des BMG mit der DG Epi gegeben. Auch das RKI und das PEI seien einbezogen gewesen. Vonseiten des Ministeriums habe man ihr auch versichert, dass man schon alles, was die DG Epi vorgeschlagen hatte, „mitgedacht hat“. Tatsächlich aber sei klar gewesen, so Haug, dass die nötige Datenerhebung so, wie sie vom BMG vorgesehen war, nicht funktionieren kann. Das zu ändern, wäre nicht nur einfach gewesen, sagt die Wissenschaftlerin. „Es hätte auch unglaubliche Möglichkeiten für das Pandemie-Management eröffnet.“ 

Unwiederbringlicher Datenverlust

Und trotzdem passierte am Ende nichts. Das Konzept des BMG für die nationale Impfstrategie wurde unverändert umgesetzt. Jetzt, ein Jahr später, sei der Zug für brauchbare Daten abgefahren. Wertvolle Informationen seien mangels Datenerfassung unwiederbringlich verloren: Informationen zu Impfquoten und der Häufigkeit von Impfdurchbrüchen; Daten zur Sicherheit und Wirksamkeit der Impfstoffe. Also Fakten, mit deren Hilfe man heute gut aufklären könnte, wo Impflücken sind, wie oft es bei welchen Patienten zu Impfdurchbrüchen kommt. Informationen darüber, wer geboostert werden muss und wo man am besten Impfaktionen macht.

Sie habe durchaus Verständnis, so Haug, dass es in den ersten Wochen und Monaten der Pandemie in vielen Ämtern, Behörden und Ministerien drunter und drüber ging. Beim Start der Impfungen Ende 2020 aber wäre es ein Leichtes gewesen, folgenreiche Datenlücken zu verhindern. Warum das BMG darauf nicht einging und auch der Chef des RKI, Lothar Wieler, keinen Einsatz zeigte, wisse sie nicht. Schließlich ist es erklärtes Ziel der obersten Gesundheitsbehörde, hochwertige Daten bereitzustellen, um die Bevölkerung vor Krankheiten zu schützen. „Wieler hätte auf den Putz hauen können“, sagt Haug. Das hätte schon etwas genützt. 

Doch Wielers Unterlassungen erinnern an die früheste Phase der Pandemie. Damals hatte das RKI empfohlen, bei Verstorbenen, die sich zuvor mit Sars-CoV-2 infiziert hatten, möglichst ganz auf Obduktionen zu verzichten. Die offizielle Begründung lautete „Arbeitsschutz“. Es gehe darum, die Gefahr der Verbreitung des Virus zu verringern. Führende Pathologen waren empört. Gerade jetzt, teilten die Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Pathologie und des Bundesverbands Deutscher Pathologen dem RKI-Präsidenten Lothar Wieler mit, sollten Obduktionen „nicht vermieden, sondern im Gegenteil so oft wie möglich durchgeführt werden“. Ziel der Untersuchungen war es ja, wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse zur Pandemie zu gewinnen. 

Zahlenflaute bei Marx und Wieler

Auch heute, fast zwei Jahre danach, hapert es noch bei einfachsten medizinischen Informationen. Wochenlang geisterte die Zahl von den 90 Prozent Ungeimpften auf den Intensivstationen durchs Land. Dann offenbarte eine öffentliche Anhörung des Deutschen Bundestags zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes Mitte November, dass es für die Zahl keine wissenschaftliche Basis gibt. Einer der dort befragten Experten war der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), Gernot Marx. Tags zuvor hat auch er in einem Interview vor der sich verschlimmernden Situation in den Kliniken gewarnt. Allein in der Woche davor wurden seinem Verband zufolge 1662 neue Patienten mit Covid-19 auf den Intensivstationen deutscher Krankenhäuser aufgenommen. Auch Marx behauptet gegenüber dem Journalisten, dass die vielen Patienten mit Covid-19 auf der Intensivstation zu diesem Zeitpunkt „in der Mehrzahl wirklich ungeimpft sind“. 

Der bayerische AfD-Abgeordnete Martin Sichert will daraufhin in der Anhörung vom Divi-Chef wissen: Wie viele dieser 1662 Patienten waren denn geimpft und wie viele ungeimpft? Wie ein Videomitschnitt der Anhörung belegt, reagiert der Medizinprofessor sichtlich verlegen. Die Frage sei richtig und wichtig, antwortet Marx auf die Frage von Sichert. Doch leider könne er diese nicht beantworten. Denn: „Bisher haben wir noch nicht erfasst, welche Patienten auf der Intensivstation geimpft und nicht geimpft sind.“

Ähnlich erging es dem RKI-Chef Lothar Wieler. Im Oktober musste er öffentlich zugeben, dass sein Institut die Zahl der Geimpften lange Zeit zu niedrig angegeben hat. Nicht zuletzt deshalb, weil das RKI die Daten gar nicht kennt. Die Impfquote, so zeigt sich, wird nicht systematisch erhoben, sondern zum Teil nur geschätzt.

Anfang Dezember gerät auch das bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) in die Kritik. Wie Recherchen der Welt zeigen, gibt es ein Problem mit der Daten­erhebung der Inzidenz. Zahlreiche Menschen werden vom LGL als ungeimpft eingestuft, deren Impfstatus unbekannt ist. Beispiel 24. November 2021: Laut offiziellen Angaben sind von den 81.782 gemeldeten Corona-Fällen 9641 vollständig geimpft, 14.652 dagegen ungeimpft. Bei weiteren 57.489 Menschen ist der Impfstatus unbekannt. Sie werden aber als „ungeimpft“ in die Statistik aufgenommen. 

Es wäre vermeidbar gewesen

Das ganze Zahlenwirrwarr, konstatiert Katharina Schüller, hätte sich durchaus vermeiden lassen. Die Statistikerin ist Expertin für Data Analytics und Mitglied im Vorstand der Deutschen Statistischen Gesellschaft. Gemeinsam mit dem Berliner Psychologen Gerd Gigerenzer, dem Dortmunder Statistiker Walter Krämer und dem Vizepräsidenten des Leibnitz-Instituts für Wirtschaftsforschung Thomas K. Bauer betreibt sie ein Projekt, das sich „Unstatistik des Monats“ nennt. Immer wieder hat sie seit Beginn der Corona-­Krise neu publizierte Zahlen und deren Interpretationen hinterfragt. Dabei haben Schüller und ihre Kollegen nicht nur aufgedeckt, warum die Wirksamkeit der Corona-Impfstoffe allzu leicht überschätzt werden kann. Angaben wie „zu 90 Prozent wirksam“ bedeuten nämlich mitnichten, dass 90 von 100 Menschen dauerhaft durch eine Impfung geschützt werden.

In leicht verständlichen Worten haben die Statistiker auch frühzeitig deutlich gemacht, warum Massentests auf Corona bei Menschen, die weder Symptome haben noch Kontakte zu infizierten Personen hatten, problematisch sind. Selbst bei einem sehr zuverlässigen Test kann das Risiko, dass ein positives Ergebnis falsch ist, schnell bei 70 Prozent und mehr liegen. 

„Das große Problem ist, dass wir bis heute nicht wissen, wie weit das Virus tatsächlich in der Bevölkerung verbreitet ist, wo die Risikoherde liegen oder welche Berufe besonders betroffen sind“, sagt Schüller. Bedauerlicherweise habe man es von Anfang an versäumt, eine gezielte Studie aufzusetzen. Eine größere repräsentative Stichprobe also von beispielsweise 10.000 bis 20.000 Menschen, die über die ganze Bundesrepublik verstreut leben und die regelmäßig auf das Virus getestet werden. „Das Bundesgesundheitsministerium hätte das auf den Weg bringen müssen. Aber ich vermute, der Wille hat gefehlt.“

Das Geschäft mit dem Alarm

Vielleicht aber hat man sich auch an den bald einsetzenden Panikmodus zu schnell gewöhnt, und das bei nahezu allen Entscheidungsträgern dieser Krise. Beispiel Intensivbetten: „Wir alle bereiten uns auf die Triage vor“, sagte jüngst der Vorsitzende des Weltärztebunds Frank Ulrich Montgomery gegenüber den Zeitungen der Funke-Mediengruppe und beschwor damit erneut ein Szenario, das schon in der dritten Welle der Pandemie Wirkung zeigte, als etwa der Internist Michael Hallek vor einer Triage binnen zwei Wochen warnte. 

Doch fußt der große Alarmismus wirklich auf belastbaren Zahlen? Schon im Juni 2021 hatte ein Bericht des Bundesrechnungshofs (BRH) Zweifel an dieser Lesart aufkommen lassen. Damals nämlich hatten Deutschlands oberste Wirtschaftsprüfer der interessierten Öffentlichkeit vor Augen geführt, welch üppige Steuergelder bereits geflossen waren, um den Kliniken in der aktuellen Krise unter die Arme zu greifen: Bis zum 15. November dieses Jahres summierten sich die Ausgaben des Bundes auf schwindelerregende 15,3 Milliarden Euro. Darunter fielen sowohl Freihalte-­Pauschalen durch verschobene Operationen, Förderungen für neu gekaufte Intensivbetten wie auch die seit November 2020 gezahlten Pauschalen für all jene Krankenhäuser, die angaben, coronabedingt mehr als 75 Prozent ihrer Bettenkapazität in Anspruch zu nehmen. Insgesamt hat der Bund somit 8,9 Milliarden Euro für Einnahmeausfälle im Zeitraum vom 16. März bis zum 30. September 2020, 686 Millionen für neue Betten und 5,7 Milliarden Euro für Einnahmeausfälle zwischen dem 18. November 2020 und dem 15. Juni 2021 fließen lassen.

Falsch verteiltes Geld

Dabei wurde indes mehr in nackte Zahlen als in tatsächliche Versorgungslücken investiert. Denn mindestens schon im November 2020 muss dem Divi klar gewesen sein, dass zum Teil auch Betten als frei gemeldet wurden, die damals nicht einmal betriebsbereit waren. Und spätestens am 11. Januar 2021 war das Bundesgesundheitsministerium durch das Robert-Koch-Institut darüber in Kenntnis gesetzt worden, dass Krankenhäuser möglicherweise Betten sperren könnten, um auf diese Weise den staatlichen Geldhahn anzuzapfen. Die Öffentlichkeit erfuhr erst im Juni durch den Bundesrechnungshof von dieser Korrespondenz: „Den für die Kontrolle in diesem Bereich geschaffenen Beirat und die Länder informierte das BMG nicht über diesen Sachverhalt“, heißt es im Bericht des BRH.

Doch der Rechnungshof war nicht einmal der Erste, der auf den möglichen Missbrauch und die unzureichenden Kontrollen der Belegungsmeldungen hingewiesen hatte. Schon am 20. Januar 2021 hatte der Datenanalyst Tom Lausen wegen des möglichen Missbrauchs und der unzureichenden Kontrolle der Belegungsmeldungen bei der Divi Alarm geschlagen. Und im Mai, also gut einen Monat, bevor der BRH seinen Bericht über die „unerwünschten Mitnahmeeffekte“ veröffentlichte, hatte der Infektiologe und Gesundheits­ökonom Matthias Schrappe, einstmals Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, öffentlich einen ähnlichen Verdacht geäußert.

In seiner Einlassung sprach der Kölner Gesundheitsökonom zudem die dringende Empfehlung aus, das Geld zukünftig besser direkt an jene Stellen zu bringen, die es tatsächlich bräuchten – die Pflegerinnen und Pfleger. Dafür aber hätte es nach Meinung Schrappes einen beherzten Eingriff der Politik gebraucht. Denn der „produktivitätsschwache“ Wirtschaftssektor der medizinischen Versorgung ist seit Jahren einem enormen Kostendruck ausgesetzt.

Unmenschlicher Pflegeschlüssel

Geschehen ist nichts. Und das, obwohl Schrappe zusammen mit vielen anderen Wissenschaftlern noch heute davon überzeugt ist, dass gegen den akuten Personalnotstand in der gesamten Krise zu wenig getan wurde. „Zur Not hätte ich alle Dörfer nach ehemaligen Pflegekräften abgeklappert“, sagt der 66-Jährige nach mittlerweile 21 Monaten pandemischen Notstands in seinem typisch trockenen Tonfall. „Ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass das zu schaffen gewesen wäre.“ Sollte nun in der vierten Welle tatsächlich eine Überlastung drohen, dann nur deshalb, weil den Kliniken geholfen wurde – nicht aber der Pflege. 

Doch es kommt noch ärger: In Deutschland ist derzeit nicht einmal bekannt, wie viele Intensivpfleger es überhaupt gibt. Die Daten hierüber werden nämlich nur nach Fachabteilungen, nicht aber nach Bereichen erhoben, heißt es vonseiten des BMG. Und das Divi weist zudem darauf hin, dass die Pflege nicht einmal in einem entsprechenden Verband organisiert sei.

So ist der derzeit einzige Hinweis, den es auf die tatsächliche Anzahl der Intensivpfleger gibt, eine Antwort der Bundesregierung auf eine schriftliche Anfrage der Grünen-Bundestagsabgeordneten Kordula Schulz-Asche von November 2020. 25.000 seien es demnach zum damaligen Zeitpunkt gewesen. Bei 28.000 Intensivbetten und einer Rund-um-die-Uhr-Betreuung käme eine Vollzeitkraft somit auf fünf Betten. 2019 waren es noch 2,5.

Für Klaus-Dieter Zastrow, Facharzt für Hygiene und einstiger Geschäftsführer der Ständigen Impfkommission (Stiko), ist das der eigentliche Skandal in der Krise. Zastrow nämlich erinnert sich noch gut daran, wie er in den neunziger Jahren in seiner einstigen Funktion als Vorsitzender der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention dem damaligen Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) eine Empfehlung unterbreitet hatte, nach der ein Intensivpatient eigentlich rund um die Uhr je einen Pfleger an sich binden müsse. Geschehen sei daraufhin nichts. „Im Gegenteil, das Papier ist in der Schublade verschwunden“, erinnert sich Zastrow, der in den zurückliegenden Monaten oft den Finger in die Wunde gelegt hat.

Geldsegen trotz Niedrigauslastung

Denn ein Vierteljahrhundert später ist die Situation endgültig aus den Fugen geraten. Während die Pfleger in der aktuellen Krise so gut wie nichts von dem Geldsegen abbekommen haben, mit dem der Bund dem Rechnungshof zufolge „das betriebswirtschaftliche Risiko einer nicht ausreichenden Belegung der Krankenhäuser mitgetragen“ hat, haben die Kliniken 2020 ihre Erlöse im Schnitt um 15 Prozent gesteigert – und das, „obwohl die Krankenhäuser 2020 mit 13 Prozent weniger Fällen so wenige Menschen behandelt haben wie seit Jahren nicht mehr“, wie Stefanie Stoff-­Ahnis, Vorstandsmitglied beim Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV) in Reaktion auf den Rechnungshof-Bericht schreibt. Mit dem Gesundheitsexperten Reinhard Busse ist sie sich darin einig, dass es die Ausgleichszahlungen waren, denen sich das „goldene Jahr der Krankenhausfinanzierung“ verdankt.

Und die Nachfrage nach derartigen Zahlungen dürfte nicht nur aufgrund verschobener Operationen groß gewesen sein: „Heute ist es häufig so, dass das finanzielle Überleben vieler Krankenhäuser wesentlich von den Erlösen der Intensiv- und vor allem der Beatmungsmedizin abhängt“, heißt es bereits in einem Artikel aus dem Ärzteblatt vom 16. März 2018. Zu den Autoren gehörte damals auch der heutige Leiter des Divi-­Intensivregisters, Christian Karagiannidis. Schon 2018 war von „alarmierenden“ Bettensperrungen und von Personalmangel die Rede, der sich teilweise auf einzelne Krankheitswellen zurückführen ließ. Nur ging es damals eben noch nicht um Corona, sondern um die im zurückliegenden Jahr fast ausgebliebene Influenza. 

Corona-Patienten hingegen belegten im Jahr 2020 durchschnittlich 2 Prozent der Krankenhausbetten und 4 Prozent der Intensivbetten. Am 7. Dezember 2021 meldet die Divi mit 4950 Corona-Intensivpatienten den diesjährigen Höchststand der vierten Welle (Stand 10.12.2021). Auf dem Höhepunkt der Corona-Krise, am 3. Januar, wurden 5762 Patienten versorgt. Obwohl Anfang des Jahres noch 4500 reguläre und 2000 Notfallbetten mehr ausgewiesen waren, ist Deutschland somit auch heute noch immer 2315 freie Betten und 8347 Notfallbetten von der so oft beschworenen Überlastung entfernt.

Panik eher vorm Bundesrechnungshof

Von einer berechtigten Panik vor dem Triage-Tod kann also keine Rede sein – weder 2020 noch aktuell. Davon ist nicht nur Gesundheitsökonom Matthias Schrappe überzeugt, der für seine kritischen Einlassungen viel Gegenwind aushalten musste. Auch Intensivregister-Leiter Karagiannidis hält eine Situation, in der stationäre Versorgungsengpässe am Ende Menschenleben fordern könnten, angesichts der Behandlungskapazitäten hierzulande für wenig realistisch

Weit realer indes ist noch immer die Intervention des Bundesrechnungshofs. Und die ist keine Lappalie. Der Bericht basiere auch nicht auf bloßen Vermutungen, wie ein Sprecher auf Nachfrage klarstellt: „Wir haben die Mängel ja belegt. Und es besteht dringender Handlungsbedarf.“ Schon deshalb sei der Bericht auch dem parlamentarischen Haushaltsausschuss vorgelegt worden.

Doch die große Empörung blieb aus – auch im Deutschen Bundestag. Der brisante Bericht, seine Berechnungen, Zahlen und Daten, er wurde formal zur Kenntnis genommen, das war es. Wie schon so oft in dieser Pandemie.

Beispiel Paul-Ehrlich-Institut (PEI): Hier, am Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel im hessischen Langen, werden seit Beginn der Impfkampagne gegen Covid-19 am 27. Dezember 2020 alle in Deutschland gemeldeten Verdachtsfälle von Nebenwirkungen oder Impfkomplikationen im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung gegen Covid-19 gesammelt und zusammengerechnet. In mittlerweile 15 Sicherheitsberichten wurden Komplikationen mit den angeblichen „Game Changern“, also mit den mRNA-Vakzinen von Biontech/Pfizer und Moderna sowie den vektorbasierten Impfstoffen von Astrazeneca und Johnson&Johnson ausgewertet. 

Warnungen vor Impfnebenwirkungen

Der letzte Bericht enthält Daten bis zum 30. September. Danach schweigt sich das Institut aus.* Eine Anfrage von Cicero, warum es keine weiteren veröffentlichten Daten nach diesem Stichtag gibt, lässt das PEI unbeantwortet. Lediglich in einem versteckten Hinweis auf der Homepage wird das Schweigen erläutert: „Da im September 2021 vergleichsweise wenige Impfdosen verabreicht wurden und auch die Zahl der Meldungen über den Verdacht einer Nebenwirkung kontinuierlich abnimmt, wird das Paul-Ehrlich-­Institut zukünftig die Frequenz der Sicherheitsberichte auf alle zwei Monate reduzieren.“

Eine durchaus unbefriedigende Antwort. Denn gerade in den letzten Wochen haben die Studien und Experteneinlassungen zugenommen, die vor zum Teil schwerwiegenden Nebenwirkungen im Zusammenhang mit den „schnellsten Impfstoffen aller Zeiten“ warnen: „Erhöhtes Infektionsrisiko mit Sars-CoV-2 Beta-, Gamma- und Delta-Variante im Vergleich zur Alpha-Variante bei geimpften Personen“, heißt es etwa in einer bis dato noch nicht peer-reviewten Studie aus den Niederlanden; „Myokarditis nach BNT162b2-mRNA-Impfstoff gegen Covid-19“ titelt das New England Journal of Medicine über eine aktuelle israelische Studie zu Herzmuskelentzündungen; und im Fachmagazin Nature liest man dieser Tage: „Neurologische Komplikationen nach der ersten Dosis von Covid-19-Impfstoffen und Sars-CoV-2-Infektionen“.

Die warnenden Stimmen also werden lauter – nicht vonseiten hartgesottener und teils unbelehrbarer Impfgegner, sondern von durchaus ernst zu nehmenden Medizinern. Dabei bräuchte es nicht einmal den Blick auf die aktuelle Studienlage, um die vielleicht allzu große Impfstoff-Euphorie ein Stück zu dämpfen. Ein differenzierter Blick auf die schon heute bekannten Zwischenfälle, die beim Paul-Ehrlich-Institut gemeldet wurden, zeigt, dass auf die gut 108 Millionen verimpften Dosen bis zum 30. September dieses Jahres laut PEI-Sicherheitsbericht 21.054 schwerwiegende unerwünschte Reaktionen im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung kamen. 

Aufwendiges Melden

Das klingt zunächst noch sehr abstrakt. Im Umkehrschluss bedeutet es aber, dass auf eine von 5124 Impfdosen eine schwerwiegende unerwünschte Reaktion entfällt. Geht man davon aus, dass mit Ausnahme des in Deutschland wenig verimpften Vektor­impfstoffs Janssen vom US-Pharmariesen Johnson&Johnson auf jeden Impfwilligen gleich zwei Impfdosen kommen, so gibt es gar auf einen von 2600 Impflingen eine schwerwiegende Reaktion. Und noch beunruhigender: Das Verhältnis zwischen Impfung und schwerer Reaktion wird kleiner – vom vorletzten zum letzten Sicherheitsbericht um gut ein Drittel.

Als wäre das alles noch nicht genug, schlagen nun auch immer mehr Ärzte Alarm: „Ich gehe davon aus, dass die Dunkelziffer der nicht gemeldeten schwerwiegenden Nebenwirkungen weit größer ist, als die offiziellen Zahlen des Paul-Ehrlich-­Instituts und der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft vermuten lassen“, sagt der Berliner Internist und Allgemeinmediziner Erich Freisleben. Der seit 35 Jahren praktizierende Hausarzt kennt den Sachverhalt nicht nur aus der Theorie: In seiner patientenstarken Praxis direkt gegenüber dem Virchow-Klinikum der Charité hat der engagierte Arzt in den zurückliegenden Monaten mehrere Hundert Patienten im Alter von über 60 Jahren sowie einige jüngere Risikopatienten gegen Covid-19 geimpft. 

Die meisten hätten die neuartige Impfung gut vertragen. Doch was ­Erich Freisleben in der Folge auch erlebte, das hat ihn nachdenklich werden lassen: „Neben den flüchtigen direkten Impfreaktionen habe ich persönlich im Zusammenhang mit den neuen Impfstoffen bisher eine tödliche Sinusvenenthrombose, ein Guillain-Barré-Syndrom, drei Fälle von Lungenembolie und über 20 weitere ernste Impfnebenwirkungen gesehen.“ Alle meldet Freisleben über ein Online-­Formular beim Paul-Ehrlich-Institut und bei der Arzneimittelkommission. Ein Prozedere, das für jeden Arzt langwierig und nervenaufreibend sein kann: „Ich habe für all diese Meldungen 14 Stunden benötigt – am Wochenende, in meiner Freizeit.“ Von Kollegen habe er schon gehört, dass sie die geforderten Meldungen erst gar nicht erstellten. 

Ungemeldete Nebenwirkungen

Freisleben glaubt daher, dass die tatsächlichen Schäden weit häufiger vorkämen als vermutet. Und ernst zu nehmende Studien geben dem mulmigen Bauchgefühl des Berliner Internisten recht. So ergab eine Metastudie der Pharmakologin Lorna Hazell von der Drug Safety Research Unit im britischen Southampton bereits 2012, dass es in damals zwölf untersuchten Ländern eine erhebliche Unterberichterstattung bei unerwünschten Nebenwirkungen von neu eingeführten Präparaten gab: „Die mediane Untermelderate in 37 Studien betrug 94 Prozent“, so Hazells erschreckendes Fazit vor gut neun Jahren 

Bei den neuartigen Corona-Impfstoffen sieht Internist Freisleben ähnliche Untermelderaten, zumal es bei vielen seiner Kollegen fast schon ein Sakrileg sei, wenn man über Nebenwirkungen im Zusammenhang mit den Impfstoffen gegen Covid-19 redet. Die Studienlage sei auch ein Jahr nach der bedingten Zulassung eines ersten Impfstoffs noch immer dürftig – und das, obwohl die Hersteller bereits neun Rote-Hand-Briefe mit neuen Risikoinformationen an die Arztpraxen verschicken mussten.

So bleibt am Ende nur ein Wust aus Zahlen. Nach fast zwei Jahren Pandemie und gut 106.000 Toten im Zusammenhang mit Covid-19 erinnert der deutsche Datensalat mittlerweile an die Ziffernmystik der Kabbala oder an die Numerologie der Alchimie. Klaus-Dieter Zastrow, der einstige Geschäftsführer der Stiko, glaubt, dass es der Wissenschaft wie auch den staatlichen Gesundheitsbehörden hierzulande einfach an Geld, Unabhängigkeit und an Manpower fehle. „Ein Podcast macht noch keine Wissenschaft“, spottet er mit Blick auf eine Medizin, die besonders in dieser Krise vermehrt auf Ego denn auf echte Evidenz gesetzt hat.

*Update: Mittlerweile liegt ein aktualisierter Sicherheitsbericht des PEI mit Daten bis zum 30.11.2021 vor. Dieser bestätigt den Trend der Zunahme der Verdachtsfällen für schwerwiegende Nebenwirkungen im Zusammenhang mit den Covid-Impfstoffen. Auf Mittlerweile 123.347.849 verimpfte Dosen kommen demnach 26.196 Verdachtsfälle. Das heißt auf 4709 Dosen entfällt eine schwerwiegende Nebenwirkung, bzw. einer von gut 2354 Impflingen muss laut den offiziellen Daten mit einer schwerwiegenden Nebenwirkung rechnen.

 

Dieser Text stammt aus der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

Sie sind Cicero-Plus Leser? Jetzt Ausgabe portofrei kaufen

Sie sind Gast? Jetzt Ausgabe kaufen

Anzeige