Corona-Pandemie - Wird Impfstoff zum Sondermüll?

Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung warnt vor dem millionenfachen Verfall von Impfdosen aufgrund ihres Ablaufdatums. Zugleich steigt mit der Stiko-Empfehlung die Nachfrage nach Impfstoff für Kinder und Jugendliche. Und die Gesundheitsminister haben eine Auffrisch-Impfung für Risikogruppen beschlossen.

Covid-19-Impfstoffe Biontech, Astrazeneca und Moderna / dpa
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Nach Einschätzung von Deutschlands Kassenärzten droht millionenfach Corona-Impfstoff in Deutschlands Arztpraxen zu verfallen. So lagern nach Daten der Kassenärztlichen Bundesvereinigung in den Praxen derzeit 1,1 Millionen Dosen Astrazeneca und 0,4 Millionen Dosen Johnson&Johnson, welche aufgrund ihres Ablaufdatums vermutlich als Sondermüll entsorgt werden müssten, sagte ein Sprecher des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland.

Nach einem Bericht des Instituts sind zudem 1,7 Millionen Dosen Biontech in den Praxen auf Lager. Hier sei jedoch zu erwarten, dass sie noch gebraucht würden. Institutsvorsitzender Dominik von Stillfried forderte, die mindestens 1,5 Millionen verfallsgefährdeten Impfdosen zügig an Länder mit Impfstoffmangel zu spenden. Hauptgründe für den drohenden Verfall sind nach Instituts-Einschätzung die geringe Impfbereitschaft noch nicht Geimpfter sowie das schlechte Image vor allem des Astrazeneca-Vakzins.

Noch kein Impfstoff für Kinder unter zwölf

Doch wird die Nachfrage nach Impfstoff jüngst angekurbelt durch das Votum der Ständigen Impfkommission (Stiko) für eine Impfung gegen Covid-19 bei allen Kindern und Jugendlichen von zwölf Jahren an. Dem Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte Jakob Maske zufolge sei trotz großen Andrangs genug Impfstoff da, Engpässe deshalb nicht zu erwarten. Allerdings könnten Impftermine wegen der Nachbestellungen in den Praxen im Moment teilweise bis zu zwei Wochen dauern.

Die Kommission hatte sich nach wochenlanger Prüfung am vorigen Montag für die Impfung ausgesprochen; für Kinder bis zwölf Jahren ist allerdings noch kein Impfstoff zugelassen. Zuvor galt die Empfehlung des Gremiums nur eingeschränkt für chronisch Kranke, doch nach gegenwärtigem Wissensstand überwögen die Vorteile der Impfung gegenüber dem Risiko der sehr seltenen Impfnebenwirkungen. Zugelassen sind die Impfstoffe von Biontech und Moderna.

Sorge um Schulschließungen

Das Bundesgesundheitsministerium hatte bereits Ende Mai grünes Licht für die Immunisierung von Kindern und Jugendlichen gegeben nach ärztlicher Aufklärung und Beratung. Motive der Eltern für die Impfung ihrer Kinder seien neben dem Gesundheitsschutz auch die Sorge vor einer Ausgrenzung nicht geimpfter Kinder in der Schule, gleichfalls das Verhindern erneuter Schulschließungen durch möglichst viele immunisierte Kinder.

Neben den Kinder- und Jugendärzten böten unter anderen auch viele Hausärzte Impftermine für Kinder und Jugendliche an, sagte Maske. Nach Stiko-Angaben gibt es rund 4,5 Millionen Zwölf- bis 17-Jährige in Deutschland, nach Berechnungen des Robert-Koch-Instituts ist rund ein Viertel von ihnen bereits mindestens einmal gegen Corona geimpft.

Drittimpfung engmaschig überwachen

Zeitgleich haben Gesundheitsminister von Bund und Ländern Auffrisch-Impfungen gegen Covid-19 beschlossen, welche von September an für Risikogruppen in Deutschland verfügbar sein sollen, allerdings gibt es hierzu noch keine Empfehlung der Stiko. Laut Ministerbeschluss soll die Auffrisch-Impfung in Pflegeeinrichtungen und weiteren Einrichtungen mit gefährdeten Gruppen sowie Alleinlebenden mit geschwächtem Immunsystem angeboten werden in der Regel mindestens sechs Monate nach der Zweitimpfung.

Es könne sein, dass ein kürzerer Abstand zu einer vorangegangenen Impfung zu stärkeren Impfreaktionen führt, sagte der Charité-Impfstoffforscher Leif Erik Sander, welche zwar unangenehm, aber in der Regel harmlos seien. Trotzdem gelte es, die Drittimpfung engmaschig zu überwachen. Menschen, die vollständig mit Vektorimpfstoffen geimpft wurden, sollen dem Beschluss zufolge die Möglichkeit zu einer Impfung mit einem mRNA-Impfstoff von Biontech/Pfizer oder Moderna erhalten.

Ethisches Dilemma“

Die WHO forderte hingegen wohlhabendere Länder zu einen vorübergehenden Stopp von Auffrisch-Impfungen auf, solange ärmere Länder noch auf Erstimpfdosen warten. Auch Charité-Experte Sander sprach von einem ethischen Dilemma“. Die Drittimpfungen hierzulande seien aber medizinisch zu rechtfertigen.

Begründet wird der Schritt zu Auffrisch-Impfungen durch erste Studienergebnisse, die darauf hinwiesen, dass es bei bestimmten Gruppen vermehrt zu einer reduzierten oder schnell nachlassenden Immunantwort kommen könnte, was insbesondere bei immungeschwächten oder vorerkrankten Menschen sowie bei Höchstbetagten und Pflegebedürftigen der Fall sein könnte. Der Grund hierfür ist, dass das Immunsystem alter Menschen nicht mehr so effektiv reagiert wie das von Jüngeren.

Schutz lässt zwangsläufig nach

Wie lange der Impfschutz gegen Corona anhält, können Fachleute bisher nicht genau beantworten. Dass der Schutz vor einer Ansteckung nach einiger Zeit nachlässt, galt als absehbar, da von anderen Atemwegserkrankungen bekannt ist, dass es schwierig ist, durch eine Impfung, die in einen Muskel verabreicht wird, eine dauerhafte effektive Abwehr auf den Schleimhäuten hervorzurufen.

Der Schutz vor einer schweren Erkrankung wird jedoch als länger anhaltend eingeschätzt, das gilt nach bisherigen Erkenntnissen auch bei der Delta-Variante, die deutlich ansteckender als ihre Vorgänger ist. Im Vergleich zu früheren Varianten lässt sich bei Delta-Infizierten eine deutlich höhere Menge von Viren im Blut nachweisen. Außerdem hat Delta ein Stück weit die Fähigkeit, Antikörpern von Geimpften und Genesenen zu entkommen.

Gedächtniszellen werden angeregt

Laboruntersuchungen zu Antikörperspiegeln sind möglich diese erlauben allerdings keine direkte Schlussfolgerung auf die Schutzwirkung. Bisher gibt es keinen definierten Schwellenwert dahingehend, ob jemand immun oder vor einem schweren Verlauf geschützt ist; außerdem bilden nicht alle Geimpften einen messbaren Antikörper-Level, das bedeute allerdings nicht, ungeschützt zu sein.

Fachleute gehen allerdings nicht davon aus, dass Auffrischungen dauerhaft alle sechs Monate nötig sein werden. Von anderen Impfstoffen wisse man, dass eine späte Auffrischung die Gedächtniszellen nochmals so anrege, dass man ein, zwei Jahre oder länger keine Impfung mehr benötige, saggt Christine Dahlke von der Abteilung Klinische Infektionsimmunologie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Experten zufolge dürfte das Virus nicht mehr so schnell mutieren, wenn die meisten Menschen immun seien.

100.000 Long-Covid-Patienten

Eine weitere Problematik sind die Langzeitfolgen, die nach einer Covid-19-Erkrankung auftreten können. Vor der Corona-Pandemie absolvierten jährlich bereits rund eine Million Menschen in Deutschland nach einer Erkrankung eine Rehabilitation, um wieder in das Arbeitsleben zu finden. Weitere 100.000 Betroffene mit Long Covid in Reha seien eine große Herausforderung für das Gesundheitssystem, heißt es seitens der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Rehabilitation.

Die meisten Berufstätigen können eine Reha über die Deutsche Rentenversicherung beantragen, wer  dort nicht versichert ist, muss sich an seine Krankenkasse oder -versicherung wenden. In Folge ihrer Corona-Infektion fehlten in diesem wie schon im vorigen Jahr Tausende Menschen über Monate am Arbeitsplatz, wie die Krankenkassen Barmer und AOK Ende Juni berichten. Auch waren Covid-19-Patienten nach einem Klinikaufenthalt den Angaben zufolge besonders lange krankgeschrieben. Cicero / dpa

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