Rufe nach Corona-Kurswechsel - Die Stimmung kippt

Die Maßnahmen in der Corona-Krise stoßen immer mehr auf Skepsis und Zweifel. Doch die Entscheidungsträger weichen kaum von ihrem Kurs ab. Das könnte nicht nur den Bürgern teuer zu stehen kommen, sondern auch politische Folgeschäden nach sich ziehen.

Viele wollen zurück zur alten Normalität; die Verantwortlichen halten dagegen / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Menschen machen Fehler. Das ist keine neue Einsicht. Entsprechend hat der Volksmund allerlei Weisheiten zum umsichtigen Handeln parat: „Vorsicht ist besser als Nachsicht“ etwa oder auch „Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste“.

Insbesondere wenn es um Leben und Tod geht, ist man als Verantwortlicher daher gut beraten, mit Augenmaß zu agieren. Die Schulschließungen ab dem 16. März und die Ausgangsbeschränkungen in der Folgewoche waren vor dem Hintergrund der damaligen Daten und der Ungewissheiten hinsichtlich Infektiosität, Ausbreitung und Letalität von SARS-CoV-2 notwendig und gut begründbar. Doch politische Entscheidung sollten, zumindest in einer Demokratie, nicht in Stein gemeißelt sein.

Fähigkeit zur Selbstkritik

Nur Diktaturen können von der Realität absehen und stur ihren Weg weitergehen – und sei es in den Untergang. Demokratische Regierungen sind jedoch dazu aufgerufen, ihren Standpunkt und ihre Lageeinschätzung jeden Tag auf den Prüfstand zu stellen. Keine Frage: Das erfordert die Fähigkeit zur Selbstkritik.

Eine Eigenschaft, die nicht zwingend zum Anforderungsprofil einer Politkarriere gehört. Doch gerade in Zeiten, in denen Politiker sich auf die Wissenschaften berufen, sollten man daran erinnern, dass die Widerlegbarkeit einer Aussage ein wichtiges Kriterium für ihre Wissenschaftlichkeit ist. Das heißt, das wissenschaftlich begründete Politentscheidungen niemals irreversible sein dürfen.

Das Worst-Case-Szenario 

Wenn die Bundesregierung im März – wie ein Strategiepapier aus dem Bundesinnenministerium verrät – bewusst ein Worst-Case-Szenario an die Bevölkerung kommunizierte und auch entsprechend handelte, dann war das zu diesem Zeitpunkt umsichtig und vernünftig. Ebenso umsichtig und vernünftig wäre es allerdings, die Gesellschaft nun schleunigst wieder auf Normalbetrieb zu schalten.

Denn zum einen mehren sich die ernstzunehmenden wissenschaftlichen Zweifel daran, dass der umfassende Shutdown überhaupt notwendig war. Ein Wink mit dem Zaunpfahl in diesem Zusammenhang war die Entscheidung des saarländischen Verfassungsgerichtshofes, der gestützt auf eine Studie der ETH Zürich die Sinnhaftigkeit umfassender Ausgangsbeschränkungen in Zweifel zog.

Der Ruf nach Kurskorrektur

Und zum anderen ist vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung nicht einzusehen, weshalb die deutsche Gesellschaft nicht langsam vom umfassenden Kontaktverbot zum gezielten Schutz von Risikogruppen übergehen sollte.

So grenzt es an Irrsinn, wenn Bundesbildungsministerin Karliczek davon fantasiert, Schülern bis weit in das nächste Schuljahr hinein den Unterricht vorzuenthalten – also einer Gruppe, die von Covid-19 in keiner Weise stärker betroffen ist als durch die jährliche Influenzawelle. Aber auch politisch ist eine Kurskorrektur angesagt: Denn die Stimmung kippt.

Die Superstars von heute sind die Buhmänner von morgen

Konnten sich die Regierenden gestern noch geradezu nordkoreanischer Zustimmungswerte sicher sein, so greift nun Skepsis um sich. Sollten sich dann die Maßnahmen der letzten Wochen als Billionen teurer Fehler herausstellen, wäre das Ergebnis ein gigantisches Politbeben. Die Superstars von heute wären die Buhmänner von morgen.

Die gesamte politische Elite des Landes wäre verantwortlich für den Flop des Jahrhunderts. Das Eis, auf dem man derzeit in Berlin, Düsseldorf oder München tanzt ist mehr als dünn. Schon aus diesem Grund wäre man in den Staatskanzleien gut beraten, zügig und mit Augenmaß mehr zu öffnen als nur Spielplätze und Museen.

Die Frage nach den Folgen

In Situationen, die für alle neu sind, werden mit Umsicht gefällte Entscheidungen erst zu Fehlern, wenn man auch dann an ihnen festhält, wenn ihre Sinnhaftigkeit fragwürdig und ihre Folgeschäden immer gravierender werden. Niemand sollte die Verantwortlichen für ihre Vorsicht kritisieren und für ihr Bemühen, Menschenleben zu retten. Doch in einer Demokratie ist die Verhängung des Ausnahmezustandes kein Wert an sich.

Großveranstaltungen wird es bis in den Herbst hinein nicht geben. Heinsberg und Tirschenreuth mahnen zur Zurückhaltung. Doch Schulen, Kaufhäuser oder Gastronomie bis in den Sommer hinein geschlossen zu halten, kann auch einen politischen Kollateralschäden mit sich bringen, der heute nicht im Ansatz zu erahnen sind.

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