Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen - Jetzt will es keiner gewesen sein

Während der Corona-Pandemie versuchten Politiker mit immer härteren Maßnahmen, das Virus aufzuhalten. Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit geriet dabei schnell ins Hintertreffen. Das ist längst Konsens - doch Verantwortung für begangene Fehler möchte trotzdem niemand übernehmen.

Abgesperrter Spielplatz in Bonn im Jahr 2020 /picture alliance
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Autoreninfo

Andrea Knipp-Selke ist Ärztin, arbeitet seit 20 Jahren in der Kinderheilkunde und war zuvor jahrelang als Journalistin tätig, u.a. für den WDR, die Frankfurter Rundschau und Focus online. Sie ist Mitglied der Thesenpapiergruppe um Matthias Schrappe und widmet sich dort schwerpunktmäßig dem Thema Kinder und Jugendliche in der Pandemie.

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Man kann sich im Moment nur irritiert die Augen reiben angesichts der plötzlich pandemieartig um sich greifenden Erkenntnisfähigkeit, was die Verhältnismäßigkeit so mancher Corona-Maßnahmen betrifft – selbst bei deren hartnäckigsten Verfechtern, angefangen beim amtierenden Gesundheitsminister.

Schwer zu glauben, dass sich dahinter wahre Erkenntnis verbirgt und es sich nicht nur um rhetorisch wohlfeil formulierte Statements handelt, die der Sicherung der eigenen politischen Zukunft dienen. Gerne werden diese abstrakt im Passiv formuliert („Es wurden Fehler gemacht“), um jede Verantwortung oder Absicht von sich zu weisen, geschweige denn Reue erkennen zu lassen, dann lieber schon anderen eine Schuld zuweisen. Im Englischen gibt es dafür einen sehr schönen Begriff: „nonpology“.

Auch die Autorin hatte Anfang 2020 noch Verständnis für die Maßnahmen; das Virus war neu, eine solche Situation gab es bislang nicht, alle waren überfordert. Zweifel wurden laut, als der erste Lockdown beschlossen wurde, der angeblich hierzulande die Welle schön abflachen ließ – die Zahlen gingen jedoch schon vor dem Lockdown deutlich nach unten.

 

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Epidemiologisch betrachtet sind strikte Eindämmungsmaßnahmen („Containment“) in der ersten Phase einer Pandemie sinnvoll. Spätestens im Herbst 2020 aber wäre „Protection“ die angemessenere Vorgehensweise gewesen, heißt, die vulnerablen Gruppen entsprechend zu schützen – und zwar nicht, indem man die Alters- und Pflegeheime hermetisch abriegelt und mit insuffizienten Schnelltests dann doch nicht verhindern kann, dass diese wie auch andere Atemwegsinfektionen hineingetragen werden.

Stattdessen wurde mit immer härteren Maßnahmen versucht, ein Virus aufzuhalten, das sich über die Atemwege verbreitet. Wir haben Schulen und Kindergärten geschlossen, nicht nur einmal, nein, auch ein zweites Mal, und das zu einem Zeitpunkt, an dem längst klar war, dass die Kinder nicht die Treiber der Pandemie waren, als bereits wiederholt darauf hingewiesen worden war, dass die andauernden Einschränkungen die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen erheblich beeinträchtigten und bei keiner anderen Altersgruppe das Ausmaß der Einschränkungen im Vergleich zu deren Nutzen in einem größeren Missverhältnis stand. Allein man wollte es nicht hören.

Jetzt will es wieder keiner gewesen sein

Statt Kinderärzte, Psychologen, Epidemiologen, Krankenhaushygieniker und andere Sachkundige hinzuzuziehen, verließ man sich beinahe ausschließlich auf den Rat von Virologen und Modellierern, unterstützt von einem medialen Begleitorchester, bei dem man mitunter nicht wusste, wer da eigentlich der Dirigent war.

Und jetzt will es natürlich wieder keiner gewesen sein. „Die Wissenschaftler“ hatten angeblich immer schon Zweifel an dieser oder jener Maßnahme, aber entscheiden musste das ja die Politik. Die Politik wiederum weist jede Verantwortung von sich, weil „die Wissenschaft“ sie ja dahingehend beraten hat. Man ist aber eben nicht nur verantwortlich für das, was man tut, sondern auch für das, was man nicht tut.

Auch wir als Gesellschaft. Und wir als Gesellschaft haben nicht nur die Schulschließungen hingenommen. Wir haben hingenommen, dass Menschen in systemrelevante und nicht-systemrelevante kategorisiert wurden. Wir haben hingenommen, dass sämtliche Kulturbetriebe geschlossen wurden (nicht systemrelevant), während die Industrie weitgehend verschont blieb (systemrelevant, irgendwo musste das Geld für die Maßnahmen ja herkommen).

Das alles hieß Solidarität

Wir haben hingenommen, dass Spielplätze gesperrt wurden, dass Ausgangssperren und Kontaktbeschränkungen verordnet wurden, dass ganze Ortschaften abgeriegelt wurden, dass Menschen von ihren Nachbarn denunziert wurden, dass Jugendliche von der Polizei in Parks verfolgt wurden, dass Menschen, die sich nicht impfen lassen wollten, als „Covidioten“ bezeichnet wurden, dass gesellschaftliche Nachteile bis hin zum Verlust des Arbeitsplatzes für sie gefordert wurden, dass ihnen der Zugang zu sozialen Räumen verwehrt wurde, wohlwissend, dass die Impfung nicht vor einer Weiterübertragung schützt. Wir haben es hingenommen, dass Menschen in Pflegeheimen und Krankenhäusern alleine sterben mussten – eine „herzzerreißende“ Vorstellung, die „wir in der Not diszipliniert zur Kenntnis“ genommen haben.

Das alles hieß Solidarität. Wir haben in den letzten Jahren den Begriff der Solidarität neu definiert. Wir haben ihn seiner Grundvoraussetzung, der Freiwilligkeit, beraubt. Keine der Maßnahmen war freiwillig, alle waren sie verordnet, ohne vorher das Parlament passiert zu haben, gesetzlich festgelegt von einem exekutiven Organ, das unsere Verfassung nicht vorsieht. Und weil auch diesem klar gewesen sein dürfte, dass die Verhältnismäßigkeit der verordneten Maßnahmen zumindest fragwürdig war und einer juristischen Überprüfung womöglich nicht standhalten könnte, wurde „die Solidarität der Bevölkerung“ als moralische Pflicht eingefordert. Wer sich nicht daran hielt, war zumindest ein „Querdenker“, ein „Rechter“, mitunter sogar ein „Faschist“, auf jeden Fall aber ein schlechter Mensch. Man sprach von „Solidarität“, meinte aber die Pflicht zum Gehorsam. Das ist eine Politik der Machtmoral, die kein Virus bekämpft, sondern die eigene Bevölkerung.

Den Preis dafür zahlen die Bürger

Und jetzt? Sorry, tut uns leid, haben wir nicht besser gewusst. Ach so. Indes: Es gab sie, die Pläne für genau diesen Fall, es gab einen nationalen Pandemieplan, ausgearbeitet von einem multidisziplinären Team von Experten nach der Sars-CoV-1-Epidemie, in dem festgelegt ist, wie man in einem solchen Fall hätte vorgehen sollen und müssen. Der derzeitige Bekenntnisreigen entbehrt nicht eines gewissen Zynismus. Wir waren nicht unvorbereitet. Er hätte einfach nur befolgt werden müssen, der eigene Plan. Man hätte es besser wissen können. Wollte man aber nicht.

Jüngst hieß es in einem Kommentar der FAZ, dass ein demokratisches Land einer Diktatur wie China mit seiner Null-Covid-Strategie überlegen sei und die Stärke einer offenen Gesellschaft darin liege, dass es keinen Maulkorb für Wissenschaft und Bürger gebe. Als hätte es die Diffamierung von #allesdichtmachen nicht gegeben. Offensichtlich habe ich in den letzten drei Jahren in einem anderen Deutschland gelebt. Und wenn der einzige Anspruch an unsere freiheitlich demokratische Grundordnung sein soll, besser zu sein als China mit seiner No-Covid-Strategie, dann ist das das Gegenteil dessen, was ich darunter verstehe.

Was bleibt ist ein schales Gefühl, ein Blick zurück im Zorn angesichts der drastischen Folgen. Denn es war nicht das Virus, das die Menschen hat alleine sterben lassen. Es war die Politik. Es waren politische Entscheidungen, die dazu führten, dass aus Grundrechten Privilegien wurden. Es geht nicht darum, dass sich die Akteure jetzt Asche übers Haupt streuen. Aber man sollte die Verantwortung übernehmen für die eigenen Fehler und die Konsequenzen daraus tragen. Wir alle müssen das, im Beruf wie auch im Privatleben. Nur für Politiker und die sie beratenden Wissenschaftler scheint da eine Art beschränkter Haftung zu gelten. Den Preis dafür zahlen wir Bürger.

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