Konsequenzen der Corona-Krise - Das globale Panikorchester

Das Ausbleiben der Katastrophe bestätige den Erfolg der Maßnahmen, sagen die Virologen. Doch lässt sich mit dieser Logik jede staatliche Überreaktion als Erfolg verbuchen. Skepsis wird nun zur Bürgerpflicht.

Augen zu und durch? Das Gegenteil ist geboten. / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Michael Bröning ist Politikwissenschaftler und Publizist. 2021 erschien von ihm: „Vom Ende der Freiheit. Wie ein gesellschaftliches Ideal aufs Spiel gesetzt wird“ (Dietz).

So erreichen Sie Michael Bröning:

Anzeige

Übersetzt in den Straßenverkehr gleicht die globale Corona-Reaktion zunehmend einer Vollbremsung, in deren Folge sich ein in der Luft überschlagender Wagen feuersprühend in ein Kerosindepot katapultiert.

Die Arbeitslosen- und Kurzarbeitszahlen erklimmen schwindelerregende Höhen, staatliche Defizite gehen in die Milliarden, und die Vereinten Nationen erwarten Ende des Jahres wegen gerissener Lieferketten hunderte Millionen Hungernde.

Weltumspannenden Kollateralschäden

Je länger der Ausnahmezustand anhält, desto klarer wird, dass nicht nur das Virus, sondern vielerorts gerade auch die politische Reaktion eine massive Bedrohung darstellt. Denn insbesondere das auf den ersten Blick so plausible Bemühen, „die Kurve abzuflachen", hat seit Umsetzungsbeginn nicht nur das Ausmaß der Neuinfektionen, sondern weltweit auch Wohlstand, Zukunftsaussichten und demokratische Kontrollmöglichkeiten empfindlich reduziert.

„Lassen Sie uns das Erreichte nicht verspielen und einen Rückschlag riskieren“, mahnte die Bundeskanzlerin vergangene Woche im Bundestag. Der Wunsch ist verständlich. Doch zur Wahrheit gerade im globalen Vergleich gehört auch: Wenn dieses „Erreichte“ einen umfassenden Erfolg darstellt, möchte man angesichts der weltumspannenden Kollateralschäden nicht nur von einem Fehlschlag, sondern auch von weiteren Erfolgen verschont bleiben.

Startschuss für einen Überbietungswettbewerb

Spätestens die Einstufung des Coronavirus als Pandemie lieferte für Regierungen weltweit den Startschuss für einen Überbietungswettbewerb in Sachen Krisenreaktion. Parallel zu globalen Infektionsketten pflanzten sich die Eindämmungsmaßnahmen fort: Schulschließungen, Ausgangssperren, Quarantäne, Isolation, tiefe Eingriffe in den Datenschutz ...

Die Maßnahmen wurden mit Abwandlungen und geringen Verzögerungen von einem Land zum nächsten weitergereicht – im globalen Süden mancherorts ganz unabhängig davon, dass sich auch nur der Versuch einer Umsetzung als entweder illusorisch oder katastrophal erweisen musste.

Das Virus als Triebkraft der Autokratie?

Getragen wird diese Politik dennoch fast weltweit von Zustimmung. Fast durchweg schnellen die Zustimmungswerte von Regierungen in die Höhe. Das muss nicht immer misslich sein. Doch allzu oft erweist sich die weltweite Angst vor dem Virus als mächtige Triebkraft in Richtung Perpetuierung des Ausnahmezustands.

In westlichen Gesellschaften hat es dabei bisweilen den Anschein, als sei das Virus auf Gesellschaftsstrukturen getroffen, die über Jahre der obsessiven Befassung mit apokalyptischem Horror schlichtweg reif waren für die nun erfolgende Übersetzung der Fiktion in die Realität.

Klassenunterschiede mit Auswirkungen

Täuscht der Eindruck, oder wird der Ausnahmezustand abseits der viralen Hotspots derzeit meist als kurioser Verschnitt aus Nervenkitzel, Auszeit und stimulierender biografischer Erfahrung begriffen – wenn nicht gar als Moment der lebensstilistischen Läuterung?

Sicher, auch in westlichen Gesellschaften wächst die Unruhe – gerade für Menschen in weniger privilegierten Positionen. Home-Office im Garten vs. Kurzarbeit in der Etagenwohnung des Seitenflügels: Dieser Klassenunterschied bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die langfristige Krisenperspektive. Global aber findet er eine noch weit schmerzhaftere Entsprechung. In wohlhabenden Vierteln urbaner Zentren des globalen Nordens mag der Lockdown Umstände bereiten, in den Slums und Flüchtlingslagern dieser Welt zeitigt er katastrophale Folgen.

Entscheidungsträger in Höchstform

Dennoch hält bislang eine so breite wie überraschende Koalition der Ausstand-Befürworter am vermeintlich alternativlosen Lockdown fest – auf ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen und in ganz unterschiedlichen Weltgegenden.

In der Politik läuft manch ein Entscheidungsträger zur Höchstform auf: Donald Trump und Emmanuel Macron etwa erklärten sich umgehend zu „Kriegspräsidenten“, mehr als 80 Regierungen agieren aktuell per Notverordnung, und selbst der kanadische Sonnenschein-Premierminister Justin Trudeau verglich den Kampf gegen Corona zuletzt mit der Landung in der Normandie.

Winston Churchill reloaded

„Blut, Schweiß und Tränen.“ Auch ansonsten des Heroismus eher unverdächtige Führungspersönlichkeiten scheinen sich in diesen Tagen in der Rolle eines Winston Churchill neu zu erfinden – allerdings nicht immer mit ähnlich stark ausgeprägten demokratischen Überzeugungen.

Sogar der Papst mag sich der Verlockung theatralischer Bilder augenscheinlich nicht entziehen: Seinen jüngsten Segen Urbi et Orbi erteilte Franziskus wohl nicht zufällig auf dem menschenleeren Petersplatz. Die Bilder erinnerten an wuchtvolle Massenästhetik ohne Massen – und gingen um die Welt.

Ein mediales Faszinosum

Kein Wunder: Trifft doch der Notstand in ganz unterschiedlichen globalen Mediensystemen auf die gleiche Faszination der Katastrophe. Von der New York Times bis zum Sidney Morning Herald wurden Bezahlschranken für Corona-Inhalte entfernt.

Leben, Tod, unsichtbare Feinde, historische Entscheidungen, Heldentum, Furcht, Glück, Leid und eine endlose Reihe tragischer Schicksale: Journalisten, denen bei dieser Mixtur der Puls nicht schneller geht, haben ihren Beruf verfehlt. Nur: In der Summe gerät diese Corona-Berichterstattung zu einem Tsunami des „Shock and Awe“ (Schrecken und Furcht). Stück für Stück entsteht ein mediales Horrorgemälde, das – wie ein Spectator-Kolumnist kürzlich bemerkte – Edvard Munchs „Schrei“ als Stillleben erscheinen lässt.

Das Corona-Narrativ

Und natürlich wartet auch das Corona-Narrativ nur darauf, durch neue Aspekte der Klimakatastrophe oder der Migrationskrise zu einem 360-Grad-Panoptikum des Grauens komplettiert zu werden. Doch auch manch ein intellektueller Beobachter kann sich den Versuchungen der Krise kaum entziehen. Zu verlockend scheint es, den Ausnahmezustand zur letztgültigen Bestätigung langgehegter Ziele in Wert zu setzen.

Die jeweiligen gesellschaftspolitischen Wunschlisten pendeln dabei je nach Couleur zwischen Forderungen nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, Träumen von der Überwindung des Patriarchats oder der Abschaffung des Kapitalismus bis hin zu „Schluss mit Luxus“, wie es die taz kürzlich formulierte. Daran ist nichts verwerflich.

Krisen als Öffnung für den Fortschritt

Historisch haben sich Krisen schließlich stets als Öffnungen für den Fortschritt erwiesen. Doch in Zeiten, in denen nahezu sämtliche Gewissheiten schweben, benötigt auch die Verteidigung gewohnter Lebenswelten intellektuelle Fürsprache. Maßgeblichen Teilen des politischen Apparats der zweiten Reihe geht es derzeit jedoch eher um das Ausformulieren gesellschaftlicher Kompensationsmechanismen und einen Modus Vivendi im Ausnahmezustand als um dessen Infragestellung. All das ist wichtig.

Nicht zuletzt die Frage, wie und vom wem die aktuell anfallenden Rechnungen sozial gerecht beglichen werden sollen, dürfte sich gar als entscheidend erweisen. Doch am Ende wird kein Rettungsschirm und keine Finanzspritze, sondern nur das Überwinden des Notstands einen Weg in eine demokratische Zukunft weisen.

Rückkehr zum Status quo ante

Allerdings scheint derzeit schon die Vorstellung von einer Rückkehr zum Vertrauten in manchen Kreisen eine toxische Qualität angenommen zu haben. Zumindest hat die prä-virale Wirklichkeit öffentlich keine Lobby.

Damit aber erscheint die Corona-Krise als ein Ausnahmezustand, in dem gerade gesellschaftliche Meinungsführer sich darin übertrumpfen, jede Rückkehr zum Status quo ante als nicht nur unmöglich, sondern auch als abwegig zu beschreiben. Die Krise, so wird allgegenwärtig versichert, ist eine Chance. Nur wofür? Darüber scheiden sich die Geister.

Der Frieden der Gesellschaft in Gefahr?

Sicher: Der Wunsch nach Verbesserung ist legitim und gerade für progressive Kräfte wesentlich. Deshalb wäre nichts falscher, als virusbedingt aufgegebene gesellschaftliche Laster wider besseres Wissen zu revitalisieren, sobald die unmittelbare Krise überwunden ist. Krankenpfleger, Busfahrerinnen und Verkäufer etwa werden hoffentlich auch nach Corona nicht nur anders wahrgenommen, sondern auch anders entlohnt. Und auch das Home-Office wird sich hoffentlich in die Post-Corona Zeit retten.

Allumfassende Umbauphantasien in Zeiten des Notstandes jedoch sollten den legitimen Wunsch nach Rückkehr in eine vertraute Lebenswelt nicht delegitimieren. Ansonsten werden sie den inneren Frieden der Gesellschaft eher gefährden als befördern. Zumal gerade umfassendere Reformanliegen dem Versuch gleichen, ein brennendes Schiff in Seenot in ein Wasserflugzeug zu verwandeln – und zwar "ohne Diskussionsorgien."

Schweden als rationale Ausnahme

Bezeichnend ist dabei, dass auch die seltenen globalen Stimmen politischer Abweichung keineswegs dazu geeignet scheinen, den Chor des Schreckens infrage zu stellen. Brasiliens Präsident Bolsonaro etwa leugnet in bester Populistenmanier die Existenz des Problems, Nordkorea besteht darauf, wunderbarerweise von der Krankheit verschont zu sein, während Turkmenistan das Virus per Dekret zum Nicht-Problem erklärt.

Eine rationale Ausnahme von diesen Ausnahmen liefert bislang Schweden. Das zumindest partielle Ausscheren unseres nördlichen Nachbarn aus dem viralen Konsens sorgt dabei allerdings längst für handfesten politischen Auslegungsstreit. Denn: Gelingt es dem Land, mit sanfter sozialer Distanzierung und ohne allzu gravierende gesellschaftliche Einschnitte tatsächlich langfristig Opferzahlen innerhalb des ansonsten in Europa auftretenden Spektrums zu halten, hätte sich der nordische Ansatz als eindeutig überlegen erwiesen.

Konsequenzen für die westliche Gesellschaft

Angesichts der gigantischen gesellschaftlichen, sozialen und ökonomischen Folgekosten, die der eingeschlagene Pfad des Lockdowns derzeit mit sich bringt, könnte aber genau das brachiale politische Konsequenzen nach sich ziehen – nicht nur für Regierungen und politische Parteien, sondern für sämtliche tragende Säulen westlicher Gesellschaften.

Ist das die Ursache dafür, dass die Berichterstattung zum schwedischen Ansatz – von Ausnahmen abgesehen – vor alle dessen baldiges Ende in Aussicht stellt? Schon vor gut drei Wochen verkündete in Deutschland die Süddeutsche Zeitung das „Ende des Sonderwegs“. Seitdem wird diese Erwartung regelmäßig aufgefrischt, obwohl sie sich zumindest bislang kaum erhärten lässt.

Zweifel sind angebracht

Parallel warnen Stimmen, das Land riskiere „im laschen Kampf gegen das Virus alles“. Dabei ist auch klar: Es kann nicht darum gehen, die Risiken des Virus nun aus dialektischem Trotz zu bagatellisieren. Für eine abschließende Bewertung des schwedischen Ansatzes ist es angesichts lückenhafter Daten noch zu früh.

Deshalb sind Zweifel angebracht sowohl in Bezug auf die Politik des Lockdowns als auch mit Blick auf das schwedische Modell. Doch gerade von dieser Umsicht ist zumindest in weiten Teilen der öffentlichen Diskussion in Deutschland kaum etwas zu spüren. Eher wird die allumfassende Eindämmungspolitik vorsorglich in Schutz genommen.

„Präventionsparadox“

Soziologen etwa verteidigen den Lockdown – wie auch Virologe Christian Drosten – durch Verweis auf ein „Präventionsparadox“. Demzufolge bestätigt gerade das Ausbleiben der Katastrophe den Erfolg der getroffenen Maßnahmen. Dieser Ansatz ist logisch nicht zu widerlegen und sicher auch gerechtfertigt. Das Problem ist nur: In dieser Sichtweise lässt sich noch jede staatliche Überreaktion als Erfolg verbuchen. In Deutschland ist die Demokratie sicher nicht in Gefahr. Doch diese Entwarnung ist nicht weltweit gültig.

Deshalb sticht eher der Umkehrschluss. Nur weil der schlimmste Fall der Eskalation bislang vielerorts erfreulicherweise ausgeblieben ist, bescheinigt das noch lange nicht die Angemessenheit jeder getroffenen Maßnahme.

Post hoc ergo propter hoc – diesem kausalen Zirkelschluss sollten wir gerade in Zeiten des gesundheitlichen Notstandes und angesichts einer weltweit einmaligen Machtverschiebung in Richtung Exekutive nicht erliegen. In Zeiten der Angst und der Unübersichtlichkeit bleibt Skepsis eine demokratische Tugend. Gegenüber scheinbaren Patentrezepten ebenso wie gegenüber staatlich verordnetem Gleichschritt und insbesondere gegenüber den Gefahren eines sich zunehmend selbst erfüllenden weltweiten Katastrophismus.

Dieser Beitrag gibt die persönliche Meinung des Verfassers wieder und stellt nicht die Haltung der Friedrich-Ebert-Stiftung dar.

Anzeige