Von Corona bis Ukraine - Das neue lineare Denken

Während der Corona-Pandemie feierten Strukturvorstellungen aus dem 19. Jahrhundert ihre Wiederauferstehung: Statt auf den mündigen, selbstverantwortlichen Bürger zu setzen, galt es, lediglich Anweisungen zu befolgen. Kritische Gegenfragen wurden rhetorisch und ganz praktisch delegitimiert. Eine Ausschlussstrategie, die sich jetzt in Debatten über den Ukraine-Krieg fortsetzt.

In Reih’ und Glied: Der Sinn des Maskentragens sollte genausowenig hinterfragt werden wie heute der von Waffenlieferungen / dpa
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Autoreninfo

Professor Dr. med. Matthias Schrappe ist Internist und war Vorstandvorsitzender der Universitäts-Klinik Marburg, Dekan und wiss. Geschäftsführer der Univ. Witten/Herdecke, Generalbevollmächtigter der Frankfurter Universitäts-Klinik, Dir. Institut Patientensicherheit Universität Bonn (in den Jahren 2002 bis 2011).

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Am 14. August 1892 war es soweit: Das mit Fäkalien verseuchte Elbhochwasser erreichte den oberen Einlass der Trinkwasserversorgung Hamburgs, in den nächsten Tagen starben knapp 9000 Frauen und Männer an der Cholera. Endlich gab die ständische Gesellschaft der Hansestadt ihren Widerstand auf und vertraute Robert Koch die Reorganisation der öffentlichen Verwaltung und Gesundheitspflege an. Koch repräsentierte nicht nur die wissenschaftliche These, dass die Cholera eine Ansteckungskrankheit sei, sondern auch die preußische Staatsstruktur, die top-down organisiert war und Kompetenzen anhand hierarchischer Position und Fachkompetenz in den Mittelpunkt stellte.

Diese „Bürokratie“, damals hochmodern, hat über die letzten 150 Jahre erheblich an Strahlkraft verloren: Bei unerwarteten Ereignissen gab es keine Zuständigkeiten, Innovationen wurden behindert, jeder hatte Angst, seine eng umgrenzten Kompetenzen zu überschreiten und für die Folgen zu haften. Statt vertikalem Top-down haben sich heute laterale Strukturen durchgesetzt, quer zu den Linien, projektbezogen, auf Flexibilität ausgerichtet. Die unerwartete „Störung“ wird zum Normalfall, Strukturen stehen nur bis zur nächsten Innovation, das Umgehen mit Unsicherheit (Ambiguität) gehört zur Grundkompetenz.

In dieser Situation kam „Corona“. Im Jahr 1992 war das Bundesgesundheitsamt in „Robert-Koch-Institut“ umbenannt worden, eine Hommage an den großen Forscher, aber auch ein Rückgriff, so muss man heute erkennen, auf die Strukturvorstellungen des 19. Jahrhunderts. Denn was ist (nicht) geschehen? Erste Corona-Fälle bei Webasto in München – wer war vor Ort? Cluster in Heinsberg – hat jemand 100 Leute vom RKI vor Ort gesehen, die die wichtigen Fragen bearbeitet haben (Übertragungswege, Sterblichkeit ...)? Die ersten Cluster in Altersheimen in Wolfsburg und Würzburg – war jemand aus Berlin dort und hat mit modernen Konzepten der Epidemiekontrolle ausgeholfen?

Eine Diskussion über zeitgemäßes Pandemie-Management fand nicht statt

Wir kennen die Antwort. 1150 Mitarbeiter, knapp die Hälfte davon Akademiker, blieben auf ihren Sesseln sitzen, sammelten Meldedaten, von denen alle Fachleute wussten, dass sie nichts taugten (außer den Meldeeifer widerzuspiegeln), veröffentlichten Appelle (und änderten sie nächtens), steigerten die Bedrohungsszenarien, statt sich kompetenter Krisenkommunikation zu bemüßigen, waren nicht in der Lage, eine Epidemie als komplexes System zu begreifen und entsprechend zu handeln.

 

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An dieser Stelle aber sollen nicht die vergebenen Handlungsoptionen der zuständigen Stellen im Mittelpunkt stehen, sondern die erstaunliche Reaktion von Politik und Gesellschaft. Wir waren über Jahrzehnte darauf hingewiesen worden, dass das einfache Oben-Unten, das einfache Durchregieren, die Person als Rädchen nicht der Weisheit letzter Schluss sei. Mitarbeiter wurden aufgerufen, die Chefs zu kritisieren, und Projektstrukturen kennt wohl jeder zur Genüge – doch jetzt gaben wir uns mit reinen Top-down-Anweisungen zufrieden. Masken bei Windstärke 5 – kein Problem. Schulen monatelang schließen und Kinder zu Hause betreuen – kein Problem. Ausgangssperre (und sich zu Hause infizieren) – genauso wenig ein Problem. Die öffentliche Diskussion zum Thema zeitgemäßes Pandemie-Management, das sich an modernen Strukturvorstellungen orientiert und den Bürger als selbständig denkendes und handelndes Individuum wahrnimmt, eine solche Diskussion fand nicht statt. Statt Diskussion Vereinfachung: Täglich die RKI-Zahlen zur Kenntnis nehmen, einen Podcast aus der Charité hören, das reicht. Willkommen in der linearen Zufriedenheit.

Und die Politik ergriff die Chance und reaktivierte die süße Versuchung des Durchregierens, endlich konnte man der Komplexität der gesellschaftlichen Strukturen wieder klares Handeln entgegensetzen. Diese Begeisterung ging sogar so weit, dass sich eine der führenden Parteien ihrer Chancen im Bundestagswahlkampf beraubte, indem sie die vorgeblichen politischen Top-down-Optionen personalisierte, statt sich zu inhaltlichen Lösungen zu positionieren.

Die Ausschluss- und Verhetzungsstrategien sind bekannt

Diese „neue Linearität“ kann nur eines nicht gebrauchen, nämlich Störungen von der Seitenlinie. Ähnlich wie Bürokratien bei unvorhergesehenen Ereignissen („dafür bin ich nicht zuständig“) aus dem Tritt geraten, können die auf einfache lineare Lösungen eingeschworene Öffentlichkeit und politische Steuerung kritische Gegenfragen nicht mehr sinnvoll integrieren. Dies aus einem simplen Grund: Die kritischen Fragen liegen so auf der Hand und gefährden die neue Einfachheit deswegen so direkt, dass man zum kategorischen Ausschluss greifen muss. Die Folgen, die Ausschluss- und Verhetzungsstrategien sind bekannt.

Allerdings ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass sich diese Neigung zu einfachen Lösungen verstetigt und uns noch beschäftigen wird, wenn die Corona-Pandemie längst in ihre endemischen Ebenen abgetaucht ist. Das wichtigste Indiz ist das Umgehen mit der Ukraine-Krise. Die üblichen salvatorischen Klauseln sollen hier unterbleiben, aber es ist nicht zu übersehen, dass kritische Fragen sofort mit Delegitimierung konfrontiert werden: Putinversteher, Verharmlosung des Angriffskrieges, Befürwortung von Folter und Vergewaltigung. Dabei stehen hinter diesem Pulverdampf ganz verständliche und einer modernen Gesellschaft angemessene Fragestellungen, zum Beispiel zum Ziel der Maßnahmen, zur Strategie (Russland besiegen?), zu den Gefahren, auch zum Pazifismus. Wenn laut Umfragen die Hälfte der Bevölkerung pazifistische Überlegungen (partiell) teilt, warum sind nicht auch die Hälfte der Talkshow-Teilnehmer aus diesem Lager? Woher der aggressive Ton der Befürworter von Waffenlieferungen gegenüber den Beteiligten von Unterschriftensammlungen, die zu mehr Vorsicht und Umsicht aufrufen?

Der Verdacht drängt sich auf, dass auch hier weite Teile der Gesellschaft und der Politik der Verlockung der groben Vereinfachung unterliegen. Je mehr Waffen, umso mehr Frieden, umso weniger Ungerechtigkeit – eine wahrhaft ahistorische, unterkomplexe Vorstellungswelt. Aber die dahinter stehende Frage ist noch gewichtiger: Was passiert, wenn unsere Gesellschaft – anders als die letzten Jahrzehnte es hätten vermuten lassen – sich wirklich auf Dauer in einer „neuen Linearität“ einrichtet? Muss man sich nicht fragen, ob solche Vorstellungen eigentlich noch zeitgemäß sind, ob diese in der Lage sind, unsere Gesellschaft zu vertreten, weiterzuentwickeln, sie in der heutigen Welt mit dem notwendigen Maß an Lösungskompetenz auszustatten? Erhebliche Zweifel sind hier angebracht. Robert Koch hat seinerzeit der Modernität zum Durchbruch geholfen, und die heutige Modernität, die auf dem Umgang mit komplexen Strukturen beruht, wird genauso wenig zu bremsen sein – nur sollten wir uns nicht von dieser Entwicklung abkoppeln.

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