Bürgerbeteiligung - Sickergrube des Guten

Die da oben wissen genau, was richtig ist für die da unten. Doch wie lässt sich der kleine Bürger in die richtige Richtung lenken? Das neue Zauberwort heißt: Bürgerrat. Es ist die Camouflage einer Expertokratie.

Halbfertige Nussknacker in einer Werkstatt / dpa
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Autoreninfo

Frank A. Meyer ist Journalist und Kolumnist des Magazins Cicero. Er arbeitet seit vielen Jahren für den Ringier-Verlag und lebt in Berlin.

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Da hat nun also der Spiegel den Soziologen Steffen Mau interviewt. Und kam dabei auf „das Arbeitermilieu“ zu sprechen, das doch als intolerant gegenüber Homosexuellen gelte. Mau sagte: „Auch in Deutschland fanden sich tolerante Einstellungen zur Homosexualität zunächst bei den besser gestellten, gut gebildeten Gruppen. Inzwischen ist das nach unten durchgesickert.“

„Nach unten“? „Durchgesickert“?

Die Beiläufigkeit dieser Formulierung provoziert die Assoziation: Unten ist die Sickergrube – das Arbeitermilieu, das nur langsam und eigentlich zu spät begreift, was die Stunde geschlagen hat, das sich schwertut mit den gesellschaftlichen Veränderungen, die hoch über der Arbeiterklasse kulturelle Geltung erlangt haben. Ob dieser Kalamität können der Spiegel und sein Experte nur seufzen, erleichtert immerhin, weil der Sickerprozess ja allmählich in Gang gekommen ist. 

Wie reden die?

Wie reden die, denen das Reden gegeben ist, durch Talent, Bildung, Position und Gehalt, über die, denen das Reden nicht gegeben ist, mangels Talent, Bildung, Position und Lohn? Sie führen einen „Diskurs“ über „Narrative“ und „Kategorien“ und „Vereindeutigungen“, wobei sie sich für ihr fundiertes Wissen gerne des fürsorglichen Plaudertons bedienen, denn es sollen möglichst viele „Menschen draußen im Lande“ mitgenommen werden, die ja vielleicht gerade kurz davorstehen, AfD zu wählen. Ihnen gilt es das Lastenfahrrad begreiflich zu machen, ebenso die Gendersternchen, natürlich die Klimakleberei und – vor allem – die Migration. 

Oben meint man es gut mit Unten. Hat Unten das noch nicht bemerkt?

Ebenfalls im Spiegel palaverte der eloquent-zögerliche Nachdenker Robert Habeck mit dem höchst renommierten Denker Ivan Krastev über die deutschen Dinge, unter anderem die Einwanderung. Der bulgarische Politologe aus Wien stellte fest: „Deutschland ist auf Schocks nicht vorbereitet.“ Der deutsche Wirtschaftsminister aus Flensburg antwortete: „Wir arbeiten daran, Ivan.“ 

Man geht vertraut um miteinander, man ist per Du, sozusagen unter sich, wenngleich vor aller Spiegel-Öffentlichkeit – und dadurch zugleich draußen im Land, wo all die Deutschen sind, die auf Schocks vorbereitet werden müssen, zum Beispiel durch den fürsorglichen Vizekanzler Habeck, der ja, wie er eifrig bekennt, daran arbeitet. 

Hat Unten noch nicht bemerkt, für wen Oben arbeitet? 

Oh nein, Oben und Unten prallen keineswegs gewaltsam aufeinander. Das Land ist nicht gespalten. Man lebt in demselben politischen Raum. Allerdings in zwei Welten – Rücken an Rücken, nicht Stirn an Stirn. Oben arbeiten die Habecks daran, Deutschland schockstark zu machen. Wer aber muss den Schock aushalten? Die wohlversorgte Akademikerzunft in ihren gepolsterten Positionen von Universitäten, Verwaltungen und Kulturnetzwerken?

Im feinen Diskurs der Elite

Im feinen Diskurs der Elite, die Deutschland denkt und lenkt, kommt das Unten, kommen Handwerksmeister, Sanitärinstallateure, Bauarbeiter, Schneiderinnen, Pflegerinnen, Friseurinnen nicht vor. Nur ein Beispiel: die Sendung „Campus und Karriere“ im Deutschlandradio. Welcher Arbeitnehmer mit Berufsabschluss fühlt sich da angesprochen? Finanzieren freilich darf er mit Gebühr und Steuern Rundfunk wie Campus.

173 Lehrstühle für Genderforschung zählt Deutschland – wenn es denn seit Redaktionsschluss nicht bereits einige mehr geworden sind. Ja, den Bürger*innen wird beigebracht, wie sie korrekt zu formulieren haben, und dies natürlich wissenschaftlich fundiert. Ferner wird ihnen eingebläut, wie sie zu heizen haben. Und es wird ihnen vorgeschrieben, wie sie ihr Auto benutzen dürfen, neuerdings in grünlinken Obrigkeitsgebieten auf 20 Stundenkilometer gebremst.
 

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Ganz besonders das Auto zählt zu den Sünden des Bundesbürgers, der partout nicht aufs Lastenfahrrad steigen will, weil es sich doch hinter dem Steuer bei Wind und Wetter und mit zwei Kindern im Fond so viel besser zur Schule und ins Einkaufszentrum fahren lässt – erst recht ins Wochenende oder gar in die Ferien. 
Das Auto – die kleine große Freiheit des kleinen großen Bürgers! 

Groß verweigert sich der kleine Bürger den Zumutungen durch das intellektuelle Glamour-Personal, das die Gesellschaft mit immer neuen Studien religiös-inbrünstig für das Wahre gegen das Falsche zu missionieren versucht. Der widerspenstige Zeitgenosse aus dem Plattenbau wählt AfD, eine ganz und gar unappetitliche Partei zwar, aber gerade deshalb geeignet, die linksgrünen Lehrmeister in jenen von Krastev und Habeck im Spiegel-Interview gerade gelobten Schockzustand zu versetzen, den sie für Deutschland herbeisehnen.

Die Demokratie ist offensichtlich noch nicht griffig genug für den autoritären Durchgriff von oben nach unten. Die Mühen der Ebene sind wohl bedeutender, als es sich die Erfolgsgeneration der Zeitenwende vorgestellt hat.

Daraus lässt sich nur der Schluss ziehen: Die Demokratie muss handlicher werden. Deshalb haben die pfiffigen Machtverwalter aus den Hörsälen nun das perfekte Plenum erfunden, in dem sie nach Lust und Laune mitregieren können.

Den Bürgerrat. 

Welch ein Wort! 

Ein Zauberwort. Das Sesam-­öffne-Dich für den Hintereingang in die sperrige Grundgesetz-Demokratie: 160 Bürger*innen, ausgelost aus 2200 Bewerbern, diskutieren demnächst bei sechs Online-Konferenzen das Thema Ernährung im Wandel. Den Lotterie-Räten stehen beim Nachdenken Moderatoren zur Seite, vor allem aber – Experten.

Experten vom klassischen Katheder an den neuen Stammtisch – akademisch Erleuchtete, die den Bürgerräten sanft die Richtung weisen dürfen. Neudeutsch nennt man es auch „Nudging“, Stupsen. 

Genau darum geht es: um die Instrumentalisierung der Demokratie durch einen neuen Stand, der sich bisher zu wenig beachtet fühlt, weil ihm die etablierte Politik nicht zu Füßen liegt. Und weil es offenbar an Sandkästen fehlt für die alljährlich zahllos ausgebrüteten Master und Magister in immer zahlloseren Studiengängen, insbesondere in neu erdachten. Die ausufernde Genderforschung ist nur ein Beispiel dafür. 

Der bezaubernde Begriff Bürgerrat wirkt als perfekte Camouflage für die Usurpation der demokratischen Strukturen: Bürger mimen Bürgerschaft, Experten waschen ihnen die Köpfe. Man wähnt sich kurz vor dem Ziel: 

Expertokratie statt Demokratie.

 

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