Bundestagswahl - Es geht ums Ganze

Mit der Bundestagswahl im September steht eine Richtungsentscheidung an. Doch worum geht es genau? Der Politologe Wolfgang Merkel analysiert die politische Lage und erklärt, warum die Koalitions­optionen den hehren Zielen und Vorstellungen entgegenstehen.

Raute der Ohnmacht: Bewohner von Marxloh bilden Merkels „Raute der Macht“ nach / Nikita Teryoshin
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Autoreninfo

Prof. Dr. Wolfgang Merkel ist Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin und Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Eine Ära geht zu Ende. Die Kanzlerin, die am 26. September 2021 ganze 5.787 Tage regiert haben wird, verlässt die große politische Bühne. Sie tritt nicht mehr zur Wahl an. Dies, obwohl wir vermuten können, sie hätte die Union auch noch ein fünftes Mal zum Wahlsieg und sich selbst ins Kanzleramt geführt. Ob dies ein Reifezeugnis für die Bürgerinnen und Bürger ihres (unseres) Landes ist, mag man mit guten demokratischen Gründen bezweifeln. 14 Jahre Regierungszeit Konrad Adenauer (1949–1963), 16 Jahre Helmut Kohl (1982–1998) und Angela Merkel (2005–2021) belegen: Die deutschen Wähler lieben die Beständigkeit, wohl weil sie dahinter politische Stabilität vermuten. 

„Keine Experimente“ war der Wahl- und Regierungsslogan von Konrad Adenauer und der von ihm sanft autoritär geführten christdemokratischen Union in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Mit wenigen Ausnahmen (1969 und 1972: Wahl Willy Brandts; 1998: Gerhard Schröder und erstmals Rot-Grün) ist das auch heute noch eine Grundmelodie deutscher Befindlichkeit. Angela Merkel brachte diese politische Trägheit der Deutschen bei den Bundestagswahlen 2013 in einer Debatte gegen den opu­lent parlierenden SPD-Kandidaten Peer Steinbrück auf den ebenso knapp-genialen wie wählerwirksamen Begriff: „Sie kennen mich.“ 

Schwarzes Gerangel, grüner Schein

Wenn es eine Konstante in der durchaus wendereichen Regierungszeit Angela Merkels gegeben hat, dann ist es ihr feines demoskopisches Gefühl für die Stimmungen der bundesdeutschen Wählerschaft. Aus demokratietheoretischer Sicht sind 16 Jahre ununterbrochene Regierungszeit problematisch. Sie offenbaren einen halbierten Pluralismus. Es gewinnt, wer im Amt ist. Nicht immer, aber immer öfter. Angela Merkel und den Deutschen blieben die bleiernen Endzeiten, wie sie die Langzeit-Kanzlerschaften von Adenauer und Kohl geprägt hatten, erspart. Das war nicht ihr Verdienst, sondern die Krisenwucht der Pandemie. Ein einfaches „Weiter so“ verbot sich in der Jahrhundertkrise.

Nun kandidiert sie nicht mehr, doch ihre Beliebtheit ist ungebrochen, wie uns die ZDF-Umfragen noch stets überraschungsfrei berichten. Mit Merkel hat die Union ihre Führung verloren und noch nicht wieder gefunden. Bestätigt hat dies mit peinlicher Deutlichkeit das Gestolpere und Gehakel zwischen Laschet und Söder bei der Kandidatenwahl. Mit der Methode „Aussitzen“ hat Armin Laschet die Kandidatenfrage gegen den anstürmenden CSU-Vorsitzenden gewonnen. Zumindest dies hat der Kandidat vom einstigen Übervater Helmut Kohl gelernt.

Während Laschet aussaß, wurde seine vermutlich stärkste Gegenkandidatin Annalena Baerbock in einer neogrünen Krönungsmesse konsensual gekürt. Medien und Bürger fielen auf die Inszenierung herein. Sie katapultierten die Grünen auf bizarre Umfragehochs und vermeintliche Augenhöhe mit der Union. Jeder und jede, der/die etwas von durchaus verbliebenen Wählerbindungen, Trägheiten, Pfadabhängigkeiten und dem dünnen Firnis medialen Scheins verstand, wusste, es ist genau dies, nämlich Schein. 

Demokratie braucht Alternativen

Die Spitzenkandidatin enttäuschte die Kritiker nicht und patzte: einmal, zweimal, dreimal. Das Hosianna der Medien verkehrte sich in: „Kreuzigt sie!“ Seither üben sich Kandidatin und Parteiführung in bescheidener Zurückhaltung. Dennoch, es sind die Grünen und nicht die SPD, die die Union herausfordern. 

Und sie tun dies mit einem alternativen Programm, einer politischen Vision und der einzigen Frau unter den Kanzlerkandidaten. Da stehen sich nicht eine Mitte-Rechts-Volkspartei (Union) und eine Mitte-Links-„Nicht-mehr-Volkspartei“ (SPD) gegenüber, die biegsam um den berühmten Medianwähler konkurrieren. Es sind zwei unterschiedliche Parteien und Weltsichten. Es geht um was, vielleicht um viel.

Stehen unterschiedliche Programme, Weltsichten und Persönlichkeiten zur Wahl, so sind das zunächst einmal gute Nachrichten. In einer Demokratie sollten Wähler politische Alternativen haben. Sie sollten sehen können, welche Partei welche programmatischen Präferenzen vertritt, welchen Weltsichten diese entstammen, welche Interessen sie vertreten und welche Zukunftsvision sie öffnen. Das ist das Zeichen eines vitalen Pluralismus. Ohne Pluralismus keine Demokratie. 

Fragmentierte Volksparteien

Union und SPD haben dies in den vergangenen zwei Jahrzehnten verkannt. Auf ihrer rastlosen Suche nach dem Medianwähler, den die Statistiker für mehrheitsentscheidend halten, haben sich die beiden Volksparteien in die Mitte des Parteiensystems gedrängelt. Die politischen Differenzen verdunsteten in wiederholten Großen Koalitionen. Nicht zuletzt der Drang der Merkel-CDU weg vom Konservatismus hin zum Zentrum des Parteiensystems beschleunigte die Verdunstung. Spätestens mit der Flüchtlingskrise öffnete sich damit auf der Rechten ein verlassener politischer Raum, in den die unter Bernd Lucke noch schlafmützig-rechtskonservative Partei AfD „einmarschierte“, sich festsetzte und radikalisierte. 

Schon vorher hatte die SPD einen ähnlichen Fehler begangen. Als sie mit Schröders Agenda 2010 – wie richtig diese grosso modo auch für das Land gewesen sein mag – ihr linkes politisches Standbein zur Mitte zog, öffnete sie auf der Linken einen unbesetzten politischen Raum. Die PDS nutzte ihn, verdoppelte die Zahl ihrer Wähler und zog mit 8,7 Prozent (2005) der Stimmen in den Bundestag ein.

Seitdem ist der genuin linke politische Raum fragmentiert: SPD, Linke und schon vorher die Grünen teilen sich nun einen Wählerraum, den vorher die Sozialdemokratie alleine bewirtschaftet hatte. Es waren also nicht nur strukturelle Ursachen, wie die Abnahme der Arbeiterschaft und der Gewerkschaftsbindung (SPD) oder die nachlassende Glaubens- und Kirchenbindung (CDU/ CSU), die die beiden einstmaligen Volksparteien schrumpfen ließen. 

Der drastische Rückgang ihrer Wähler und die babylonische Gefangenschaft in drei Großen Koalitionen seit 2005 hat die SPD schließlich aus der direkten Primärkonkurrenz zur Union herausgenommen. Die Sozialdemokratie war keine klare Alternative zur Merkel-­CDU mehr. Als dann mit Esken und Borjans noch eine besonders provinzielle Parteiführung ohne jede Führungseignung die Parteispitze übernahm, verfestigten sich die dramatisch niedrigen Umfragewerte um die 16 Prozent. Dies war die Stunde der Grünen. Mit klarer programmatischer Abgrenzung zu Union und SPD, erst recht zu FDP, AfD und in manchen außen- wie innenpolitischen Fragen auch zur Linken, avancierte die Umweltpartei zur eigentlichen Herausforderung der gefühlt ewig regierenden Union. 

Die „Richtungswahl“

Um was geht es bei der Bundestagswahl 2021? Es geht um nicht weniger als den Umgang mit dem gegenwärtig größten politischen Problem, dem Klimawandel. Wie kann man ihn effektiv bekämpfen, wie drastisch müssen die Maßnahmen sein, welche Kosten wird dies verursachen, wer hat diese vornehmlich zu tragen? Oder emphatisch: Wie organisieren wir die große Transformation vom fossil getriebenen Industriestaat Deutschland zu einer klimaneutralen Wirtschaft und technologisch aufgeschlossenen Wissensgesellschaft? Taugt eine solche alternative Entscheidung nun zur Richtungswahl?

Interessant ist, dass der deutsche Begriff „Richtungswahl“ in der Parteien- und Wahlforschung nicht verwendet wird. Er ist kein wissenschaftlicher, sondern ein politischer Terminus: häufig verwendet, selten definiert. Eine Definition könnte folgendermaßen aussehen:

•    Es geht um zwei Alternativen inmitten einer krisenhaften ökonomischen, ökologischen, sozialen und politischen Transformation. Es ist die Frage, die zur Wahl steht.
•    Die Gesellschaft ist in dieser Frage in zwei klar abgegrenzte Lager getrennt.
•    Die Gesellschaft ist gespalten, und die Spaltung polarisiert die politischen Diskurse.
•    Es stehen sich mindestens zwei Persönlichkeiten gegenüber, die die jeweiligen Lager glaubhaft, vielleicht sogar mit charismatischen Führungscharaktere repräsentieren.
•    Der Ausgang ist ungewiss. Es zeichnen sich keine klaren Regierungsmehrheiten ab.
•    Die Sieger werden die Politik nachhaltig verändern.

Gab es solche Richtungswahlen schon einmal in der Geschichte der Bundesrepublik? Ja, bei der Gründungswahl von 1949, als es um die Legitimation der bundesdeutschen Demokratie, die Westbindung der jungen Bundesrepublik und Adenauer (CDU) gegen Schumacher (SPD) ging. Der Wahlausgang war denkbar knapp. Die dann folgende lange Regierungszeit der Union bis 1969 hat die Republik maßgeblich geprägt. 

Historische Richtungswahlen

Aber auch die Wahlen 1969 und nachfolgend 1972 hatten Richtungscharakter. Da ging es im erbitterten Streit um die neue Ostpolitik, die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, das Abschütteln des Staubes der formierten Gesellschaft, mehr Demokratie wagen und nicht zuletzt um die Person Willy Brandt. Ihn nannten seine erbitterten Gegner „Herbert Frahm“, betonten seine außereheliche Geburt und verleumdeten ihn als Vaterlandsverräter, weil er aus dem skandinavischen Exil gegen das Naziregime gekämpft hatte. Gegen die Härten dieser Wahlkämpfe sind die kritischen Annotationen zu Baerbocks Aufpolierung von Lebenslauf und Publikation Petitessen, nimmt man die obligatorische Hetze der rechten Blasen in den sozialen Medien aus. 

Als Richtungswahl erschien auch die Abwahl Helmut Kohls im Jahre 1998. Nach 16 Jahren Kohl und der christdemokratisch-liberalen Koalition war die Republik des ewig Gleichen müde. Rot-Grün erschien da wie die Verheißung einer Frischzellenkur. Mit Schröder und Kohl trafen zwei Machtpolitiker aufeinander. Der Herausforderer mit rhetorischer Begabung und Chuzpe ausgestattet, der ewige Amtsverweser, immer noch vom Vereinigungscharisma umgeben. 

Zum späten Richtungswechsel nach den Wahlen 2002 kam es tatsächlich, allerdings anders als erwartet. Es gab keine rot-grüne Wende. Denn die Agenda 2010, die der lahmenden deutschen Volkswirtschaft zu einem langen Aufschwung verhalf, war eher eine neoliberale Kur: weniger Staat, mehr Markt. Dem Lande nützte es. Den Preis zahlte die SPD. Bis heute.

Nebenthemen

Werden die Wahlen 2021 die vierten Richtungswahlen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sein? Das ist noch keineswegs ausgemacht. Die große Richtungsfrage aber ist gestellt: Es geht um die Klimapolitik und die postfossile Transformation des wichtigsten Industriestaats Europas. Die Lager sind erkennbar, die Gräben tief. Zum Klima kommen wichtige postmaterielle Fragen wie Migration, Integration und Gleichberechtigung aller Geschlechter. Aber auch weniger wichtige Fragen vertiefen die Spaltung und befestigen die Lager: die Genderisierung der Sprache, der postkoloniale Umbenennungseifer von Straßennamen, Sprachkontrollen in Universität, Kunst, Theater und Literatur. 

Auch die Frage, wie viel Freiheit und wie viel Schutz dürfen wir uns in der nächsten Pandemie erlauben und zumuten, lässt eine zerstrittene Gesellschaft zurück. Diese postmateriellen Konflikte haben die Gesellschaft in den letzten Jahren stärker polarisiert als die klassischen Verteilungsfragen der sozialen Gerechtigkeit. Auf der traditionalistischen Seite stehen rechte Halbdemokraten der AfD und konservative Christdemokraten wie Friedrich Merz. 

Wo Laschet steht, wissen wir bezeichnenderweise nicht genau. Auf der anderen Seite stehen urban-akademische Mittelschichten, die die medialen Diskurse beherrschen. Ihre kosmopolitischen Weltsichten nehmen sie als Maßstab für die gesamte Gesellschaft. Vorneweg: die Grünen. Die posttraditionalistischen Segmente der Linken und der SPD sekundieren.


Spiegelt sich diese diskursive Unversöhnlichkeit auch im Parteiensystem wider? Wo stehen die Parteien? Wer will eigentlich mit wem koalieren und warum?

Die zwei Ausgeschlossenen

Zwei Parteien werden bei den Wahlen und der Bildung einer Regierungskoalition voraussichtlich überhaupt keine Rolle spielen: die AfD und die Linke. Für die AfD werden von der Forschungsgruppe Wahlen 10 Prozent (16. Juli 2021) vorausgesagt. Die Partei hat sich auf einem etwas niedrigeren Niveau konsolidiert und in weiten Teilen Ostdeutschlands weiter radikalisiert. Im Koalitionsspiel gilt für die Rechtsausleger die „conventio ad excludendum“, die Übereinkunft aller anderen Parteien, mit der AfD nicht zu koalieren. 

Stimmen für die AfD werden machtferne Proteststimmen sein. Auch die Linke ist von der Regierung weit entfernt. Ihr werden im Juli 2021 von allen größeren Umfrageinstituten gut zwei Prozentpunkte Stimmenverluste (2017: 9,2 Prozent) vorhergesagt. Weder die Union noch die FDP wird mit ihnen eine Koalition eingehen. Selbst bei der SPD und den Grünen ist ein solches Regierungsbündnis höchst umstritten. In der Außen- und Sicherheitspolitik oder der Haltung zu Russland erscheinen die Gräben nach wie vor unüberbrückbar. 

Die Führung der Linken hat sich zudem den Luxus geleistet, Sahra Wagenknecht, die einzige Politikerin ihrer Partei von bundesweiter Popularität, mit dem Ausschluss zu bedrohen. Die gestiegene Sehnsucht, dissentierende Meinung in einer Partei nicht zu diskutieren, sondern zu entfernen, hat gegenwärtig Konjunktur: Boris Palmer (Grüne), Wagenknecht (Linke), Hans-Georg Maaßen (CDU) und schon immer Thilo Sarrazin (SPD). Kein diskursives Reifezeugnis.

Jamaika und die Ampel

Die FDP ist wieder im Spiel. Nach ihrem verheerenden Wahlergebnis 2013 von 4,8 Prozent hat sie 2017 10,7 Prozent erreicht. Die meisten Umfrageinstitute trauen ihr für September rund zwölf Prozent zu. Der Zuwachs dürfte von der Union kommen. Er kann aber auch als Wahlprämie für das liberale Eintreten der Partei für den Rechtsstaat während der Covid-19-Pandemie gesehen werden. Koalitionspolitisch hat die FDP wieder in ihre Rolle als Mehrheitsbeschafferin zurückgefunden. Einem erneuten Versuch der Einbindung in eine Jamaika-Koalition wird sie sich kaum entziehen können. Rein numerisch dürfte Jamaika die wahrscheinlichste aller Koalitionen sein. 

Eine andere, politisch denkbare und numerisch mögliche Option wäre Grün-Rot-Gelb. Allerdings sieht keines der großen Umfrageinstitute von Allensbach bis Yougov dafür eine Mehrheit. Zudem wäre das für die Liberalen ein riskantes Spiel, da sie die wenigsten programmatischen Überlappungen mit ihren Partnerinnen hätte. Auch für die einst stolze Volkspartei SPD kann es kein Traumziel sein, erneut als Juniorpartnerin in eine Koalition einzusteigen. Nur wenn die Sozialdemokraten stärker als die Grünen würden, dürften sie rationalerweise einer solchen Koalition beitreten. 

Die Grünen

Bleiben die gegenwärtigen Hauptprotagonisten – die Union und die Grünen. Die interessantere Partei sind zweifellos die Grünen. Die meisten Umfrageinstitute versprechen ihnen mehr als die Verdopplung ihres Wahlergebnisses von 2017 (8,9 Prozent). Dies ist beachtlich, auch wenn sie nicht mehr die surrealen Umfragewerte vom April dieses Jahres verheißen, als die Umfrageinstitute die Grünen noch auf Augenhöhe mit der Union sahen. Dazwischen liegen die Patzer der Spitzenkandidatin, eine strategische Rückbesinnung der Machtparteien CDU/CSU und der Burgfrieden zwischen den beiden Kontrahenten Söder und Laschet.

Wichtiger noch waren die beginnenden Nachfragen der Medien und Bürger: Können die Grünen ökologische Transformation, Wirtschaft und Industriestaat miteinander verbinden? Während die Bürger den Grünen bei Weitem die größte Kompetenz in der Umwelt- und Klimapolitik zuschreiben, haben sie wenig Vertrauen in deren wirtschaftspolitische Kompetenzen. Da liegen sie nur knapp vor der Linken und der AfD, aber doch klar hinter SPD, FDP und der Union, die fast fünfmal so hohe Kompetenzwerte wie die Grünen erzielt (Infratest dimap).

Stets staatstragend

Dennoch, der Aufstieg der Grünen ist beachtlich. An die Stelle der einst linken oder hippiesk-ökologischen Gründergeneration sind längst ideologieferne gebildete Mittelschichten getreten, die sich einen ausgesprochen bürgerlichen Habitus zulegten. Der Bürgerschreck mutierte habituell zum Rollenmodell des urbanen Bürgers. Zudem haben die Grünen in Bund und Ländern gezeigt, dass sie regieren können. In Baden-Württemberg und Hessen stets staatstragend. Zu staatstragend, wie etwa die Aktivistinnen von Fridays for Future kritisieren. 

Wollen die Grünen ihr Alleinstellungsmerkmal als ökologische Transformations- und kosmopolitische Großstadtpartei oder als politisch-kulturelle Avantgarde nicht verlieren, werden sie eine gläserne Decke bei Wahlen über sich finden. Für Wahlergebnisse in der Nähe von 30 Prozent sind sie zu urban, zu kosmopolitisch. Von den Industriearbeitern, niederen Angestellten und der unteren Hälfte unserer Gesellschaft sind sie habituell und programmatisch zu weit entfernt.

Konstante Union

Und die Union? Die Christdemokratie ist in Deutschland die politische Konstante. Es ist weniger die Ethik des Christentums, ja nicht einmal die Kirchgangshäufigkeit oder der verbliebene Katholizismus, die die Union maßgeblich stützt. Es ist vielmehr ein sehr deutsches Lebensgefühl. Die Abneigung gegen Experimente, die Verheißung von Kontinuität, ein gewisser Strukturkonservatismus prägen die politische Kultur und die Einstellungen der Bürger dieses Landes. Die CDU und noch stärker die CSU in Bayern sind ihre kongenialen politischen Repräsentanten. 

Die Verheißung von Sicherheit, Kontinuität, Bodenständigkeit, Langsamkeit, ja, Langeweile ist wie ein Anker in einer Welt, die sich schnell, für viele zu schnell verändert. Dies schützt den Tanker Union vor zu schnellen Wenden und Wählerverlusten. Dazu passt auch der geringe Austausch an der Spitze. Während die SPD ihr Führungspersonal in den zurückliegenden 15 Jahren schneller und rüder auswechselte als Schalke 04 seine Trainer, regierten Adenauer, Kohl und Merkel zusammen 46 Jahre dieses Land und 49 Jahre die CDU. Das macht zeitgeistunabhängig und verschafft der Gerade-­noch-Volkspartei wichtige Atempausen im Niedergang, der allerdings auch sie längst erfasst hat.

Sollen die Grünen es machen?

Im Zeitalter der Individualisierung und der gesellschaftlichen „Singularitäten“ (Andreas Reckwitz) sind Volksparteien, die quer durch alle Schichten, Milieus, Alterskohorten und Regionen nennenswerte Wähler­anteile anziehen können, anachronistisch geworden. Sie verschwinden in der Regel nicht, aber sie werden zu mittleren oder kleinen Parteien. 

Ist eine solche Partei für Koalitionen gerüstet? Ja, sie ist es – und zwar für beide denkbaren Optionen. Es ist noch unklar, ob es für die Variante Schwarz-Grün reicht. Wenn ja, dann ist dies noch lange keine neue Große Koalition. Die CDU/CSU-SPD-Koalition von 2005 bis 2009 brachte noch knapp 70 Prozent der Wählerstimmen hinter sich. Das kann gerade noch eine Große Koalition genannt werden.

Die SPD ging sie mit 34,2 Prozent gegen 35,2 Prozent (CDU/CSU) der Wählerstimmen ein. 2017 erreichte die SPD gerade noch 20,5 Prozent der Wählerschaft. Die Große Koalition wurde zu einer minimal winning coalition. Heute hat sie in den Umfragen keine Mehrheit mehr. Die Grünen sollten das Koalitionsschicksal der SPD auch als ihr eigenes Menetekel lesen.

In einer schwarz-grünen Koalition könnten die Grünen in eine ähnliche Falle laufen. Dieses Mal würden sie für all die Kompromisse bezahlen, die sie notwendigerweise mit der größeren Partnerin einginge. Die Puristen in ihrer Anhängerschaft werden das nicht goutieren. Es gibt aber auch eine optimistischere Variante; die Grünen mögen sie lieben. Sie gehen die Koalition ein und werden wie einst die SPD in der ersten Großen Koalition (1966–1969) in den darauffolgenden Wahlen belohnt.

Sie haben sich in einer schwierigen Zeit als regierungsfähig erwiesen und würden für ein Jahrzehnt zur führenden Regierungspartei werden. Für die Union würde sich der Niedergang als Volkspartei beschleunigen. Dann gilt auch für sie Giulio Andreottis Bonmot: Die Macht nutzt den ab, der sie nicht hat.

Jede Koalition wird anstrengend

Mit der höchsten numerischen Wahrscheinlichkeit präsentiert sich gegenwärtig jedoch die Kombination Schwarz-Grün-Gelb. Die Grünen bekämen weniger Minister und würden zusätzlich von den drei marktaffinen Parteien CDU, CSU und FDP programmatisch in die Zange genommen werden. Die Kompromisse in der Umweltpolitik würden noch wässriger.

Blockieren sie wichtige Entscheidungen der beiden anderen Parteien, könnten die Grünen in der Öffentlichkeit als entscheidungsunfähige Vetopartei erscheinen. Welche der Koalitionsoptionen am Ende auch immer verwirklicht wird, von Schwarz-Grün über Jamaika bis hin zu Schwarz-Rot-Gelb: Das Regieren in Deutschland wird mühevoller, instabiler und konfliktreicher werden.

Trotz medialer Personalisierung werden in Deutschland vornehmlich Parteien und nicht Personen gewählt. Wahlforscher schätzen diese Präferenz auf mindestens 60 Prozent der Wahlentscheidung. In Transformationsprozessen mit ungewissem Ausgang ist jedoch Tauglichkeit der Kandidaten besonders auf den Prüfstand zu stellen. Zu fragen ist: Können sie Krise? Bei Baerbock liegen da keine Kenntnisse vor. Auch Armin Laschet konnte sich noch nicht richtig beweisen. Einzig Olaf Scholz vermochte dies im Bund und auf dem internationalen Parkett. Sein Exekutivbonus ließ sich bisher noch nicht auf seine Partei übertragen. Es ist deshalb unwahrscheinlich, dass er zum Bundeskanzler gewählt wird. 

Demokratie zwingt zur Inklusion

So liegt ein eigentümliches Paradox über diesen Wahlen. Die große Transformation reicht längst für Richtungswahlen. Die unterschiedlichen Antworten der Parteien darauf zumal. Die Polarisierung der Gesellschaft ist erheblich. Dennoch zwingen alle wahrscheinlichen Koalitionsoptionen zu lagerübergreifenden Bündnissen. 

Ist dies die List des nachholenden Parteienpluralismus, der nicht nur Richtung und das vermeintlich Richtige verlangt? Demokratie ist mehr als die Umsetzung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Sie verlangt Zustimmung und Inklusion. Und das ist gut so.

 

Dieser Text stammt aus dem Sonderheft zur Bundestagswahl des Cicero, das Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

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