Justizministerin Christine Lambrecht - Keine Frühstücksdirektorin

Seit gut einem Jahr ist Christine Lambrecht (SPD) Bundesjustizministerin. Zunächst belächelt als Verlegenheitslösung, versucht sich die Scholz-Genossin in einem Haus voller Volljuristen nun Respekt zu verschaffen. Nicht immer zum eigenen Vorteil.

„Da war eine, die liest, die denkt und nicht nur schwätzt": Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) / picture alliance
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Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

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Auch am Meer kann die Justizministerin mal entspannen. Ihre Leidenschaft aber sind die Berge. „Wenn ich aus dem Brennertunnel fahre und die Gipfel sehe, kann ich loslassen“, sagt Christine Lambrecht. Doch bevor sie in die Südtiroler Dolomiten in den Urlaub aufbricht, sitzt die Ministerin in ihrem Büro an der Mohrenstraße und möchte sich entschuldigen.

„Das tut mir leid“, sagt sie und meint die Debatte um härtere Strafen für sexuelle Gewalt gegen Kinder. „Ärgerlich“ sei nicht die Kritik an ihr, „sondern, dass dadurch Menschen verletzt wurden, die solche Verbrechen erlebt haben und den Eindruck hatten, ich sehe da keinen Handlungsbedarf.“ Das sei nicht der Fall gewesen. Das habe sie betroffen gemacht.

Lambrecht hatte nach den Missbrauchsfällen von Lügde, Bergisch-Gladbach und Münster nicht eingestimmt in die Rufe nach härteren Strafen. Flankiert vom Boulevard forderte der Vorsitzende der Deutschen Kinderhilfe, Rainer Becker, ihren Rücktritt. „Nicht mehr tragbar“ sei die Justizministerin, schrieb er, sie lebe in einem „Elfenbeinturm“, unfähig, „auch nur einen Hauch von Empathie für die Betroffenen zu entwickeln“. 

Neben viel Kritik gab es auch Lob

Harte Worte kann die Volljuristin aushalten. Aber das ging tiefer. Die 55-jährige SPD-Politikerin und Mutter eines 20-jährigen Sohnes sagt: „Was mich persönlich angefasst hat, war, dass Menschen unter dem Deckmantel des Kinderschutzes mir wünschten, dass meinem Sohn so etwas passieren solle. Wie widerlich ist das denn?“ Sie habe in einer aufgeheizten Situation deutlich machen wollen, dass Kindesmissbrauch und Kinderpornografie nicht alleine mit höheren Strafen und Strafrahmen verhindert und bekämpft werden könnten. Sie plädierte für intensivere Strafverfolgung und wirksamere Prävention. Schon vorher bekam sie Morddrohungen, jetzt sind es mehr.

Härtere Strafen werden kommen. Dass hängen bleibt, sie sei eingeknickt? „Damit kann ich leben“, sagt Lambrecht. Nicht hängen bleiben soll: „Die will das nicht.“ Es wirkt glaubhaft. Sie liegt auf einer Linie mit dem Missbrauchsbeauftragten. Ihr zuzurechnen ist, dass Ermittler Täter mit Fake-Bildern anlocken dürfen. Lambrecht wirkt verärgert über sich selbst in einer Debatte, in der nicht zuvorderst öffentliches juristisches Abwägen gefragt war, sondern politisches Gespür.

Lob für Lambrecht hat selbst die Union

Doch die Expertise ihres Hauses hochgehalten zu haben, dafür gibt es auch Lob. Wie von der ehemaligen SPD-Justizministerin Herta Däubler-Gmelin, Lambrechts erklärtem Vorbild: „Sie haben immer Leute, die sich nicht interessieren, komplexe Sachverhalte wirklich durchdringen zu wollen“, sagt sie, „insbesondere wenn Sie eine Frau sind und Sozialdemokratin.“ Aufgefallen sei ihr Lambrecht schon vor mehr als 20 Jahren im Rechtsausschuss des Bundestags. „Da war eine, die liest, die denkt und nicht nur schwätzt.“ Lambrecht sei eine Ministerin, die sich nicht mit Speichelleckern umgebe. Das sei selten – in allen Parteien.

Tatsächlich konnte Lambrecht ein gutes Jahr lang unbeschadet abarbeiten. Das heißt etwas im BMJV, einem Haus, angefüllt mit Volljuristen, die den Ruf haben, die eigenen Minister auch auflaufen zu lassen. Über Lambrechts Vorgänger Katarina Barley und Heiko Maas hört man dort, sie seien „bessere Kleiderständer“ gewesen. Lob für Lambrecht hat selbst die Union – obwohl sie Jens Spahns Corona-App-Pläne aus Datenschutzsorge verhinderte. Den Rückzieher Horst Seehofers bei der Polizei-Rassismus-Studie nennt sie „schwierig“ und sucht sich Verbündete im Kabinett, wie die Migrationsbeauftragte Annette Widmann-Mauz. Auch die Bundeskanzlerin soll auf ihrer Seite sein.

Auf dem Gipfel ihrer Karriere

Stürmisch agierte die Hessin aus Viernheim bei ihrem Amtsantritt. Von einem „Aufschrei“ im Haus erzählen Parteifreunde, weil Lambrecht auch Leute austauschte, die erst unter Barley gekommen waren. Es gingen die Staatssekretärin Christiane Wirtz, die Chefinnen von Leitungsstab und Kabinettsreferat, der Pressesprecher und auch der Staatssekretär für Verbraucherschutz Gerd Billen. „Mir war klar, wenn ich sofort einsteigen will und vom ersten Tag zu 100 Prozent auf dem Platz sein will, brauche ich ein Team, in dem jeder sofort versteht, was der andere will“, verteidigt sie sich. Gestalten wolle sie und „keinen Frühstücksdirektor für irgendwas“ geben.

Nach mehr als zwei Jahrzehnten Bundespolitik beherrscht Lambrecht das politische Geschäft. Wie Olaf Scholz wurde sie 1998 erstmals in den Bundestag gewählt. Die beiden verstehen sich. „Man sieht, dass wir gut miteinander können“, sagt sie und schätzt seine Politik sowie seinen „unglaublich hintergründigen Humor“. 2018 holte er sie als Parlamentarische Staatssekretärin zu sich ins Finanzministerium. Geht es nach ihr, soll Scholz Kanzlerkandidat werden. Gut ein Jahr vor der Bundestagswahl steht Lambrecht auf dem Gipfel ihrer politischen Karriere. Ans Loslassen denkt sie nicht.
 

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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