Corona-Pandemie - Die Daten stimmen noch immer nicht

Auf Grund fehlerhafter Daten lassen sich keine vernünftigen politischen Entscheidungen treffen. Der Wert der Hospitalisierungsinzidenz zum Beispiel ist eklatant falsch, viele Fälle werden zu spät gemeldet. Dadurch kann es so scheinen, als ob die Inzidenz sinkt, während sie in Wirklichkeit steigt.

Wird es an Weihnachten dramatisch auf den Intensivstationen? / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

So erreichen Sie Mathias Brodkorb:

Anzeige

Dass es in einer Pandemie vor allem auf Reaktionsgeschwindigkeit ankommt, hat Deutschland nicht nur im letzten, sondern auch in diesem Herbst erneut schmerzlich erfahren. Je länger die Politik mit Entscheidungen wartet, desto mehr eskaliert die Lage und desto einschneidender muss am Ende gehandelt werden. „Wir hätten viel früher diese Konsequenz im Umgang mit ungeimpften Bürgerinnen und Bürgern an den Tag legen müssen“, sagte Jens Spahn (CDU) deshalb auch auf seiner letzten Bundespressekonferenz als Gesundheitsminister.  Noch Ende Oktober allerdings wollte auch er die epidemische Lage nationaler Tragweite auslaufen lassen.

Aber nicht nur zögerliche politische Entscheidungen verschärfen die Situation, sondern auch fehlerhafte oder unvollständige Daten. Denn die Politik kann ja nur auf Basis des aktuellen Kenntnisstandes handeln. Und wenn die Daten ein falsches Bild liefern, werden die politischen Entscheidungen selbst dann unzureichend sein, wenn die Politik auf dieser Basis konsequent handelt.

Die Datenlage ist allerdings auch heute noch alles andere als solide. In der Vergangenheit stützte sich die Politik auf die Infektionsinzidenz, also die Zahl der täglichen Infektionen im Verhältnis zur Bevölkerungszahl. Derzeit liegt diese Inzidenz bei rund 440 Fällen je 100.000 Einwohnern.

Allerdings sagt diese Zahl unmittelbar weder etwas über die tatsächlich Erkrankten noch die Frage aus, wie viele am Ende schwer erkranken und das Gesundheitssystem „belasten“. Für sich genommen zeigt sie nur, wie schnell sich das Coronavirus verbreitet.

Hospitalisierungsinzidenz

In dem Maße, wie die Impfquote stieg und sich der Zusammenhang zwischen den Infektionszahlen und der Belastung des Gesundheitssystems lockerte, mussten andere Entscheidungskriterien her. Heute stützt sich die Politik daher auf die sogenannte Hospitalisierungsinzidenz, also die Zahl der covidbedingten Krankenhausaufenthalte je 100.000 Einwohnern. Für den 2. Dezember 2021 meldete das RKI einen Wert von 5,47.  Allerdings ist dieser Wert falsch. Und zwar in eklatanter Weise.

Das liegt daran, dass es Deutschland auch rund zwei Jahre nach der Pandemie nicht schafft, die Datenmeldungen verlässlich zu organisieren. Mitunter dauert es drei Wochen, bis zumindest rund 95 Prozent der Hospitalisierungsmeldungen an den richtigen Stellen eingetroffen sind und ausgewertet werden können.

Die Auswirkungen dieser Verzögerungen sind enorm. Vergleicht man die tagesaktuellen Daten des RKI („fixierte Werte“) mit jenen, die nachträgliche Aktualisierungen enthalten, wird das ganze Ausmaß des Dilemmas deutlich. Während Mitte November eine Hospitalisierungsinzidenz von 4,65 gemeldet wurde, stellte sich nachträglich heraus, dass sie in Wahrheit bei einem Wert von fast 10 gelegen hatte und damit mehr als doppelt so hoch war.

Dabei lässt sich über die Monate hinweg ein klares Muster erkennen: Je höher die Inzidenzen liegen, desto größer wird die Fehlerquote zu spät gemeldeter Fälle. Je mehr Fälle auftauchen, desto weniger gelingt es den Beteiligten, sie verwaltungstechnisch abzuarbeiten. Noch immer sind die Behörden also nicht so aufgestellt, wie es in einer Pandemie nötig wäre.

Neue Schwellenwerte

Dieses Datenproblem ist dabei keine wissenschaftliche Spielerei, sondern hat handfeste Auswirkungen. Erst am 18. November 2021 hatten sich die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten auf neue Schwellenwerte für politische Maßnahmen geeinigt.  Bei einer Hospitalisierungsinzidenz von 3 sollte demnach der Zugang zu öffentlichen Veranstaltungen eingeschränkt und die 2G-Regel umgesetzt werden, ab einer Inzidenz von 6 in die 2Gplus-Regel umgeschwenkt und ab einer Inzidenz von 9 konsequent Maßnahmen gemäß Infektionsschutzgesetz ergriffen werden.

Am 18. November 2021 lag die Hospitalisierungsrate offiziell bei 5,3. Heute wissen wir, dass sie in Wahrheit schon einen Wert von 11,11 erreicht hatte. Der Wert von 9 war bereits eine Woche zuvor überschritten worden. Die logische Schlussfolgerung hätte deshalb eigentlich ein Lockdown gewesen sein können.

Nun könnte man entschuldigend meinen, dass dieses Dilemma den Verantwortlichen nicht zum Vorwurf gemacht werden kann. Aber das wäre etwas zu einfach. Seit Monaten nämlich arbeiten Wissenschaftler europaweit an statistischen Modellen, die die verzögerten Meldungen berücksichtigen und durch Schätzungen ein realistischeres Bild liefern. Besonders irritierend ist dabei die Tatsache, dass auch das RKI selbst beständig solche Daten erzeugt.

Das Verfahren ist dabei im Grunde recht simpel: Man analysiert rückblickend die Muster der zu späten Meldungen und addiert diese Effekte auf die aktuellen Daten und erhält so ein ziemlich wahrscheinliches Bild von der tatsächlichen Lage. Nach Angaben des RKI lag am 29. November 2021 die aktuell gemeldete Hospitalisierungsrate bei einem Wert von 5,5, ergänzt um die wahrscheinliche Fehlerquote allerdings bei 11,9 („adjustierte Inzidenz“) und damit mehr als doppelt so hoch. In Thüringen sogar bei 36,8.

Inzidenz steigt in Wahrheit

Durch die verzögerten Meldungen entsteht in der öffentlichen Kommunikation sogar ein fataler gegenläufiger Eindruck. Die vom RKI täglich „aktualisierte Inzidenz“ erscheint über Wochen als rückläufig, obwohl die wirkliche Inzidenz in Wahrheit steigt. Das „aktuell“ bezieht sich also keinesfalls darauf, dass die Daten ein wirklichkeitsgetreues Bild der Lage liefern, sondern dass sie jeden Tag um fehlende Werte korrigiert, also „aktualisiert“ werden müssen.

Die Fehlerquoten infolge zu später Meldungen sind dabei in allen Bundesländern hoch, aber es gibt zwischen ihnen auch deutliche Unterschiede. Letztlich stellen die Abweichungen zwischen den tagesaktuellen und nachträglich korrigierten Werten nichts anderes als eine Maßzahl für organisatorische Unzulänglichkeiten dar.

Die sonst viel gescholtene Hansestadt Bremen erreicht nicht nur bei der Impfquote, sondern auch mit einer „Dunkelziffer“ von nur rund 40 Prozent zu spät gemeldeter Fälle deutschlandweit den Spitzenplatz. Offensichtlich gelingt es ihr mit Abstand am besten, die Meldeverfahren zwischen Krankenhäusern und Gesundheitsbehörden zeitnah und verlässlich zu steuern. Besonders schlecht hingegen machen es das Land Brandenburg und die Hansestadt Hamburg. Nur rund 40 Prozent der tatsächlichen Hospitalisierungsfälle werden hier zeitnah erfasst und stehen als Datenbasis für politische Entscheidungen zur Verfügung.

Angesichts dieser Datenlage ist es erstaunlich, dass die Politik ihre Entscheidungen in Sachen Corona-Pandemie noch immer auf unvollständige Datensätze stützt und so zwangsläufig zu späten Entscheidungen kommen muss. Die Hospitalisierungsinzidenz hat dabei ohnehin schon den Nachteil, dass sie zeitlich der Infektionsinzidenz um rund zwei bis drei Wochen hinterherläuft.

Die Infizierten müssen ja zunächst erkranken, um im Krankenhaus behandlungsbedürftig zu werden. Schon diese Verzögerung stellt ein erhebliches Risiko für rechtzeitig zu beschließende Maßnahmen dar. Der Bundesgesundheitsminister stellt daher eine düstere Prognose für die Weihnachtszeit: „Deutschland wird die Zahl von über 5.000 Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen deutlich noch in den nächsten Tagen und Wochen übersteigen. Die Lage auf den Intensivstationen wird (…) rund um Weihnachten ihren traurigen Höhepunkt erreichen.“

Hinterherhinken um acht Wochen

Diese dramatische Entwicklung ist dabei auch Folge der Tatsache, dass die Probleme in den Meldeketten das Hinterherhinken gegenüber der Infektionsinzidenz auf fünf bis sechs Wochen ausdehnen. Kommt dann noch politisches Zögern hinzu, läuft man dem Infektionsgeschehen unweigerlich um acht Wochen hinterher. Genau das ist in diesem Herbst geschehen. Wie schon im letzten Jahr! Und das alles kostet Menschenleben.

Dabei wäre die Lösung recht einfach. Zwar mag sich die Meldelücke durch kluge Organisation vermindern lassen, aber man wird sie nie auf null bringen, und schon gar nicht kurzfristig. Dafür sind einfach zu viele Akteure am Zustandekommen der Daten beteiligt. Aber man könnte neben den unvollständigen Daten der Gesundheitsämter ergänzend auf die Schätzungen der Wissenschaft zurückgreifen. Diese Daten stehen nicht nur kostenfrei, sondern täglich beim RKI zur Verfügung.  

Dann würden sich Deutschlands Krankenhäuser auch nicht mehr darüber wundern, dass die offiziell veröffentlichten Daten als vergleichsweise niedrig erscheinen, während gleichzeitig die Intensivstationen volllaufen. Und die Politik würde endlich mit realistischen Werten arbeiten und könnte deshalb bessere und vor allem schnellere Entscheidungen treffen.

Anzeige