Corona und die Kinder - Generation Lockdown

Die Folgeschäden des Lockdowns unter Kindern und Jugendlichen sind erheblich. Haben wir die Älteren geschützt – und dabei die Jugend vergessen?

Zu Hause in Zeiten von Corona. Oft ist das Telefon die einzige Verbindung zu Freunden.
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Neun Uhr morgens in der Kinder- und Jugendarztpraxis von Jakob Maske in Berlin-Schöneberg. Wenn die Tür aufgeht, wartet in normalen Wintern bereits eine lange Schlange schniefender und hustender Kinder im Treppenhaus, daneben ihre gestressten Eltern. In einer normalen Erkältungssaison, sagt Maske, seien es bis zu 200 Kinder pro Tag. Seit Corona aber ist das anders: Jetzt kommen nur um die 50, die Kinder sind viel weniger krank. Ein positiver Effekt der Schul- und Kitaschließungen, wie man meinen könnte. Wenn weniger Kinder zusammensitzen, stecken sich auch weniger Kinder an.

Eigentlich müsste das den freundlichen Kinderarzt mit den zum Zopf zurückgebundenen Haaren freuen, doch nicht nur Maske bemerkt auch anderes bei den kleinen Patienten: Die akuten Folgen des Lockdowns sieht man in seiner Praxis mit bloßem Auge. Praktisch alle Kinder, die der Kinderarzt auf die Waage stellt, haben überdurchschnittlich zugenommen. Maske trägt die Entwicklung sorgfältig in eine Kurve ein: Bei „normalen“ Zunahmen setzt er Zahlen ein, geht es drüber, sind es Sternchen, dann kommen die Ausrufezeichen. „Manche Kinder haben bis zu 30 Kilo zugelegt in einem Jahr“, sagt Maske. Die Gründe liegen auf der Hand: mangelnde Bewegung, Eistee, Chips und Fastfood anstatt mindestens einmal pro Tag ein gesundes Essen in Kita oder Schule. Und Maske sieht in seiner Praxis, in deren Einzugsbereich neben Sozialwohnungen auch gehobene Altbauviertel liegen, wie wichtig das Umfeld der Kinder ist: „Je schlechter die soziale Lage, desto gravierender ist das Problem.“

Irreparable Schäden

So entstehen Schäden, die im schlimmsten Fall irreparabel sind. Bei vielen Kindern wird das Übergewicht vermutlich bleiben, bei manchen wird es sich noch verschlimmern. Das kann besonders dann passieren, wenn den Eltern die Ressourcen fehlen, um gegenzusteuern, oder wenn es an Problembewusstsein mangelt. 

Viele Eltern haben ihre Kinder im letzten Jahr aus den Sportvereinen abgemeldet. Wozu noch zahlen, wenn ohnehin kein Training stattfindet? Der Landessportbund Niedersachsen meldete jüngst, dass einige Vereine bereits mehr als 20 Prozent der Mitglieder verloren hätten. 

Die Alternative bei vielen Jugendlichen: Medienkonsum bis spät in die Nacht. „Manche Kinder verbringen pro Tag zweistellige Stundenzahlen an Handy und Computer. Es wird schwer, das wieder zurückzuschrauben“, warnt Kinderarzt Maske.

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Kinder mit Angst vor der Zukunft

Corona hinterlässt eben tiefe Narben. Zwar durften nach dem monatelangen Lockdown viele Schüler im März wieder im Wechselunterricht in die Schulen und Kleinkinder in die Kitas. Aber es gibt Dinge, die sich nicht so leicht zurückdrehen lassen.
Die Folgeschäden durch die Pandemie, genauer gesagt durch die Maßnahmen gegen die Pandemie, reichen schon jetzt weit in die Zukunft hinein. Laut einer Studie der Hildesheimer Kindheits- und Jugendforscherin Sabine Andresen, die auf einer Befragung von über 7000 jungen Menschen zwischen 15 und 30 Jahren beruht, haben 45 Prozent der Befragten derzeit Angst vor der Zukunft – nicht nur vor der individuellen, ebenso vor der gesellschaftlichen und der globalen. Die Pandemie hat die Aussicht auf die eigene Zukunft nachhaltig beschädigt. Hoffnungen verwandelten sich bei vielen aus den sogenannten Generationen Y und Z in Ängste, aus Möglichkeiten wurden Beschränkungen.

Besonders bei Jugendlichen hat Maske in seiner Praxis seit letztem Frühjahr eine Häufung von Depressionen und Zwangsstörungen beobachtet. „Die Kinder leiden unglaublich darunter, dass sie ihre Freunde aus Schule und Kita nicht sehen“, sagt der erfahrene Kinderarzt. 

Erste Studien bestätigen seine Erkenntnisse: Laut der sogenannten Copsy-Studie der Universitätskliniken Hamburg-Eppendorf leidet ein Jahr nach Beginn der Pandemie jedes dritte Kind unter psychischen Auffälligkeiten, Tendenz steigend. Verstärkt seien depressive Symptome und psychosomatische Beschwerden zu beobachten. Eine Studie der Donau-Universität Krems kommt zu noch alarmierenderen Ergebnissen: Während ältere Menschen die aktuelle Situation psychisch relativ stabil durchlebten, habe sich bei den jungen die Zahl der schweren depressiven Fälle seit dem vergangenen Jahr verzehnfacht. Die Redaktion der Website krisenchat.de wies darauf hin, dass rund 20 Prozent der 7300 hilferufenden Kinder und Jugendlichen in 2020 Suizidgedanken gegenüber den Ersthelfern der Plattform geäußert hätten.

„Wahrscheinlich wird es am Ende eine Mino­rität an Kindern sein, die keine Langzeitfolgen davontragen werden“, glaubt der Hamburger Kinderpsychiater Andreas Krüger. 

Tag ohne Struktur

Und was sind vor diesem Hintergrund schon ein paar Kilo auf der Waage? Zwar hat auch der 18-jährige Simone Esposito, der wegen eines Augenleidens im Warteraum von Maskes Praxis sitzt, körperlich etwas zugelegt, von der Veranlagung aber ist und bleibt er ein langer Schlaks. Der Berliner hat andere Probleme. Ihm fehlt die Energie. Nicht mal mehr zum Computerspielen reicht es. „Ich bin inzwischen total demotiviert“, sagt der Gymnasiast, der in wenigen Wochen Abitur machen soll. Freunde treffe er höchstens noch einmal die Woche, und an die frische Luft gehe er auch nur noch selten: „In letzter Zeit gab es einige Tage, an denen ich überhaupt nicht draußen war.“

Simone wohnt mit drei Geschwistern und seiner Mutter in einer Vierzimmerwohnung in Schöneberg. Um sich zu konzentrieren, setzt er sich seine Noise-Cancelling-Kopfhörer auf. Und dennoch fällt es ihm immer schwerer, aufmerksam zu bleiben. „Der Tag hat überhaupt keine Struktur mehr“, klagt Simone. Ins Bett geht er zwischen elf und zwei Uhr nachts. Morgens versucht er trotzdem, pünktlich aufzustehen. Dann beginnen die stundenlangen Videokonferenzen – bis in den Nachmittag hinein. Aber auch danach bliebe ständig das Gefühl, irgendwas noch nicht erledigt zu haben. „Man kann sich überhaupt nicht mehr entspannen.“
Auf einer Internetplattform haben Simones Altersgenossen festgehalten, wie sehr sie mittlerweile von der Situation überfordert sind: Die Leistungen in der Schule gehen runter, als Ältere müssen sie sich um die kleineren Geschwister kümmern, die Eltern sind nur noch gestresst. Und immer wieder die Klage über den völligen Verlust von Struktur: „Ich bin so unglaublich fertig und überarbeitet, dass ich öfters in meinem Zimmer sitze und einfach zusammenbreche“, schreibt da ein User. Und ein anderer: „Man kann nicht sechs Stunden hintereinander auf den Bildschirm starren! Es geht nicht. Bitte verstehe doch einer, dass man irgendwann einfach nicht mehr kann!“

Eine ganze Generation aus den Augen verloren

Sind die Kinder also längst am Limit? Haben wir vor lauter Sorge um die Alten und Vorerkrankten in der Corona-Krise all jene aus den Augen verloren, die ebenfalls unseren Schutz erhalten sollten: die Kinder und Jugendlichen? Die Berichte über die psychischen wie physischen Belastungen der Jüngsten jedenfalls häufen sich. Schülersprecher schlagen bundesweit Alarm, weil sich die Schüler von der Gesellschaft abgehängt fühlen: In Berlin ergab eine Umfrage unter 7500 Kindern, dass drei von vier Schülern über einen „gefühlten Kontrollverlust in ihrem Leben“ berichten. Fast die Hälfte gibt als Bildschirmzeit über acht Stunden an, zwei Drittel registrieren einen beeinträchtigten Schlafrhythmus, über die Hälfte hat ihre Tagesstruktur verloren. Ärzte und Psychologen weisen auf ein Leiden hin, das sich nahezu ungesehen und dennoch unter unseren Augen abspielt: die sukzessive Vereinsamung einer ganzen Alterskohorte.

Dass es auch anders gegangen wäre, zeigen unsere Nachbarn, die Schweizer: Dort blieben in der zweiten Corona-Welle Schulen und Kitas geöffnet. Die Schweiz behalf sich im Kampf gegen das Virus mit anderen Einschränkungen – und kam nicht schlechter als Deutschland durch den Winter. So sieht eine Politik aus, die bei aller Sorge um die Älteren die psychische und physische Gesundheit der Kinder nicht vergisst. Und dadurch auch den Eltern hilft: Wer in diesem Winter Wochen und Wochen im Homeoffice mit großen und kleinen Kindern verbracht hat, weiß, wie das an den Kräften zehrt. 

Es geht auch anders

Aber es gibt auch Gegenden in Deutschland, wo der Lockdown Lehrer, Eltern und Schüler nicht in den Wahnsinn getrieben hat: keine Fragen, keine Beschwerden, keine Alarmrufe. Ulrike Voges, eine Grundschullehrerin aus dem baden-württembergischen Flecken Rettigheim, sagt, sie habe es anfangs gar nicht glauben können. Ihre Drittklässler waren schon seit Wochen im Home­office, doch von den Eltern kam kaum Feedback. Es lief alles nach Plan. Jeden Montag lieferten die Kinder ihre ausgefüllten Arbeitsblätter in der Schule ab und nahmen dann neue mit nach Hause. Einen Plan für die Woche gab es auch. Den kannten die Kinder schon aus der Zeit vor der Pandemie. Selbstständiges Arbeiten waren sie gewohnt.

Nur dass sie jetzt an ihrem Schreibtisch zu Hause saßen und nicht in ihrem Klassenzimmer. Die Rettigheimer Grundschule ist ein flacher Zweigeschosser mitten im Dorf. Fachwerkhäuser schmiegen sich an eine hügelige Landschaft im Weinanbaugebiet. Bis nach Heidelberg sind es 20 Kilometer. Die Schule hat nur 100 Schüler, die Klassen sind überschaubar. Ulrike Voges unterrichtet 16 Drittklässler. Das sind paradiesische Verhältnisse. In Berlin liegt die Grenze bei 26. 

Das Problem ist schon lange bekannt

Überstunden? Krisengespräche mit Eltern? Sorgen um Kinder, die plötzlich vom Radar verschwinden? Schüler, die geschlagen werden? Angeblich sieht so der Alltag für viele Lehrer, Eltern und Kinder in der Pandemie aus. Ein Leben an der Belastungsgrenze. Voges kennt derlei Probleme nur vom Hörensagen. Sie hat auch die Warnungen von Psychologen und Erziehungswissenschaftlern gehört, dass in der Pandemie eine ganze Generation von Bildungsverlierern heranwachse. Sie aber schüttelt den Kopf. Nein, sie finde sich und ihre Schule in solchen Statistiken und Berichten nicht wieder. Oh, wie schön ist Rettigheim! 

In der Pandemie wird deutlich, wovor Bildungswissenschaftler schon seit Jahren warnen: In kaum einem anderen Land hängt der Bildungserfolg so stark von der Herkunft ab – und in kaum einem anderen Land wächst die Zahl der benachteiligten Kinder so stark wie in Deutschland. Von 2006 bis 2018 stieg sie von 25,2 Prozent auf 32,3 Prozent. Die Corona-Krise, heißt es bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, habe diesen Trend verschärft; Lehrerverbände warnen, die soziale Schere gehe in der Pandemie noch weiter auseinander: hier die Bildungsgewinner, dort die Verlierer.

Hier Berlin, dort Rettigheim? Ganz so leicht ist es vermutlich nicht. Ulrike Voges weist nachdrücklich darauf hin, dass ihre Grundschule auch für den ländlichen Raum eine Ausnahme sei. Rettigheim liegt im Einzugskreis des Software-Konzerns SAP in Walldorf, hohe Akademikerrate, viele Gutverdiener. Kaum eine Familie lebt zur Miete, viele haben eigene Wohnungen oder Häuser, die meisten sogar mit eigenem Garten und einige mit eigenem Pool. Und auch dieses Dorf ist kein Bullerbü. Auch hier gibt es Kinder, die sitzen bleiben, weil zu Hause keiner ist, der ihnen helfen kann. Aber ihre Zahl ist überschaubar. 

Messbare Schäden

Doch Rettigheim ist eben nicht überall. Jenseits der Idyllen gibt es Schulausfälle, Lernlücken, technische und vor allem soziale Probleme. Der monatelange Unterrichtsausfall hat längst Auswirkungen auf den künftigen Wohlstand der betroffenen Schülergeneration. Das Münchner Institut für Wirtschaftsforschung (Ifo) hat sich ausführlich mit den negativen Effekten der Schulschließungen beschäftigt und kommt zu erschütternden Ergebnissen. Fest steht, „dass ausbleibender Schulunterricht die Kompetenzentwicklung und den zukünftigen Arbeitsmarkterfolg dauerhaft schmälert“, so Ifo-Bildungsexperte Ludger Wößmann. In einer Studie über die Folgekosten ausbleibenden Lernens hält Wößmann fest, dass der Verlust von bereits einem Drittel des Schuljahrs über das gesamte Berufsleben gerechnet im Durchschnitt mit rund 3 bis 4 Prozent geringerem Erwerbseinkommen einhergeht.

Zwar könnte man denken, dass es so schlimm schon nicht kommen wird, weil ja alle Kinder und Jugendlichen gleichermaßen betroffen sind und sich deren Defizite am Ende womöglich ausgleichen. Doch das ist ein Trugschluss, der auf der irrigen Annahme eines in seiner Größe feststehenden volkswirtschaftlichen „Kuchens“ basiert, stellt Wößmann klar. Denn der „Kuchen“ schrumpft natürlich, wenn alle ein geringeres Bildungsniveau erreichen: „Die gesamte Volkswirtschaft leidet, nicht zuletzt durch höhere Belastungen der sozialen Sicherungssysteme und ausfallende Steuereinnahmen für gesellschaftliche Aufgaben.“ Erschwerend kommt hinzu, dass wegen des langen Unterrichtsausfalls Schüler aus ohnehin unterprivilegierten Milieus die Lernlücke besonders hart zu spüren bekommen. Während Jugendliche mit bildungsbürgerlichem Hintergrund meist auf elterliches Homeschooling zählen können oder zumindest regelmäßig am Distanzunterricht teilnehmen, fehlt es anderswo oft schon an den dafür notwendigen Computern – und erst recht an der Möglichkeit, die täglichen Aufgabenblätter auszudrucken. Ganz zu schweigen davon, dass in vielen Migrantenfamilien kein Deutsch gesprochen wird und sich die Schreib- und Lesekompetenz der betroffenen Kinder entsprechend zurückentwickelt. „Geschlossene Schulen bedeuten also nicht nur Stillstand, sondern starken Rückschritt“, schlussfolgert Ifo-Bildungsexperte Wößmann.

Unsere größte Ressource

Für ein Land wie die Bundesrepublik, das bereits heute unter Fachkräftemangel leidet und als Industrie- und Hightech-Standort in Zukunft nichts dringender braucht als topausgebildete Arbeitnehmer oder Entrepreneure, sind das verheerende Nachrichten. Einer Modellrechnung des Ifo-Instituts zufolge summieren sich die gesamtwirtschaftlichen Verluste wegen des Kompetenzausfalls der aktuellen Schülergeneration auf mehr als 2,5 Billionen Euro – beziehungsweise 1,3 Prozent des künftigen Bruttoinlandsprodukts. Allein schon deswegen müsste der Staat längst gegengesteuert haben. Doch nichts dergleichen ist passiert.

Einen „Bildungsschutzschirm“ für Jugendliche, der speziell auf die Pandemie-Situation abhebt, fordert deshalb Margit Stumpp, bildungspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Bundestag: „Es geht darum, dass endlich die materiellen und organisatorischen Voraussetzungen geschaffen werden, damit die Schulen nicht nur in Präsenz wieder öffnen können, sondern Versäumtes so gut wie möglich nachholen können.“ Insbesondere Kinder, die vor einem halben und vor anderthalb Jahren in die Schule gekommen sind, hätten bisher praktisch kein „normales“ Schulleben und verlässlichen Regelunterricht kennengelernt – und seien während ihrer gesamten verbleibenden Grundschulzeit auf zusätzliche pädagogische Begleitung angewiesen. „Für so etwas könnte man Studentinnen und Studenten engagieren, Freiwillige mit pädagogischer Erfahrung, aber eben auch versierte Pensionärinnen und Pensionäre, die immer wieder an den Schulen aushelfen könnten und dies auch gern tun würden.“

Doch Fehlanzeige: Erst jetzt ist überhaupt von einem Aktionsplan „Bildungsrückstände beheben“ die Rede, für den sich Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) offenbar mit den Vertretern der Kultusministerkonferenz zusammengetan hat. 
Aus dem Ministerium selbst ist dazu nichts zu erfahren, dabei sind sämtliche Probleme längst absehbar gewesen. „Ich finde es erschütternd, wie wenig da vonseiten der Bundesregierung kommt“, konstatiert Bildungspolitikerin Stumpp: „Insbesondere bei Frau Karliczek herrscht da totale Ambitionslosigkeit.“ Die Ministerin spreche von einer angeblichen Aufbruchsstimmung im Bildungsbereich, obwohl dort in Wahrheit Resignation vorherrsche. „Denn es läuft am Ende darauf hinaus, dass die Lehrkräfte sich selbst überlassen sind, wenn es jetzt darum geht, die Lernrückstände bei den Schülerinnen und Schülern irgendwie wieder aufzuholen.“

Die Verlierer der Planlosigkeit

Am härtesten wird es diejenigen treffen, die ohnehin im Abseits stehen. Die Kinder und Jugendlichen aus Hellersdorf zum Beispiel, einer Großwohnsiedlung am östlichen Stadtrand Berlins, in die die DDR in den achtziger Jahren ihre Arbeiter verpflanzt hatte. Hoch aufgereiht stehen hier noch immer ihre Plattenbauten: Straßenzug neben Straßenzug, gerastert wie Beelitzer Spargel.

31,3 Prozent der unter 15-Jährigen, so steht es im Sozialbericht des Bezirks, beziehen in Hellersdorf Transferleistungen. Das Medianeinkommen ist mit 2647 Euro brutto das geringste in der ganzen Stadt. Und das vielleicht Schlimmste: Auch das Virus liebt den sozialen Nachteil. Eine Untersuchung des Münchner Epidemiologen Ulrich Mansmann hat gezeigt, dass das Risiko, an Covid-19 zu versterben, in sozial benachteiligten Regionen teilweise doppelt so hoch ist wie in wohlhabenderen Gegenden. Pastor Bernd Siggelkow, 56, hat hier 1995 das Kinder- und Jugendwerk Die Arche gegründet. Was damals in einem heruntergekommenen Plattenbau am Rande der alten Wohnmaschinen begann, das hat sich längst zu einem stabilen Notnagel für Kinder in der gesamten Republik entwickelt. Für die 120 Kinder aus Hellersdorf, die seit Jahren schon zur Arche pilgern, ist es nahezu alles. 

Schön, dass du da bist! Wie oft hat das Arche-­Team in den letzten Jahren dieses wohlige Gefühl in den Kindern wachrufen können. Doch dann kam der 22. März letzten Jahres: der erste Lockdown, die Kontaktverbote. Während das Robert-Koch-­Institut das Infektionsgeschehen nach Altersstufen zu rastern begann und für die Gruppe der 0- bis 19-Jährigen kaum Infektionsgefahren sah, wurden mit einem Mal Kitas und Schulen geschlossen und außerschulische Einrichtungen abgeriegelt. Selbst die rettende Arche lag plötzlich verschlossen in weiter Ferne – drüben hinter dem Eisenzaun aus DDR-Tagen.

Die Kinder aus Hellersdorf

Pastor Siggelkow, selber Vater von sechs Kindern, kramt sein Telefon aus der Jackentasche. „Hören Sie!“, sagt er. Dann spielt er die Mailbox ab. Es erklingt die Stimme eines quengelnden Mädchens: „Mir ist langweilig“, sagt die Kleine. „Ich will zu dir! Ich will in die Arche!“ Sie fängt zu weinen an. „Mit dir ist mir nicht langweilig!“ Sie hält inne und legt schließlich auf. „Das ist doch vollkommen traurig“, sagt Siggelkow – sie sei gerade mal sieben. „Ich kann sie nicht holen. Wir sehen hier ja selbst kaum noch Licht am Ende des Tunnels.“ 

Siggelkow erzählt von Kleinkindern, die Angst haben, an Corona zu sterben, und von Größeren, die keinen Bock mehr auf Schule haben, von Mädchen ohne jegliche Tagesstruktur und von Jungen, die nachts um halb drei auf der Straße herumlungern, die längst nicht mehr wissen, welcher Tag gerade ist. Siggelkow weiß von Eltern mit sechs Kindern, die Angst davor haben, dass ihre Kinder in der 70-Quadratmeter-Wohnung austicken. Und von Kindern, die Panik vor den Übergriffen und den Zankereien ihrer eigenen Eltern haben. Hellers­dorf im Corona-Lockdown. Die Arche in einer Sturmflut. Die Not, sagt Bernd Siggelkow, bekäme er nicht mehr eingedämmt. „Du versuchst es, aber das bricht über dir zusammen.“

Zwar dürfen seit Anfang März Kinder wieder vereinzelt zur Hausaufgabenbetreuung vorbeischauen, ein bisschen toben und vorsichtig spielen. Aber alles streng separiert und in kleinen Gruppen. In Hellersdorf, so Siggelkow, sei das ein Tropfen auf den heißen Stein.

„Das ist ein Horrortrip“

Und dann ist Ruhe! Plötzlich ist es mucksmäuschenstill. Man hatte es schon nicht mehr erwartet. Über einem eine dicke Schicht aus braun-beiger Erde, um einen herum ein Panzer aus grauem Beton. Nur das leise Surren einer Videoüberwachung ist noch zu hören, hier, an diesem ruhigen und sicheren Ort unter der Erde. 

Felix, ein 16-jähriger Junge aus Hamburg, hat ihn auf ein großes Blatt Papier gemalt. Für ihn ist dieser Ort, den er hinter Sprengfallen und dicken Türen versteckt hält, so etwas wie ein alter Bekannter. Ein Rückzugsraum irgendwo in seinem Inneren. Ganz tief unten. Während draußen um ihn herum die Hölle tobt.

„Flashback“ nennt das der Hamburger Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie Andreas Krüger. Es ist ein Zustand, als explodierten bei den Betroffenen die Köpfe. „Das ist ein Horrortrip“, erklärt Krüger und erzählt von einem elfjährigen Mädchen, das vor sieben Jahren Gewalt in der eigenen Familie erleben musste. Wie Felix ein typischer Fall in seiner therapeutischen Praxis. Seit diesem Tag nämlich schauten immer wieder Gespenster bei der Kleinen vorbei. Sie erlebe diese Flashbacks als ganz real, ganz plastisch – fast wie damals, als das Trauma begann. Solche Kinder, sagt der Kinderpsychiater mit dem freundlichen, fast kreisrunden Gesicht, würden oft suizidal, besonders natürlich in der aktuellen Stresssituation. Kinder mit Traumata – mit psychischen, sexuellen oder körperlichen Gewalterfahrungen – bewegten sich im Lockdown unterhalb des Radars von Jugendhilfe und Kinderschutz. Für sie ist Corona wie ein Gang über dünnes Eis.

Kinderpsychatrien laufen über

Andreas Krüger weiß, wovon er redet. Der 56-Jährige leitet das über Spenden finanzierte Hamburger Therapiezentrum Ankerland, eine ambulante Station für traumatisierte Kinder und Jugendliche. Untergebracht in einem alten Pfarrhaus in Eppendorf, ist es oft letzte Anlaufstation für Patienten, die in ihrem jungen Leben schon mehr gesehen haben als die meisten Erwachsenen. „Die Kinder gehen fast alle längst am Stock“, klagt Krüger. Um wie viel dramatischer wird die aktuelle Situation für jene Kinder sein, die in der aktuellen Situation auch noch in ihrem häuslichen Umfeld Vernachlässigung und Gewalt erfahren?

Der Kinderpsychiater mit der dunklen runden Brille redet sachlich und bedacht. Ab und an aber werden auch seine Worte drastisch: „Vor dem Lockdown schlugen betrunkene Täter vielleicht nur am Wochenende zu, jetzt aber sind sie den ganzen Tag zu Hause.“ Schulen, Kindergärten und Vereine seien in solchen Situationen eigentlich lebensrettende Ressourcen. Doch das für diese Kinder besonders wichtige „gute Leben“ findet aktuell nicht mehr statt. Das Ergebnis: Kinderpsychiatrien laufen über und Kliniken kommen bei der Versorgung nicht hinterher.

Leid mit Ansage

Und mit dem Ende der Pandemie werden die Probleme nicht verschwinden. Im Gegenteil. In keiner wissenschaftlichen Disziplin weiß man das bereits jetzt so gut wie in der sogenannten Psychoneuroimmunologie. Es ist ein relativ junger und interdisziplinärer Teilbereich der Medizin, in dem man sich mit den dynamischen Wechselwirkungen von Psyche und Immunsystem auseinandersetzt. Der Arzt, Psychologe und Psychotherapeut Christian Schubert beschäftigt sich mit diesem Forschungsgebiet seit über 25 Jahren.

Für den Wissenschaftler an der Medizinischen Universität Innsbruck war bereits zu Beginn der Corona-Krise klar, dass die Lockdown-Maßnahmen jene Folgen zeitigen würden, die nun durch erste Studien belegt werden können: „Wenn man Menschen in Situationen bringt, in denen biopsychosoziale Entwicklungen verzögert oder gar abgebrochen werden, muss man sich nicht wundern, wenn man einige Monate später solch erschreckende Ergebnisse bekommt.“

Wissenschaftlich belegte Schreckensszenarien

Dabei ist Schubert damals beileibe kein Hellseher gewesen. Seine wissenschaftlichen Daten sind fundiert und fußen auf jahrzehntelangen Forschungsarbeiten. Mit Verweis auf die sogenannte „Adverse Childhood Experiences Study“ des amerikanischen Präventivmediziners Vincent Felitti sieht Schubert für die jetzige Generation an Kindern und Jugendlichen eine Katastrophe am Horizont lauern. In einer groß angelegten Untersuchung mit 47.000 Probanden hatte Felitti bereits 1998 feststellen können, dass belastende Kindheitserfahrungen in späteren Jahren zu massiven körperlichen Schädigungen führen werden. Frühe Traumatisierungen, Vernachlässigung, Einsamkeit, Überforderung oder belastende häusliche Situationen seien der Stoff, aus dem später Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Autoimmunstörungen und sogar Krebs erwüchsen. „Felittis Studie zufolge reichen sechs belastende Kindheitserlebnisse in den ersten 18 Jahren, um einen Lebenszeitverlust von 20 Jahren zu generieren“, sagt Schubert.

Seiner Meinung nach müssten solche Forschungsergebnisse gerade jetzt einen Aufschrei produzieren: „Wenn wir das wissen, dann dürfen wir doch nicht länger warten. Wir können das den Kindern nicht weiter antun – Kinder, von denen wir sehr früh wussten, dass sie kaum anfällig für Covid-19 sein werden. Kinder, die noch unreife Abwehrmechanismen haben und deren psychische Struktur erst noch im Entstehen begriffen ist.“

Die Psychoneuroimmunologie jedenfalls legt den Verdacht nahe, dass wir uns mit der aktuellen Corona-Politik auf einem gefährlichen Irrweg bewegen: Laut einer Studie im Fachblatt Scientific Reports haben die 1,2 Millionen Menschen, die bis Januar weltweit im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben sind, zusammen 20,5 Millionen Lebensjahre verloren. Eine gigantische, eine erschreckende Zahl. Doch sollte Christian Schubert recht haben, dann scheint sie die wirklich verlorenen Jahre nicht mal annähernd zu umfassen. Diese Jahre nämlich wird die Gesellschaft erst später verlieren – am Ende der Zukunft ihrer Kinder.
 

Dieser Text stammt aus der April-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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