Corona-Krisenrhetorik - Narzissmus als Ideologie

Wer will nochmal, wer hat noch nicht? Das kollektive Wir-Gefühl zu Beginn der Coronakrise ist dem Streben nach dem eigenen Vorteil gewichen. Besonders dringend ist, was man schon immer gefordert hat.

Me first: Busunternehmer bei einer Demo in Berlin/dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Krisen sind die Zeiten großer Worte und noch größerer Forderungen – und von Heuchelei und Scheinheiligkeit. Denn kaum war der erste Schock der Krise überwunden, besannen sich die realen Ichs wieder auf sich selbst statt auf ein wolkiges Wir. Statt blumiger Solidaritätsbekundungen hagelte es knallharte Forderungen – vor allem in eigener Sache.

Entsprechend gibt es kaum eine Sparte unserer Gesellschaft, die nicht Geld vom Staat begehrt, Abgabenreduktionen verlangt oder mit Nachdruck die Umsetzung sonstiger Forderungen einklagt. Autoindustrie, Gastronomiegewerbe, Tourismusbranche, Kulturschaffende und Sportverbände rufen nach Unterstützung durch die öffentliche Hand. Wirtschaftsverbände, die schon immer das Bargeld abschaffen wollten, sehen nun ihre Stunde gekommen. Digitalisierungsgurus verlangen die radikale Digitalisierung aller Lebensbereiche. Die Apologeten der Ganztagsbetreuung sehen sich in ihren Forderungen bestärkt. Gleiches gilt für die Anwälte der Kleinfamilie. Und wer nicht selbst auf die Idee kommt, dass er irgendein berechtigtes Interesse hat, für den steht garantiert ein Verband oder eine NGO parat, mutig die Stimme zu erheben. Denn in Corona-Zeiten gilt: Besonders dringend ist, was man schon immer gefordert hat.

Lobbyismus ist kein Verbrechen

Gut, Lobbyarbeit ist kein Verbrechen. In einer demokratischen Gesellschaft ist es auch vollkommen legitim, um Unterstützung und staatliche Zuwendungen zu werben. Und wem kann man es schon verdenken, den eigenen Vorteil im Blick zu haben? Wo etwas zu holen ist, holt man es sich. Das ist menschlich allzumenschlich. Dennoch ist die Einseitigkeit dieser Krisenrhetorik bemerkenswert. 

Denn Gesellschaften verarbeiten Krisen mit den Mitteln, die ihnen ihre Grundideologie zur Verfügung stellt. Die Gesellschaften der Antike opferten den Göttern, das christliche Mittelalter suchte Erlösung in Flagellantentum und individueller Frömmigkeit und die klassischen Industriegesellschaften der Moderne wahlweise in der Beschwörung der Nation, des Vaterlandes oder des Klassenstandpunktes.

Egoismus in blumigem Altruismus

Der bundesdeutschen Gesellschaft der späten Moderne sind solche Pathosformeln völlig fremd. Hier ist man ganz diesseitig und jeder sich selbst der Nächste, nur würde man das natürlich niemals so sagen. Also kleidet man den eigenen Egoismus in blumigen Altruismus und schwülstige Gemeinwohlrhetorik. So mutieren etwa Sportwettbewerbe, ganze Industriezweige, Kindergärten und Kulturevents unversehens zu unverzichtbaren Schlüsseleinrichtungen des Gemeinwesens, für die es gar nicht genug Ausnahmen, Hilfen oder einfach nur Geld geben kann.

Um nicht missverstanden zu werden: Bundesligaspiele sind großartig, ohne zentrale Industrien verarmt dieses Land und Kindergärten und Kultur sind ohnehin wichtig. Doch die Dreistigkeit und Borniertheit, mit denen einzelne Interessengruppen ihre jeweiligen Steckenpferde als unverzichtbar für das Gemeinwohl darstellen, ist schon bemerkenswert. Die Wurzel für so viel Impertinenz kann daher nicht allein in dem natürlichen Hang des Menschen zum Egoismus liegen. Hier sind tiefere Beweggründe am Werk. Hier zeigt die Ideologie eines Zeitalters ihr unverhülltes und hässliches Gesicht.

Mein Tun ist systemrelevant und unverzichtbar

Denn machen wir uns nichts vor: Das eigentliche Grundmotiv unserer Gesellschaft ist besinnungsloser Narzissmus, Corona macht es deutlich: Ich, wir, unser Verband, unser Anliegen, unsere Interessen, meine Tätigkeit ist unverzichtbar, wichtig, systemrelevant und besonders schützenswert. Einfach mal einzugestehen, dass im Grunde alles und jeder ersetzbar ist – auch Bücher, Magazine und Autoren im Übrigen –, ist für das narzisstische Bewusstsein der Spätmoderne unvorstellbar.

Da Narzissten in einer narzisstischen Gesellschaft ihren Narzissmus aber als Selbstlosigkeit tarnen, überrollt uns nicht nur zu Corona-Zeiten eine penetrante Welle von Forderungen im Namen des Gemeinwohls. Denn Narzissten glauben wirklich, dass ihre Interessen die Interessen aller sind, dass ihre Weltsicht die allein gültige ist und ihre Belange im Grunde dem Wohle der ganzen Menschheit dienen. Doch das ist ein Grundirrtum. Und es ist nicht unsolidarisch, hin und wieder darauf aufmerksam zu machen.

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