Chemnitz, ein Jahr danach - „Aus 'Hetze' und 'Jagd' eine 'Hetzjagd' machen, ist nicht ganz sauber“

Heute vor einem Jahr starb Daniel H. in Chemnitz an fünf Messerstichen. Warum konnte der Streit um „Hetzjagden“ die Groko in die Krise stürzen und Hans-Georg Maaßen das Amt kosten? Fragen an den Chemnitzer Investigativreporter Jens Eumann, der die Ereignisse begleitet hat

Unterstützer der rechtsextremistischen Bewegung Pro Chemnitz / picture alliance
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Jens Eumann ist Reporter im Ressort Recherche der Freien Presse in Chemnitz. Er gilt als einer der besten Kenner der rechten Szene in Sachsen. Er hat über die Ausschreitungen vor einem Jahr berichtet und davor auch schon den NSU-Prozess begleitet.   

Herr Eumann, der Chefredakteur der Freien Presse hat nach den tödlichen Messerstichen auf Daniel H. vor einem Jahr in einem Editorial geschrieben, die Freie Presse habe sich bewusst entschieden, den Begriff „Hetzjagd“ nicht zu verwenden, weil er aus Ihrer Sicht nicht zutreffe. Heute hat die Süddeutsche Zeitung neue Ermittlungsergebnisse veröffentlicht, nach denen es sehr wohl Indizien für Hetzjagden gegeben habe. Waren Sie damals etwas vorschnell? 
Ich sehe nach wie vor keinen Beleg für den Begriff „Hetzjagd“. Aber mir liegen die Chatprotokolle der Terrorgruppe „Revolution Chemnitz“ auch nicht in voller Form vor. Dass es Übergriffe auf Ausländer gegeben hat, ist aber unstrittig. 

Was hat Ihre Zeitung überhaupt bewogen, in die Diskussion um diesen umstrittenen Begriff einzugreifen? 
Wir müssen als Lokalpresse ganz besonders darauf achten, dass wir eine präzise Formulierung wählen. Die Berichterstattung aus der Ferne ist manchmal ein bisschen ungenau. Ich selbst habe von „Jagdszenen“ geschrieben. 

Was ist der Unterschied zwischen einer Jagd und einer Hetzjagd?
Im brandenburgischen Guben war 1999 ein algerischer Asylbewerber von rechtsextremen Jugendlichen über mehrere 100 Meter gejagt worden. In seiner Todesangst hatte er eine Glastür aufgetreten und war verblutet. Das war eine Hetzjagd, wie sie im Buche stand. 

Wie kamen Sie zu der Ansicht, dass es solche Hetzjagend in Chemnitz nicht gegeben hatte?
Ich wollte das damals nicht ausschließen. Aber wir hatten keine Hinweise dafür. Dass es Jagdszenen gab, war hingegen unstrittig. Es wurde auch gegen Ausländer gehetzt. Aber aus „Hetze“ und „Jagd“ eine „Hetzjagd“ zu machen, ist nicht ganz sauber, wenn man keinen Beleg dafür hat.

Jens Eumann,
Freie Presse / privat

Hat die Debatte um den Begriff Hetzjagd von eigentlichen Problem abgelenkt? 
Das kann sein – aber nicht in der Weise, dass man versucht hätte, zu verwässern, dass es in Chemnitz ausschreitungsartige Szenen gegeben hat. Dass Chemnitz ein rechtes Probleme hatte und hat, ist aktenkundig. Als Beate Zschäpe im NSU-Prozess zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, haben wir eine Karte veröffentlicht, die gezeigt hat, wie dicht das Helfernetz des NSU war. 

Und welche Rolle spielt Chemnitz dabei?
Mit 28 Einträgen ist die Stadt das am dichtesten besetzte Pflaster, noch vor Jena – der Ort, aus dem das Trio stammte.

Aber das heißt doch nicht, dass die tausenden Bürger, die vor einem Jahr in Chemnitz auf die Straße gegangen sind, alles Sympathisanten dieser Szene sind. 
Nein, einige der Demonstranten waren von außerhalb mobilisiert worden. Es waren auch viele Chemnitzer dabei, die ich nicht zu der Szene zählen würde. Aus meiner Sicht gibt es im Osten eine seltsame Unbedarftheit im Umgang mit Neonazis. Viele Leute haben keine Probleme damit, sich mit denen in eine Reihe zu stellen. Das war aber schon 2015 so, als in Chemnitz eine weitere Erstaufnahmestelle für Asylbewerber für Sachsen eingerichtet werden sollte.

Für Medien aus aller Welt war Chemnitz da schon zur Chiffre für Fremdenfeindlichkeit geworden. War das Editorial ihres Chefredakteurs der Versuch, zu retten, was nicht mehr zu retten war?
Nein, das war nicht der Punkt. Wenn Chemnitz per se fremdenfeindlich wäre, würden wir es auch so darstellen. Ich bin selber mehrfach bedroht worden, seit ich über den NSU-Prozess berichtet habe. Ich lasse mich nicht einschüchtern. Aber wir wollten uns nicht den Vorwurf gefallen lassen, dass wir nicht sauber recherchiert hätten. 

Ein Jahr nach dem Tod von Daniel H. ist das Urteil gefallen. In Chemnitz gehen die Meinungen darüber auseinander. Die einen behaupten es sei zu lasch. Dagegen haben andere das Narrativ der Verteidigerin übernommen, das Gericht sei vor dem zu erwartenden Zorn des rechten Mobs eingeknickt, als sie Alaa S. trotz Mangel an Beweisen schuldig gesprochen habe. Was glauben Sie? 
Ich sehe den Mangel an Beweisen nicht. Die Richterin hat in ihrer Urteilsbegründung nochmal klargemacht, dass es vier Zeugen für die Tatbeteiligung von Alaa S. gab. Nur für die „stechenden Handbewegungen“ gab es nur einen Zeugen – den, der aus dem Fenster eines Döner-Imbisses gesehen haben will, wie Daniel H. erstochen wurde. 

Die Verteidigerin von Alaa S. hat behauptet, dieser Zeuge sei nicht glaubwürdig
Der hat seine ursprüngliche Aussage zurückgenommen, weil er Morddrohungen aus dem Umfeld des Angeklagten bekommen haben will. Er hat plötzlich behauptet, er sei missverstanden worden. Er habe „schlagen“ gemeint, als er von „stechen“ gesprochen habe. Beide Worte bedeuten im Arabischen dasselbe. Die Übersetzer wurden dann noch einmal geladen. Aus meiner Sicht haben sie lückenlos belegt, dass es kein Missverständnis gegeben hat. Alaa S. hatte ja mit stechenden Gesten gezeigt, was er meinte.

Auf den ersten Blick erscheinen die tödlichen Messerstiche auf Daniel H. wie eine Messerstecherei, wie sie in diesen Kreisen häufiger vorkommt. Wie konnte aus diesem Verbrechen eine Staatsaffäre werden, die die Bundesregierung in eine Krise gestürzt und den Chef des Verfassungsschutzes das Amt gekostet hat? 
Weil rechte Gruppen, darunter auch ein AfD-Abgeordneter, die Proteste mit einem falschen Narrativ mobilisiert haben. Es ist übrigens derselbe Mann, der mich während des NSU-Prozesses bedroht hat: Lars Franke, ein früherer Neonazi. Er hatte auf seiner Facebookseite die Lüge verbreitet, Daniel H. sei einer bedrängten Frau zur Hilfe gekommen. Unterstützt wurde die Mobilisierung auch von Martin Kohlmann von Pro Chemnitz, der als Strafverteidiger schon ein Mitglied der Terrorgruppe Freital vertreten hat. In der rechtsextremen Szene sind beide gut vernetzt. Und die Hooligan-Gruppe Kaotic konnte schnell Unterstützung aus ganz Deutschland mobilisieren. 

Bei der Kommunalwahl im Mai konnte die AfD die Zahl der Stimmen verdreifachen. Mit 17,9 Prozent ist sie jetzt zweistärkste Partei im Rat der Stadt. Martin Kohlmann kam mit Pro Chemnitz auf 8 Prozent. Haben die beiden die Proteste gegen die tödlichen Messerstiche instrumentalisiert, um für sich Wahlkampf zu machen? 
Damit würde man denen ja unterstellen, sie hätten alles nur inszeniert. Fest steht aber, dass sie eine eigene Geschichte dazu erzählt und dieses Narrativ für sich genutzt haben. Das war der Trick. 

Wie haben die Ausschreitungen Chemnitz verändert?
Ich würde nicht sagen, dass die tödlichen Messerstiche auf Daniel H. die Gesellschaft gespalten haben. Sie haben aber die Polarisierung sichtbar gemacht, die sich in den Jahren seit 2013 vollzogen hat. 

Als Außenstehender hat man eher den Eindruck: Das Urteil hat den Graben noch vertieft
Ich denke, auch die schweigende Mehrheit hat jetzt erkannt: Es geht an die Substanz! Ich muss mich jetzt auch mal äußern – in die eine oder andere Richtung. 

Sie sind selber Chemnitzer. Wie gehen Sie damit um, dass die Stadt weltweit zur Chiffre für Fremdenfeindlichkeit wurde?
Wann immer ich damit konfrontiert werde, mache ich klar: Ja, wir haben ein Problem mit einer rechtsextremen Szene. Aber es gibt auch eine bunt schillernde Zivilgesellschaft. Es ist nicht so, dass Chemnitz das braune Loch wäre. Das ist totaler Quatsch. 

Werden die Ereignisse von Chemnitz auch bei der bevorstehenden Landtagswahl in Sachsen eine Rolle spielen? 
Ja, natürlich. Aber ich glaube, dass sich die Sympathie für die Rechten im Laufe des Jahres wieder nivelliert hat – und das liegt gar nicht an dem Gerichtsurteil gegen Alaa S. Ich glaube, viele Menschen haben erst jetzt gemerkt, wem sie da auf den Leim gegangen sind. 

Aber ein Lars Franke ist doch nicht repräsentativ für die ganze Partei. 
Nein, ich will auch gar nicht sagen, dass jeder in der AfD ein Björn Höcke sei. Es ist aber im Augenblick nicht ganz klar: Wo verläuft die Grenze zum Rechtsextremismus? Lars Franke hat früher in einer Neonazi-Band gespielt. Er steht auf der Liste derer, die Verbindungen zum NSU-Trio hatten. Jetzt hat er natürlich Kreide gefressen. Das ist bei vielen so. 

Bis vor kurzem hat der geschasste Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen für die rechtskonservative Werte-Union Wahlkampf für die CDU im Osten gemacht. Viele Christdemokraten sehen in ihm einen Hoffnungsträger. Warum eigentlich?
Na ja, Ministerpräsident Michael Kretschmer hat sich gerade deutlich von ihm distanziert. Die Ära Kretschmer stellt aber auch einen Bruch in der Geschichte der sächsischen CDU dar. Die war bis dahin erzkonservativ. Dass sie jemanden hofiert, der diese Tradition in einer Zeit aufrechterhält, wo die CDU in Berlin auch für SPD-Wähler wählbar geworden ist, ist doch nachvollziehbar. Man will auf beiden Seiten fischen. 

Dabei hat Maaßen mit seinen Forderungen ja eher der AfD in die Hände gespielt. War das Kalkül? 
Ich glaube, dass Maaßen das nicht macht, um der AfD in die Hände zu spielen. Er steht hinter seinen Forderungen nach einer strengeren Asylpolitik. Er hat sich aber keine Gedanken darüber gemacht, wie das taktisch wirken könnte. 

Wäre Maaßen auch dann so beliebt in Teilen der CDU, wenn er nach Chemnitz nicht als Märtyrer in die Geschichte eingegangen wäre?
Nein, mit Sicherheit nicht. Dass er über diesen Begriff „Hetzjagd“ gestolpert sei, ist ja auch nur die halbe Wahrheit. Er ist darüber gestolpert, dass er die Authentizität des Videos in Frage gestellt hat, das zeigt, wie zwei Rechte hinter einem Ausländer hinterherlaufen. Dabei hatte er dafür gar keine Anhaltspunkte. Und er ist auch darüber gestolpert, dass er in der SPD linksextremistische Tendenzen ausfindig gemacht haben will.

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