Rennen um den Vorsitz beim CDU-Parteitag - „Erteilt den alten Tempelideologen eine Absage!“

An diesem Wochenende wählen die Delegierten des CDU-Parteitags einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin für die Parteivorsitzende Angela Merkel. Wie bewertet der Parteinachwuchs die Verdienste der Bundeskanzlerin an der Parteispitze? Ein Gastbeitrag von Diana Kinnert

Sachlich-nüchtern oder demokratie-verhindernd? Der Stil der Parteivorsitzenden wird erst im Rückblick lesbar / picture alliance
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Diana Kinnert, 27, trat der CDU mit 17 Jahren bei. Von 2015 bis Ende 2016 leitete sie das Büro des Bundestagsvizepräsidenten Peter Hintze. Sie war Mitglied der Reformkommission der CDU und gründete den Jugendbeirat der Konrad-Adenauer-Stiftung. Sie arbeitet als Autorin und Geschäftsführerin einer Nachrichtenplattform für grüne Innovationen und Technologien. 2017 erschien ihr Buch „Für die Zukunft seh' ich schwarz“. 

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Angela Merkels Verzicht auf eine erneute Kandidatur als Parteivorsitzende, als nächste Bundeskanzlerin und für politische Ämter in Brüssel oder New York läutet eine Zeitenwende ein: 18 Jahre nach Übernahme ihrer Spitze wird die CDU die Führung wechseln. Über Merkel hinaus werden Plätze im Dezember zu wählenden Parteivorstand frei. Werden die Delegierten diese Wahlen für eine ganzheitliche inhaltliche Erneuerung und zur Selbstvergewisserung christdemokratischer Grundwerte nutzen – oder verkommt der Führungswechsel zur Farce: Zu einem fadenscheinigen Manöver für einen gegenwartsversessenen, oberflächlichen und geschlossen gedachten Kurswechsel?

Längst ist es zu früh, um nachrufend auf die politische Figur Angela Merkel und ihre politischen Leistungen der vergangenen Jahrzehnte Bezug zu nehmen. Ihr politisches Erbe, als Parteivorsitzende der deutschen Christdemokraten, aber auch als Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, sucht international und historisch ihresgleichen. Erst mit Blick aus der Zukunft werden sich die politischen Eigenheiten Merkels zeigen.

Irritation als Handschrift

Bis dato aber sind sich die Rezipienten in zwei Dingen einig: Merkels Politikstil war immerzu nüchtern-sachlich, analytisch-differenziert, frei von jedwedem Pathos. Was die einen als gesund, uneitel und demütig einordnen, entlockt anderen Geringschätzung: Merkel habe Unsichtbarmachung betrieben, Politik als Demokratieereignis gestohlen – und das Erzählen von Zukunftsgeschichten zu einem Verwaltungsakt mit Handwerksrüstzeug verzwergt. Das kann man so sehen. Andererseits: Wie viel Politik ist noch Politik, wenn die Frau an der CDU-Spitze ikonisiert wird? 

Unbestritten ist auch Merkels inhaltliche Linie innerhalb und für ihre CDU: Ob als Sozialdemokratisierung geächtet oder als Modernisierung der Konservativen gerühmt: Ihr Ausstieg aus der Atomenergie, der Aufschlag zur Energiewende, die Einführung einer rechtsverbindlichen Lohnuntergrenze, die Bereitschaft, Flüchtlinge aus politischen Kriegs- und Krisenregionen aufzunehmen und ihre Arbeit für die Zukunft der Europäischen Union haben die einst erzkonservative und rechte Partei von Helmut Kohl in die Mitte der Gesellschaft bewegt. Merkels CDU steht heute für einen liberalen und pluralistischen Politikansatz – einen, den verschiedene Tempelideologen als nicht-existent beschreiben. Sei er doch schlicht nicht lesbar auf einer linearen Achse von links bis rechts. Vielleicht ist genau diese Irritation für die Politiklehre des vergangenen halben Jahrhunderts Merkels bedeutendste Leistung.

Die Widersprüche der Postmoderne

Denn was zeichnet die Welt von heute mehr aus als Unübersichtlichkeit, Widersprüchlichkeit und Uneindeutigkeit, das Zusammenfallen verschiedener Wirklichkeiten, ob national oder global, ob analog oder digital? Traditionsbewusste treffen auf Moderne. Ethnien, Kulturen und Religionen vermengen sich. Radikalisierung sucht nahezu willkürlich nach Vehikeln und Kanälen. Was autoritäre Staaten untersagen, entäußert sich auf Twitter. Was unsagbar bleibt, lebt sich anonym aus. Mancherorts dehnen sich Kleinkinder bei Yogakursen und programmieren Senioren Smart Home-Apps; andernorts strecken sich die Senioren bei Achtsamkeitsübungen, und die Grundschulkinder ereifern sich bei Hackathons. Minirock und Vollverschleierung auf der Düsseldorfer Kö, Goldene Hochzeit und Tinderverhalten in der Hauptstadt, Spandau und Mitte in einem.

Die Postmoderne propagiert das Unreine und die Nichtglätte. Es verlangt eine sehr bewusste Selbstverortung, diese Umwelt in Bewegung nicht als Attacke auf sich selbst misszuverstehen. Darum ist bei allem berechtigten Sehnen nach politischen Alternativen und der erwachsenen Abweisung gegenwärtiger Politikangebote dennoch nachzuvollziehen, dass so manch einer nach den Maßstäben, Leitsätzen und Führungsfiguren der Vergangenheit trachtet. Allein die Wirklichkeit gibt diesen Kodex nicht mehr her.

Abschied von Links-Rechts-Schemata 

Der Versuch des CSU-Landesgruppenvorsitzenden im Deutschen Bundestag, Alexander Dobrindt, ein Gemenge aus Merkels Christdemokraten, Seehofers Christsozialen, Lindners Freidemokraten, und Rechtsextremen aus der Pegida-Bewegung sowie aus der Alternative für Deutschland (AfD) für eine „bürgerliche Mehrheit“ einzuspannen, markiert einen traurigen Höhepunkt im Trend, neue politische Milieus verzweifelt als pauschal links oder pauschal rechts einstufen zu wollen. Dobrindts sogenannte „Konservative Revolution“ war insofern tatsächlich mehr reaktionär denn konservativ: Die vielstimmige Wirklichkeit und ihre zahlreichen Anschauungen sind über einen veralteten dualistischen Tempelideologismus nicht mehr zu erfassen.

Lesbar wäre dies längst schon im relativen Erfolg der grün-schwarzen und schwarz-grünen Politikprojekte in Baden-Württemberg und in Hessen sowie im progressiven Jamaika-Bündnis in Schleswig-Holstein. Der Parteivorsitzende der Freidemokraten, Christian Lindner, positionierte sich in den Sondierungsgesprächen nach den vergangen Bundestagswahlen hingegen als unversöhnlicher gegenüber dem grünen Partner als deren natürlicherer Feind, nämlich Seehofers und Dobrindts Christsozialen.

Erlauben wir Organe aus dem 3D-Drucker? 

Diese neue Machtarithmetik ist auf eine Umwelt in Bewegung, Wirklichkeits- und Glaubensbilder im Offenen und eine emanzipierte und gereifte postmoderne Zivilgesellschaft an sich zurückzuführen. Ihr gerecht zu werden, macht Parteien vonnöten, die sich ihrer gesellschaftlichen Grundwerte auch und gerade in diesen Umbruchzeiten selbstvergewissern und darauf basierend neue Programme vorstellen, die nicht im ersten Schluss als Gegenentwurf zu Fantasiefeinden konzipiert sein dürfen. 

Merkels Abgang macht Platz dafür. Wie können Ökonomie und Ökologie sinnvoll und pragmatisch miteinander vereinbart werden? Zu welchen Steuersätzen müssen oder dürfen Datensätze als Geschäftsressourcen versteuert werden? Müssen Arbeitgeber bei Einsatz arbeitsplatzvernichtender Robotik besondere Verpflichtungen eingehen? Welches Sinnkonzept verlangt ein Leben in Würde im Lebensabschnitt ab einem Alter von 60 Jahren? Wie gelingt moderne Entwicklungshilfepolitik über technologische Errungenschaften? Erlauben wir Organe aus dem 3D-Drucker? Dürfen wir Indern und Chinesen den Plastikkonsum verbieten?

Die Lehren aus Merkels Amtszeit 

Es ist Tag eins nach der Ankündigung Merkels, sich künftig aus dem politischen Amtsgeschäft zurückzuziehen. Drei prominente CDU-Politiker – Friedrich Merz, Jens Spahn und Annegret Kramp-Karrenbauer – haben ihren Hut für Merkels Nachfolge in den Ring geworfen. Politische Kommentatoren aus der ganzen Republik röhren bereits nach linearen Kurswechseln in der Union.

Der Zukunft der CDU und den Delegierten auf dem Bundesparteitag an diesem Freitag  ist zu wünschen, eine Führungsmannschaft aufzustellen, die die Zeichen der Postmoderne erkennt und Merkel zumindest in einem nacheifert: Erteilt den alten Tempelideologen eine Absage! Der Wechsel der Parteiführung ist zu wichtig, um ihn an eine Eintagesschlagzeile über eine oberflächliche Kursdrehung zu verschwenden. Im Zweifel hält sich die Parteiführung ganze 18 Jahre lang.

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