Corona-Aufarbeitung - Systemische Ursachen und persönliche Verantwortung

Während der Pandemie sind seitens der Politik erhebliche Fehler begangen worden. Um die Versäumnisse gründlich aufzuarbeiten und verloren gegangenes Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen, bedarf es einer vom Bundestag eingesetzten Kommission.

In den vergangenen Jahren kein seltener Anblick: ein abgesperrter Spielplatz / picture alliance
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Bernhard Müller ist Astrophysiker und Professor an der Monash University in Australien.

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Nach drei Jahren neigt sich die akute Phase der Corona-Pandemie dem Ende zu. Die sichtbaren Maßnahmen verschwinden, vielfältige Folgen bleiben. Es regt sich spürbar das Bedürfnis nach Aufarbeitung. Laut einer Umfrage der Zeit wünschen sich mittlerweile 58 Prozent der Deutschen eine vom Bundestag eingesetzte Kommission zur Aufarbeitung der Pandemie. Prominente Akteure beginnen darüber zu sprechen, was sie aus heutiger Sicht anders machen würden, was sie (oder andere) von Anfang an anders hätten machen sollen und was sie vorsichtiger, deutlicher oder zu einem anderen Zeitpunkt hätten sagen sollen.

Es ist freilich keine harmonische gemeinsame Rückschau, welche die verschiedenen Erfahrungen aus der Pandemie sinnvoll zusammenführt. Der Chor der Stimmen ist vielfältiger, der Ton der Auseinandersetzung weniger martialisch als in der Zeit, da mit harten Bandagen um konkrete Maßnahmen gerungen wurde. Aber es täuscht, wenn sich alte Gegner nun scheinbar in früher strittigen Punkten einig sind, etwa dass Schulschließungen überflüssig oder Ausgangssperren unverhältnismäßig waren, wie Karl Lauterbach es jüngst einräumte.

Zwischen den verschiedenen Deutungen des Geschehens liegen nach wie vor tiefe Gräben; ja, es bilden sich neue Gräben zwischen ehemaligen Verbündeten. Die Verantwortung für Schulschließungen wird hin- und hergeschoben, Lothar Wieler sieht sie nicht beim RKI, Armin Laschet beim Kanzleramt, Markus Söder und Karl Lauterbach, Karl Lauterbach mal bei der Wissenschaft (für die er stets selbst stehen wollte), mal in Bayern, mal anderswo, aber nie wirklich bei sich selbst. An den Rändern des Diskurses geht weiter die Angst um – hier vor maskenloser Durchseuchung, dort vor einer vermeintlich impfbedingten Übersterblichkeit. Die Wunden aus der Pandemiezeit heilen nicht, sie verfestigen sich zu Ressentiments.

Einfache Deutungsschemata greifen nicht

All das sollte uns nicht überraschen, denn in Anlehnung an das Wort Abraham Lincolns gilt für die Corona-Pandemie: Die Gebete der einen wie der anderen Seite konnten nicht vollständig erhört werden. Die Pandemie war ebensowenig bloße verschwörerische Inszenierung der Eliten wie die Glanzstunde einer ins Heldenhafte verklärten Wissenschaft im uneigennützigen Kampf gegen Krankheit und die Ignoranz des Pöbels. Sie war ein chaotisches Spiel verschiedenster Akteure in oftmals widersprüchlichen Rollen, an allen Ecken geprägt von einer Mélange aus Brillanz und Einfalt, persönlicher Größe und Schäbigkeit, Heldenmut und Feigheit, Opferbereitschaft und korruptem Eigennutz. Einen größeren Teil des Getümmels überblicken konnten nur wenige, auch wenn die meisten glaubten, zielgerichtet das Richtige für die Gesellschaft oder für sich selbst zu tun.

Der Herzog von Wellington bemerkte einst, man könne genauso wenig die Geschichte einer Schlacht schreiben wie die Geschichte eines Tanzballs, und für die Pandemie verhält es sich ähnlich. Einfache Deutungsschemata greifen nicht. Nicht jeder Covid-Impfskeptiker war ein Aluhutträger, nicht jeder Impfpflichtbefürworter ein gefühl- und gewissenloser Technokrat. Die Verirrungen der meisten erklären sich wohl aus Schwäche, nicht aus Bosheit.

 

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Gerade deshalb muss die Aufarbeitung der Pandemie aber intensiviert und systematischer angegangen werden – in einer vom Bundestag eingesetzten Kommission, aber auch darüber hinaus in geeigneten partizipativen Formaten und durch kritische Stimmen aus der Wissenschaft. Denn wenn ein Großteil tatsächlich in lauterer Absicht gehandelt hat und trotzdem massive Fehler begangen und tiefe Wunden geschlagen wurden, deutet dies auf systemische Probleme in der Krisenbewältigung, die analysiert und behoben werden müssen und die nicht an Personen festgemacht werden können.

Hierbei darf man nicht an der Oberfläche stehen bleiben, etwa bei den technischen Defiziten in der Datenerfassung und -verarbeitung durch die Gesundheitsbehörden. Wir müssen auch fragen: Haben strukturelle Faktoren dazu geführt, dass Politik, die organisierte Wissenschaft und die Medien verfügbares Wissen oft haben brachliegen lassen? Warum wurden auf den verschiedensten Ebenen – von wissenschaftlichen Akademien bis hin zu Lehrern, Kindern, Eltern als Teil der Schulgemeinschaft – Bedenkenträger abgebügelt und nicht konstruktiv eingebunden? Haben Organisationsdefizite und Interessenkollisionen dazu beigetragen, dass notwendige Begleitforschung zu Präventionsmaßnahmen nicht durchgeführt wurde? Wie lassen sich politische Entscheidungsprozesse und wissenschaftliche Beratungsprozesse in Krisenzeiten effizient organisieren, ohne auf autokratische Führungsmuster zurückzufallen?

Ein besseres Verständnis für derlei Fragen wird vielen Akteuren einen respektableren und tragfähigeren Weg zur Korrektur vergangener Fehler ermöglichen als die bisher populäre Strategie, sich vor persönlichen Schuldvorwürfen zu schützen, indem man mit dem Finger auf andere zeigt. Gleichzeitig kann der Blick auf systemische Ursachen das oft – auch vorschnell – eingeforderte Vergeben auf der persönlichen Ebene erleichtern. Wenn wenige wirklich „schuldig“ sein sollten, verdienen die Zurückgelassenen und Verletzten schließlich wenigstens eine Antwort auf die Frage: Wie konnte das alles passieren? Und für zukünftige Krisen ist der Blick auf systemische Ursachen unabdingbar, denn die nächste Krise muss keine Pandemie sein – eine bessere Erfassung von Gesundheitsdaten oder eine besser ausgestattete Stiko, zweifellos nötig im Kontext der Pandemievorsorge, werden dann nichts nützen.

Persönliche Verantwortung darf nicht ausgeblendet werden

Losgelöst von einzelnen Personen die tiefgreifenden Mechanismen hinter den Irrtümern und Fehlern der Pandemiezeit zu betrachten, darf freilich nicht bedeuten, die Frage nach persönlicher Verantwortung auszublenden. Vielmehr geht es darum, die Verantwortung von Akteuren nach dem Kontext zu beurteilen, in dem sie gehandelt haben – also beispielsweise auch ihr Vorwissen, ihren Verantwortungsbereich und den Grad ihrer Entscheidungsfreiheit zu berücksichtigen.

Wer als einfacher Bundestagsabgeordneter für eine aus fachlicher Sicht absehbar sinnlose allgemeine Impfpflicht gestimmt hat, dem mag man dies angesichts des Drucks der öffentlichen Meinung und wenig geglückter Beratung durch prominente wissenschaftliche Institutionen nachsehen; wer als hochrangiger Wissenschaftler die entsprechenden Lehrbücher und Fachartikel ignoriert hat, muss sich dafür mehr Vorwürfe gefallen lassen. Konzepte zur nuancierten Einordnung persönlicher Verantwortung sind andernorts (z.B. Sicherheitskultur in der Luftfahrt) etabliert und können als Blaupause für eine systematische Aufarbeitung der Pandemie dienen.

Es bedarf einer vom Bundestag eingesetzte Kommission

Eine differenzierte Einordnung systemischer Ursachen und persönlicher Verantwortung ist zweifellos eine Mammutaufgabe; die Verästelungen der Corona-Krise werden Historiker noch auf Jahrzehnte beschäftigen, doch der erste große Schritt liegt klar auf der Hand. An dieser Stelle braucht es nur Mut, auf die reinigende Wirkung einer vom Bundestag eingesetzten Kommission zu vertrauen und die Lektion aus der Aufarbeitung vergangener Krisen und Katastrophen zu beherzigen: Ohne umfassende öffentliche Anhörung von Beteiligten und Sachverständigen, ohne Zugang zu allen relevanten Dokumenten geht es nicht, denn sonst sind wir bei der Einschätzung von Verantwortung zu sehr auf Spekulationen angewiesen.

Gerade die Wissenschaft müsste sich enthusiastisch dieser Aufgabe annehmen. Es ist keine kleinliche Mäkelei, keine besserwisserische Umdeutung, wenn man jetzt fordert, die Zeit der Pandemie wirklich aufzuarbeiten statt die Geschichte der Pandemie gewissermaßen mit ein paar notdürftigen Pflastern so zusammenzuflicken, als hätte es keine vermeidbare Fehler gegeben. Beispiele gründlicher Aufklärung von Fehlern mit katastrophalen Folgen – wie 1986 nach der Explosion des Space Shuttle Challenger – gehören zu den Sternstunden der Wissenschafts- und Technikgeschichte. Es ist Zeit, sich auf sie zu besinnen und den täglich unglaubwürdiger werdenden Triumphalismus hinter sich zu lassen.

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