Corona und Justiz - Es bleibt ein Trauerspiel 

Das Misstrauen vieler Bürger in den Rechtsstaat sitzt nach dem justiziellen Versagen der Corona-Jahre noch immer tief. Das aktuelle Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das die Rechtmäßigkeit der Lockdowns feststellt, sendet ein weiteres fatales Signal aus.

Nur eine konsequente Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen würde verlorenes Vertrauen zurückgewinnen / picture alliance
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Autoreninfo

Volker Boehme-Neßler ist Professor für Öffentliches Recht, Medien- und Telekommunikations- recht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Davor war er Rechtsanwalt und Professor für Europarecht, öffentliches Wirtschaftsrecht und Medienrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Technik (HTW) in Berlin.

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Es gibt Gerichtsurteile, über die man nicht streiten kann. Sie sind juristisch-handwerklich tadellos, und sie tragen zum Rechtsfrieden in der Gesellschaft bei. Die aktuellen Urteile des Bundesverwaltungsgerichts zur Schließung von Sportanlagen, Hotels und Restaurants während der Corona-Pandemie gehören nicht dazu. Das Gericht macht es sich leicht, und es bleibt der Linie der Justiz in den Corona-Jahren treu. Die Richter in Deutschland haben für den Staat und gegen die Freiheit entschieden. Ganz wenige Ausnahmen bestätigen die Regel. Das Gericht hat damit die Chance vertan, einen Beitrag zur Aufarbeitung der Corona-Krise zu leisten. 

Die Corona-Pandemie ist vorbei. Sie hat drei Jahre lang das Leben von Millionen Menschen geprägt. Sie hat nicht zuletzt den Staat, die Gesellschaft und die einzelnen Bürger an ihre Grenzen gebracht. Jetzt wäre die Zeit, die staatlichen Maßnahmen in der Rückschau kritisch aufzuarbeiten. Das ist aus mindestens zwei Gründen dringend notwendig. Der Staat und seine Institutionen müssen aus den Fehlern lernen. Sonst macht er dieselben Fehler in der nächsten Krise wieder.

Corona-Jahre haben Gräben aufgerissen

Die Corona-Zeit hat – anders als gehofft – den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht gestärkt. Im Gegenteil: Die Corona-Jahre haben in der Gesellschaft Gräben aufgerissen. Sie haben das Vertrauen weiter Teile der Bevölkerung in den Staat beschädigt. Teile der Bevölkerung sind gnadenlos ausgegrenzt worden. Das gilt vor allem für die ungeimpften Bürger. Das böse – und sachlich völlig falsche – Wort von der „Pandemie der Ungeimpften“ hat Wunden geschlagen, die noch lange nicht verheilt sind.  

Von allein schließen sich die Gräben in der Gesellschaft nicht. Auch das Vertrauen in den Staat kehrt nicht automatisch wieder. Die politischen und psychologischen Schäden werden nur behoben, wenn schonungslos Fehler identifiziert werden, wenn Unrecht anerkannt wird und Schäden wiedergutgemacht werden. Eine Aufarbeitung ist dringend nötig. Schweigen, Vertuschen und Verdrängen haben langfristig schwere Folgen für die Gesellschaft. Ob Politik und Gesellschaft diese Aufarbeitung schaffen, ist im Augenblick völlig offen. Es gibt Ansätze, aber auch viele offene und subtile Widerstände. 

Bundesverfassungsgericht hat keine „roten Linien“ gezogen

Zur gesellschaftlichen Aufarbeitung gehört die Frage nach der traurigen Rolle, die die Justiz in der Corona-Zeit gespielt hat. Im Rechtsstaat haben die (Verwaltungs-) Gerichte eine grundlegende Aufgabe. Sie müssen die Verfassung und das Recht durchsetzen, gerade auch gegenüber dem Staat und seinen Behörden. Dadurch schützen sie die Freiheit der Bürger vor dem übergriffigen Staat. Von wenigen Ausnahmen abgesehen hat die Justiz ihre Rolle als Hüterin der Freiheit in der Pandemie-Zeit nicht erfüllt. Die Gerichte waren unkritisch gegenüber den staatlichen Corona-Maßnahmen. Selbst die extrem weitreichenden Lockdowns haben (fast) alle Gerichte unkritisch als rechtmäßig eingestuft. Den Ton dafür hat das Bundesverfassungsgericht gesetzt, das (fast) alle staatlichen Regeln kritiklos akzeptiert hat.

Das Gericht in Karlsruhe hat keine „roten Linien“ gezogen, die den „Lockdown-Aktivismus“ des Staates hätten bremsen können. Traditionell sieht es sich selbst als Hüter der Verfassung. In der Pandemie sind die Richter diesem Anspruch nicht gerecht geworden. So hat sich die Verfassung die Gerichtsbarkeit im Rechtsstaat nicht vorgestellt. Auch hier sind Selbstkritik, die Suche nach Fehlern, das offene Eingeständnis von Fehlurteilen, also Aufarbeitung bitter nötig. 

Leipziger Urteile sind verstörend 

Die aktuellen Beschlüsse des Bundesverwaltungsgerichts sind vor diesem Hintergrund eine große Chance gewesen. Das Gericht hätte sie für juristische Selbstkritik nutzen können. Die Richter haben diese Chance vertan. 

Das höchste deutsche Verwaltungsgericht in Leipzig hatte in letzter Instanz über die Rechtmäßigkeit von harten und tiefen Grundrechtseinschränkungen zu entscheiden. Es ging um die Schließung von Restaurants, Hotels und Fitnessstudios im Herbst 2020. Das waren heftige Maßnahmen, die wirtschaftliche Existenzen bedrohten und nicht selten vernichteten. Sie waren schon nach dem damaligen medizinischen und epidemiologischen Wissensstand nicht alternativlos. Und sie waren – und sind – auch juristisch hoch umstritten. Nur zwei der zahlreichen Fragen: Gab es damals eine wirksame gesetzliche Grundlage, ohne die im Verfassungsstaat keine Freiheitsbeschränkungen denkbar sind? Und waren die Maßnahmen überhaupt verhältnismäßig? Das ist immerhin die entscheidende Voraussetzung für einen Eingriff in Grundrechte. 

 

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Das Bundesverwaltungsgericht macht es sich einfach. Ohne großen argumentativen Aufwand stellt es fest, dass die Maßnahmen – mit einer kleinen Ausnahme – rechtmäßig waren. Dabei hebt es unter anderem Urteile des saarländischen Oberverwaltungsgerichts auf. Als eine der wenigen Ausnahmen in der geschlossenen Justiz-Phalanx hatte dieses Gericht die harten Schließungen für rechtswidrig erklärt. Die Leipziger Richter sehen das anders und setzen ihre Ansicht durch. 

Die Leipziger Urteile sind – man kann es nicht anders sagen – verstörend. Das Gericht setzt nahtlos den Kurs der Justiz in der Coronazeit fort. Der Tenor ist: Es war eine Krise, und deshalb durfte der Staat alles. Die Begründung ist apodiktisch, Zweifel und Abwägung sucht man in der bisher vorliegenden kurzen Begründung vergebens. Selbstkritik und Aufarbeitung sehen anders aus. 

Beunruhigende Signalwirkung für den Rechtsfrieden

Gerichte entscheiden nicht im luftleeren Raum. Sie arbeiten in einem bestimmten gesellschaftlichen Umfeld und in einer bestimmten historischen Situation. Ihre Entscheidungen können Auswirkungen haben, die über das Recht hinausgehen. Das gilt besonders für die obersten Bundesgerichte. Ob sie es wollen oder nicht: Ihre Entscheidungen prägen nicht nur die juristischen Fachdiskussionen und die Arbeit der unteren Instanzgerichte. Manche Urteile haben Signalwirkung weit über den juristischen Bereich hinaus. Sie beeinflussen die Diskussionen in Gesellschaft und Politik ganz erheblich. 

Das Signal, das die Richter aus Leipzig senden, ist fatal. Denn ihre Botschaft lautet: Die Lockdowns waren rechtlich zulässig. Es gibt nichts zu korrigieren. Das heißt auch: Eine Aufarbeitung der Rolle, die die Justiz in der Corona-Zeit gespielt hat, ist unnötig. Denn sie hat alles richtig gemacht. Das ist selbstgerecht – und es ist sachlich falsch. In der Corona-Krise hat auch die Justiz Fehler gemacht und deutlich Vertrauen bei den Bürgern eingebüßt. Auf längere Sicht ist das gefährlich. Dieser Vertrauensverlust geht an die Wurzeln des Rechtsstaats. Denn die Bürger müssen ein Minimum an Vertrauen in die Richter haben. Sonst verlieren die Gerichte an Akzeptanz und Bedeutung – mit einer problematischen Folge: Sie können immer weniger zum (Rechts-)Frieden in der Gesellschaft beitragen. Aber dafür sind sie da – jedenfalls in einem Rechtsstaat, der funktioniert. 

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