Änderung des Infektionsschutzgesetzes - Eine echte Beteiligung des Parlaments sieht anders aus

Der Bundestag ist die Herzkammer unserer Demokratie. Das neue Infektionsschutzgesetz, das am Mittwoch verabschiedet wird, sollte das hervorheben, tut es jedoch nur partiell. Staatsrechtler Alexander Thiele über einen Schritt in die richtige Richtung, der nicht ausreicht.

Die Bevölkerung fordert eine stärkere Teilhabe des Parlaments an den Corona-Maßnahmen / dpa
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Autoreninfo

Prof. Dr. Alexander Thiele hat  eine Lehrstuhlvertretung für Öffentliches Recht und Staatsphilosophie an der LMU in München inne. Seine Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem im Staatsrecht und der Demokratietheorie.

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Der Krisenfall ist die Stunde der Exekutive – ein Satz, der in den letzten Monaten immer wieder sowohl in den Medien als auch in privaten Diskussionen gefallen sein dürfte. Die erweiterten Handlungsbefugnisse der Exekutive lassen sich staatstheoretisch mit ihrer besonderen Organisations- und Entscheidungsstruktur rechtfertigen: Es handelt sich um ein relativ kleines und homogenes Gremium, das dadurch zu schnellen Entscheidungen in der Lage ist. Die untergeordneten Ministerien sorgen zudem dafür, dass diese Entscheidungen auf einer ausreichenden Informationslage gefällt werden können.

Gerade zu Beginn einer Krise – im Hinblick auf die Pandemie reden wir also vielleicht von den ersten zwei oder drei Monaten – wird diese staatstheoretisch sinnvolle Zuordnung der wesentlichen Entscheidungskompetenzen auch von einer entsprechenden Erwartungshaltung in der Bevölkerung gespiegelt. Anders gewendet: Die BürgerInnen nehmen eine geringere Teilhabe (etwa in öffentlichen Diskussionen) an diesen Entscheidungen in Kauf, um der Exekutive eine schnelle Krisenantwort zu ermöglichen.

Ein klassischer Verlauf

Die demokratietheoretisch bedeutende Teilhabe an der Entscheidung tritt partiell hinter die erwartete Effektivität und Schnelligkeit der Entscheidung zurück. Vor allem bei längeren Krisenzuständen verändert sich diese Erwartungshaltung der Bevölkerung im Laufe der Zeit. Auch das hat sich nachgerade lehrbuchartig in der aktuellen Pandemie bestätigt.

Langfristig hängt die Akzeptanz bedeutender Entscheidungen nämlich nicht allein davon ab, dass diese als (nach welchen Maßstäben auch immer) gut angesehen werden können. Hinzu kommt vielmehr das Erfordernis, dass sich diese auch auf eine ausreichende und möglichst umfassende Teilhabe der Bevölkerung stützen können. Mit anderen Worten: Je länger die Krise dauerte, desto mehr wurde die nicht-öffentliche und nicht-diskursive exekutivische Entscheidungsform kritisiert (obwohl die getroffenen Entscheidungen vermutlich nicht schlechter oder besser waren als zuvor).

Die Natur des Parlaments

Gefordert wurde eine stärkere Einbindung des Parlaments, da genau dieses Organ staatstheoretisch zentral dafür zuständig ist, die angemessene Teilhabe der Bevölkerung sicherzustellen. Dem Parlament gelingt das auf zweierlei Weise: Zum einen ist es aufgrund seiner Organisations- und Entscheidungsstruktur ideal dazu geeignet, öffentliche Debatten umfassend abzubilden. Indem die Entscheidungen dort nicht hinter verschlossenen Türen, sondern öffentlich getroffen werden, können alle Bevölkerungsschichten den Entscheidungsprozess nachvollziehen und verfolgen.

Dabei werden idealerweise auch Ansichten zu Wort kommen, die aufgrund der Mehrheitsverhältnisse in der Entscheidung selbst nicht abgebildet werden. Indem auch diese Ansichten aber im Parlament stattfinden, kann das Gefühl der Teilhabe auch denjenigen vermittelt werden, die diese Ansichten an sich überzeugender finden – bei Exekutiventscheidungen wird hingegen nicht sichtbar, ob und in welcher Form sich mit solchen Ansichten überhaupt auseinandergesetzt wurde. Parlamentarische Entscheidungen sind dadurch strukturell langsamer als exekutivische, müssen nachgerade eine gewisse entschleunigende Wirkung entfalten, wenn sie ihren Zweck erfüllen sollen.

Wenn zuletzt immer wieder betont wird, dass auch Parlamente schnell entscheiden könnten, wenn es denn sein müsse, wird verkannt, dass es sich beim Parlament eben gerade nicht um eine zweite Exekutive handelt. Das schließt schnelle Entscheidungen nicht aus, sie dürfen aber nicht zur Regel werden, wenn Parlamente nicht ihrer spezifischen Funktion verlustig gehen sollen.

Das Parlament ist nicht machtlos

Zum anderen kann das Parlament über die Anpassung der gesetzlichen Rahmenbedingungen das Vorgehen der Exekutive auch im Krisenfall stärker determinieren und dadurch grundlegende gesellschaftliche Vorstellungen über das Krisengeschehen wirksam werden lassen. Indem es dadurch die wesentlichen Entscheidungen der Krisenintervention selbst trifft, wird das Gefühl der Teilhabe gestärkt und damit das Vertrauen der gesamten Bevölkerung in die politischen Prozesse erhöht, vor allem weil sich die Bevölkerung darauf einstellen kann unter welchen Voraussetzungen sie mit welchen Einschränkungen wird rechnen muss.

Verfassungsrechtlich wird diese Vorhersehbarkeit durch den sogenannten Bestimmtheitsgrundsatz erfasst. Wenn in der Bevölkerung zuletzt immer lautstärker eine Beteiligung des Parlaments an der Pandemiebekämpfung gefordert wird, sind es mithin genau diese parlamentarischen Funktionen die angemahnt werden. Es geht also nicht um irgendeine formale Parlamentsbeteiligung, sondern um eine Beteiligung des Parlaments in seiner spezifischen Funktion als Parlament.

Mangelhaftes Infektionsschutzgesetz

Wie ist vor diesem Hintergrund die heute beschlossene Änderung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) zu bewerten? Werden die Erwartungen der Bevölkerung im Hinblick auf ihre Teilhabe im Bereich der Pandemiebekämpfung ausreichend adressiert? Ein näherer Blick nährt Zweifel daran, dass diese das Teilhabeproblem mittelfristig wird lösen können.

Positiv zu bewerten ist zunächst, dass der Bundestag sich überhaupt zu einer Änderung des IfSG entschlossen hat. Dadurch hat zumindest eine (wenngleich kurze) parlamentarische Debatte stattgefunden. Als ausreichend kann das freilich kaum angesehen werden.

Keine regelmäßige Parlamentsbeteiligung

Problematisch erscheint vor allem, dass das IfSG weiterhin keine regelmäßige Beteiligung des Parlaments in dieser Hinsicht vorsieht. So wurde zwar der Begriff der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ legaldefiniert. Unter welchen Voraussetzungen der Bundestag eine solche feststellen kann (was zu erweiterten Kompetenzen der Bundesregierung führt), lässt sich daher dem IfSG nunmehr etwas genauer entnehmen.

Das ändert für die aktuelle Pandemie allerdings schon deshalb wenig, da diese Voraussetzungen gegenwärtig zweifellos erfüllt sind. Zwar muss der Bundestag diese Feststellung wieder aufheben, wenn die Voraussetzungen nicht mehr erfüllt sind. Das ist aber erstens eine Selbstverständlichkeit und stellt zweitens nicht sicher, dass der Bundestag auch während dieser Lage regelmäßig in seiner Diskursfunktion integriert wird.

Besser wäre es aus dieser Perspektive also gewesen, bereits im Gesetz zu verankern, dass der Bundestag monatlich (oder zweimonatlich) eine Generaldebatte zur Infektionslage führen muss, in denen die sich mit Sicherheit im Detail veränderte Pandemielage öffentlich diskutiert werden kann (übrigens: Warum nicht einmal zur besten Sendezeit mit einer live-Übertragung in Fernsehen und Internet?).

Maßnahmenkatalog in § 28a

Dabei ginge es nicht darum, die epidemische Lage ständig in Frage zu stellen, sondern schlicht die aktuelle Situation öffentlich (mit Rede und Gegenrede) zu verhandeln. Das neue IfSG weist weitere Schwachstellen auf. So ist im neuen § 28a IfSG mittlerweile zwar ein Maßnahmenkatalog aufgeführt, der darlegt, welche Maßnahmen durch die Exekutive im Falle einer nationalen epidemischen Lage getroffen werden können. Immerhin wird die Bestimmtheit bzw. Vorhersehbarkeit dadurch auf den ersten Blick erhöht.

Ein zweiter Blick zeigt freilich, dass dieser Maßnahmenkatalog seinerseits viele Fragen aufwirft. Er scheint eher davon getragen zu sein, sämtliche jemals ergriffenen Maßnahmen aufzulisten, wobei eine innere Systematik nur schwer erkennbar ist. Teilweise sind die gewählten Begrifflichkeiten auch ihrerseits so unbestimmt, dass sie kaum geeignet sind, für eine bessere Vorhersehbarkeit aus der Perspektive der Bevölkerung zu sorgen.

Fragen trotz Verbesserungen

Immerhin: Hier hat zwar die Anhörung der Sachverständigen zu Verbesserungen geführt, gleichwohl bleibt vieles unklar. Was etwa bedeutet es, dass die Behörden zukünftig Ausgangsbeschränkungen im „privaten sowie im öffentlichen Raum“ anordnen können? Und wo sind da eigentlich die Grenzen, bzw. gibt es Grenzen? Und gibt es aus der Sicht des Gesetzgebers eine präferierte Reihenfolge der Maßnahmen? Aktuell liegt die Auswahl allein bei der Exekutive.

Dass die Maßnahmen verhältnismäßig sein müssen, wie es der ursprüngliche Entwurf des § 28a IfSG ausdrücklich bemerkte, versteht sich verfassungsrechtlich ohnehin von selbst und ist daher in der Endversion zu Recht gestrichen worden. Zu betonen ist freilich: Der aufgeführte Katalog ist nicht abschließend. Die Exekutive kann mithin (jedenfalls theoretisch) auch andere Maßnahmen ergreifen (wenngleich das vermutlich eher unwahrscheinlich sein dürfte).

Voraussetzungen bleiben unpräzise

Schwerer wiegt jedoch der Umstand, dass die Neuregelung weiterhin größtenteils darauf verzichtet, die Voraussetzungen zu präzisieren, unter denen die einzelnen Maßnahmen angeordnet werden können. Weiterhin begnügt sich der Gesetzgeber also damit, der Exekutive im Falle einer nationalen epidemischen Lage aufzutragen die „notwendigen Schutzmaßnahmen“ auszuwählen.

Versäumt hat es der Gesetzgeber, für die einzelnen Maßnahmen konkrete und individuelle Voraussetzungen zu etablieren. Eine Beschränkung des privaten Raumes ist damit unter den gleichen Voraussetzungen möglich, wie eine solche des öffentlichen Raumes, maßgeblich ist allein die Einschätzung der Exekutive im Hinblick auf die Notwendigkeit der Maßnahme.

Auch hier ist die Anhörung der Sachverständigen glücklicherweise nicht folgenlos geblieben, so dass nunmehr für einige wenige Maßnahmen, die verfassungsrechtlich sensible Bereiche betreffen (etwa Versammlungen und Gottesdienste) spezifische Voraussetzungen vorliegen müssen.

Dennoch: Hier hätte sich der Gesetzgeber besser generell am allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht orientiert, das neben einer Generalklausel für besondere Maßnahmen jeweils eigene Rechtsgrundlagen und besondere Tatbestandsvoraussetzungen formuliert.

Das Bild bleibt das gleiche

In dieser Form wird sich aus der Perspektive der Bevölkerung am bisherigen Vorgehen der Regierung nur wenig ändern. Die entschleunigende und integrierende Funktion des Parlaments bleibt damit ebenso auf der Strecke wie die optimale Vorhersehbarkeit der in den nächsten Monaten zweifellos folgenden Maßnahmen.

Insgesamt ist die Änderung des IfSG in seiner heute beschlossenen Form damit zwar ein Schritt in die richtige Richtung, aber alles andere als optimal. Die von der Bevölkerung eingeforderte Teilhabe wird allenfalls partiell (wenn überhaupt) verbessert, weil das Parlament eben nicht in seiner spezifischen Funktion als Parlament involviert wurde und wird. Die Debatte über die richtige Beteiligung des Parlaments in der Pandemie dürfte daher weiterhin ganz am Anfang stehen.

Weiterhin richten sich die medialen Augen fast ausschließlich auf die für nächste Woche anberaumte Konferenz der Bundeskanzlerin und der MinisterpräsidentInnen. Ließe sich hier nicht auch das Parlament einbinden? Ohnehin fehlt im Infektionsschutzgesetz weiterhin eine Regelung, die eine mögliche Priorisierung bei der Verteilung eines Impfstoffes regelt.

Diese Frage aber wird man zwingend frühzeitig im Parlament diskutieren müssen, wenn man darauf hoffen will, dass sie in der Bevölkerung akzeptiert wird.

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