Zahl der Corona-Erstimpfungen unsicher - Transparenz überzeugt mehr als Zahlen

Ob Bratwürste oder Spritzen im Club – die Impfkampagne, insbesondere unter Jüngeren, soll beschleunigt werden. Laut einem Bericht des Robert-Koch-Instituts könnte aber ausgerechnet die Zahl der Erstgeimpften zwischen 18 und 59 Jahren deutlich höher sein als gemeldet. Dem Vertrauen in die Corona-Politik schadet das Durcheinander um die Impfquote.

RKI-Chef Wieler empfängt Gesundheitsminister Spahn und Kanzlerin Merkel in seinem Institut / dpa
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Uta Weisse war Online-Redakteurin bei Cicero. Von Schweden aus berichtete sie zuvor als freie Autorin über politische und gesellschaftliche Themen Skandinaviens.

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Friedrich Merz (CDU) hat diese Woche seine Kritik an der Umwelt- und Migrationspolitik der Grünen auf Twitter zu mehr Schlagkraft verholfen, indem er schrieb, er habe „hunderte Mails und Nachrichten mit überwiegend sehr großer Zustimmung erhalten“, es tue gut, „wie groß die Zustimmung in der Mehrheit der Bevölkerung ist“. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung sieht die Grünen-Programmatik also so kritisch wie Merz, wenn man ihm Glauben schenken will.

Sein Parteikollege und Kanzlerkandidat Armin Laschet bedient sich desselben Tricks. Die 3-G-Regel, also dass vom 23. August an alle, die an Freizeitangeboten teilhaben oder etwa gastronomische Einrichtungen betreten wollen, entweder gegen Corona geimpft, davon genesen oder negativ darauf getestet sein müssen, gelte nicht für Gottesdienste. Er gehe ohnehin davon aus, dass „wenn ich die Erfahrung insbesondere aus den christlichen Kirchen höre, dass jeder, der da ist, in der Regel auch doppelt geimpft ist“, sagte er nach dem Bund-Länder-Treffen am Dienstag.

Die Kraft der Zahl

Noch besser als diffuse Mehrheiten, die schnell von Kritikern zerpflückt werden können wie im Fall von Merz, funktionieren Zahlen, um andere von der eigenen Position oder Handlungsempfehlung zu überzeugen. Um eine Statistik zu entkräften, müsste man sich erst einmal anschauen, wie die Daten erfasst wurden, ob auch tatsächlich das gemessen wurde, was man messen wollte.

Täglich gibt das Robert-Koch-Institut (RKI) Zahlen heraus. Dabei trickst es nicht wie Merz oder Laschet. Aber dazu gleich mehr. Das Impfdashboard des RKI gibt also an, wie viele Menschen in Deutschland bereits vollständig gegen Corona geimpft sind beziehungsweise mindestens eine Impfdosis erhalten haben. Diese Statistiken speisen sich aus dem Digitalen Impfquotenmonitoring (DIM). Das DIM wiederum erhält Informationen zum Alter der Impflinge und dem verabreichten Impfstoff von den Impfärzten. Laut dem DIM lag die Erstimpfquote der 18- bis 59-Jährigen Mitte Juli bei 59 Prozent. In einer Befragung des RKI, die parallel stattgefunden hat, gaben allerdings 79 Prozent der Interviewten in derselben Bevölkerungsgruppe an, bereits mindestens einmal geimpft worden zu sein.

Zwischen 59 und 79 Prozent der 18 bis 59-Jährigen einmal geimpft?

Das RKI gleicht die Impfquote und Umfragen zum Impfverhalten schon seit Januar dieses Jahres ab. Noch nie habe es so eine große Diskrepanz gegegeben. Zudem bestehe zwischen Umfrageergebnissen zur Zweitimpfung und der entsprechenden Impfquote kein wesentlicher Unterschied. Daraus schlussfolgert das RKI, dass die 79 Prozent Erstgeimpfter zwischen 18 und 59 Jahren aus den Telefonumfragen zu hoch liegen würde. Zum Beispiel, weil Befragte nicht zugeben wollten, dass sie sich nicht geimpft hätten. Die Impfquote aus Daten des DIM, also die 59 Prozent Erstgeimpfter zwischen 18 und 59 Jahren laut Meldungen der Impfärzte, seien dagegen laut RKI wahrscheinlich zu niedrig. Die Wahrheit liegt sozusagen in der Mitte. Wo genau, weiß das RKI aber selbst nicht. Deshalb erklärt es in seinem Bericht, bei der Interpretation der Ergebnisse aus DIM und der Befragung, mit all ihren Implikationen für die Impfkampagne sei eine gewisse Unsicherheit zu berücksichtigen.

Gründe für die zu niedrig ausgewiesene Impfquote der jüngeren und mittelalten Erwachsenen bei der Erstimpfung sieht das RKI zum Beispiel darin, dass die Verabreichung des Johnson-und-Johnson-Vakzins nur als Zweitimpfung gemeldet werde, da nur eine Impfdosis erforderlich ist. Darüber hinaus würden bisher nur etwa die Hälfte der beim Meldesystem registrierten Betriebsärzte Impfungen über die zur Verfügung gestellte Webanwendung dem DIM melden.

Evidenzbasierte Politik

Worin liegt dann überhaupt der Aufreger, mögen Sie sich jetzt fragen. Die tatsächliche Impfquote liegt doch wahrscheinlich höher als in den vergangenen Wochen verkündet. Das RKI hat also nicht wie Merz oder Laschet Bauchgefühle oder Wunschdenken zu messbar erscheinenden Mehrheiten hochgetunt. Die Impfquote der unter 18- bis 59-jährigen Erstgeimpften dürfte ja tatsächlich höher sein, als das RKI bisher erklärt hat. Es ist doch Ziel der Impfkampagne, dass sich so viele Menschen wie möglich impfen.

Dass mehr Menschen geimpft sind, als angenommen, halte ich für eine tolle Nachricht. Aber das Problem liegt darin, dass die Impfquote auch eine Größe ist, mit der im politischen Diskurs Corona-Maßnahmen legitimiert werden. Neben der Inzidenz war seitens der Regierung die zu niedrige Impfquote, die an Fahrt verlierende Impfkampagne ebenfalls ein Argument dafür, Maßnahmen weiter bestehen zu lassen.

Schon bei der Intensivbettenbelegung hatte sich im Juni herausgestellt, dass Krankenhäuser zuvor höhere Intensiv-Belegungen gemeldet hatten, als es der Wirklichkeit entsprochen hatte. Ich habe volles Verständnis dafür, dass immer wieder vor einer möglichen Überlastung des Gesundheitssystems gewarnt worden war. Und diesen Worst Case galt es, mit Kontaktbeschränkungen abzuwenden. Natürlich waren Krankenhäuser belastet und es waren viele Corona-Patienten auf den Intensivstationen, deren aufwändige Betreuung an den Kräften des Pflegepersonals gezehrt hat. Nur wussten die Bürger nicht, dass Krankenhäuser finanzielle Anreize erhalten hatten, die Auslastung ihrer Intensivstationen höher anzugeben, als sie es tatsächlich war.

Wenn eine Regierung ihre Entscheidungen und Einschränkungen des öffentlichen Lebens mit Evidenzen legitimiert, muss sie auch transparent machen, wie diese Zahlen zustande kommen. Im besten Fall sind diese Statistiken auch sauber erhoben. Das mag nicht immer möglich sein. Umso wichtiger ist deshalb besagte Transparenz. Am heutigen Donnerstag hat Gernot Marx, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), gefordert, die große Diskrepanz zwischen DIM-Impfquote und der aus RKI-Umfragen abgeleiteten Impfquote durch eine repräsentative Bevölkerungsumfrage zu überprüfen. „Das Impfen ist der entscheidende Erfolgsfaktor der Pandemie. Wir müssen alles dafür tun, das Vertrauen in die Impfkampagne zu stärken“, sagte er gegenüber den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Recht hat er.

Das Durcheinander um die Impfquote der Bevölkerungsgruppe, die man aktuell mit großer Kraft und finanziellem Aufwand versucht, zum Impfen zu bewegen, schadet der Glaubwürdigkeit des RKI und der Regierung. Vor allem verunsichert es diejenigen, die den Sinn der Impfkampagne ohnehin schon infrage stellen.

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