Kommen heute Lockerungen in der Coronakrise? - Merkel und die Marshmallows

Heute beraten Kanzlerin Merkel und die Ministerpräsidenten darüber, wie sie die Ausgangsbeschränkungen lockern können. Das Ganze wirkt mitunter wie ein gigantischer Marshmallow-Test: Wenn wir brav sind, gibt es vielleicht bald etwas Süßes.

Bestehen wir Merkels Test? / dpa
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Manchmal schöpft auch die Wissenschaft schöne Worte. „Belohnungsaufschub“ ist so eines. Es geht zurück auf einen Versuch des Psychologen Walter Mischel, der in den 1970er-Jahren als Marshmallow-Test zu einiger Berühmtheit kam. Der amerikanische Wissenschaftler sagte kleinen Kindern, die vor einem Marshmallow saßen, dass sie mit dem Aufessen warten sollten, bis eine Bezugsperson von selbst wieder in den Raum kommt. Dann gäbe es einen zweiten Marshmallow.

Viele Kinder hielten die Viertelstunde, die die Person etwa wartete, bis sie wiederkam, nicht aus. Sie aßen den ersten Marsmallow und brachten sich um den zweiten, der ihnen bei Wohlverhalten versprochen wurde. Der Jieper auf das schnelle und dafür kürzere Glück war bei vielen größer.

Wenn Ihr brav seid, gibt's was Süßes

Die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten der Länder gehen in der Coronakrise ähnlich vor wie die Wissenschaftler im Marshmallow-Test. Wenn ihr jetzt ganz brav seid und die Regeln befolgt, dann gibt es hinterher auch was Süßes. In diesem Fall die Lockerung der Ausgangsbeschränkungen. Friseure vielleicht, Klamottenläden, einen Restaurantbesuch oder was sich sonst der darbende Konsummensch von Herzen wünscht.

Diese Vorgehensweise hat bisher ganz gut funktioniert. Aber erstens gibt es erste Anzeichen einer zunehmenden Gereiztheit, eines Kippens der Stimmung, wie ein Strategiepapier des Innenministeriums jüngst beschrieb. Außerdem ist der Reiz des Besonderen, den dieser Ausnahmezustand zum Teil hat, nach mehr als drei Wochen verflogen. Zunehmend nervt es nur noch, keinen Ballsport treiben zu können, keine Freunde zu treffen. Das ist jetzt keine empirische Erhebung, sondern nur eine subjektive Beobachtung. Aber die Gereiztheit nimmt auch zu. Man sieht das am Blick der Leute auf der Straße, und die Hand ist beim Autofahren auch schneller auf der Hupe als sonst.

Der voreilige Helge Braun wurde zurückgepfiffen 

Besonders gravierend aber nähme sich aus, wenn das Versprechen „Wenn Ihr schön brav seid, dann gibt es etwas Süßes“ nicht eingelöst wird. Das war der Grund, weshalb Bundeskanzlerin Angela Merkel ihren Kanzleramtsminister Helge Braun ganz schnell seine eigenen Worte fressen ließ, als er in einem Blog schon sehr früh und dezidiert Lockerungen für jüngere Menschen in Aussicht gestellt hatte. 

Die hoch gehandelten, wenn auch allgemeinen Aussagen der Wissenschaftler der Leopoldina haben Merkel und ihre regierenden Länderkollegen bei ihrem heutigen Treffen zusätzlich unter Erwartungsdruck gesetzt. Kurzum: Wenn der Belohnungsaufschub nicht zur Belohnung führt, dann droht Frust.

Ein Dilemma wie in einem griechischen Drama

Es ist ein Dilemma, das in einem griechischen Drama nicht tragischer angelegt sein könnte: Ohne Konzessionen wird die Regierung am heutigen Mittwoch aufgrund der geweckten Erwartungen nicht davon kommen. Zumal die Wirtschaft danach lechzt wie der Dürstende nach Wasser. Und das sind nicht einfach Lobby-Interessen, die erhoben werden, weil es sich gerade anbietet. Da geht es für viele Unternehmen ums nackte Überleben. Donald Trump, man mag seine Eskapaden mit Kopfschütteln verfolgen, hatte schon recht damit, als er sagte, die Entscheidungen über etwaige Lockerungen würden die schwersten sein, die er je treffen müsste, und er hoffe, er treffe die richtige.

Denn würde das Hochfahren des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft dem Virus die Chance auf eine zweite Welle eröffnen, dann wären alle Bemühungen und die damit verbundenen Kosten vergebens gewesen.

Die Studie von Walter Mischel seinerzeit hat übrigens (allerdings umstrittenerweise) ergeben, dass die Kinder, die länger warten konnten und zu zwei Marshmallows kamen, sich in ihrem weiteren Leben als die stabileren und willensstärkeren Persönlichkeiten erwiesen. Man wünschte sich, dass die Gesellschaft, dass wir alle diesen Merkelschen Marshmallow-Test auch bestehen und uns als verantwortungsbewusst und reif erweisen. Bis hierher hat das für eine eigentlich zutiefst verwöhnte Wohlstandsgesellschaft voller Anspruch auf selbstverständliche Annehmlichkeiten ziemlich gut funktioniert.

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