Bundesministerin Anne Spiegel und die Flut  - Keine Demokratie ohne Selbstinszenierung 

Wer der seinerzeitigen rheinland-pfälzischen Umweltministerin Anne Spiegel vorwirft, sie habe sich während der Flutkatastrophe im vergangenen Sommer auch um ihr Image besorgt gezeigt, verkennt das Wesen von Parteipolitik. Denn gerade in einer Krise kommt es auch auf öffentliche Kommunikation an.

Anne Spiegel am 11. März auf dem Weg ihrer Anhörung im Untersuchungsausschuss des Mainzer Landtags zur Flutkatastrophe im Ahrtal / dpa
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Bundesfamilienministerin Anne Spiegel (Bündnis 90/Die Grünen) hat ein handfestes Problem: Aus einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss sind Chatprotokolle aus der Nacht des 15. Juli 2021 an die Presse durchgestochen worden. In dieser Nacht trat die Ahr über die Ufer, und mehr als 130 Menschen mussten in einer der größten Flutkatastrophen der Republik ihr Leben lassen. Und Anne Spiegel war zu diesem Zeitpunkt Umweltministerin des Landes Rheinland-Pfalz. 

Der Inhalt der Chats? Als den Beteiligten langsam dämmerte, dass die Flut doch nicht so „harmlos“ ausfallen würde wie anfangs vermutet, machte sich der Stab um Landesministerin Spiegel auch Sorgen um das Image der eigenen Chefin. Ihr Pressesprecher arbeitete sofort an Ideen, wie er seine Ministerin öffentlich präsentieren könnte: zum Beispiel durch ihre demonstrative Anwesenheit bei „Reparaturarbeiten“ oder Vororttermine mit Journalisten. Es dürfe aber auf keinen Fall „nach politischer Instrumentalisierung aussehen“, schreibt er um 8.07 Uhr morgens an Anne Spiegel. Sie zeigt sich einverstanden. 

Imagepflege statt Krisenbewältigung 

Die eigentliche Befürchtung: Ihr Amtskollege, Innenminister Roger Lewentz (SPD), könnte versucht sein, ihr die Schuld für die Fehleinschätzung der Lage in die Schuhe zu schieben. „Ich traue es Roger zu, dass er sagt, die Katastrophe hätte verhindert werden können oder wäre nicht so schlimm, wenn wir als Umweltministerium früher gewarnt hätten und dass es an uns liegt, weil wir die Situation unterschätzt hätten“, schrieb sie und schlug die sofortige Einsetzung eines Krisenstabes vor, um „handlungsfähig zu sein“. 

Seit der Veröffentlichung dieser Korrespondenz ist das Image der Bundesfamilienministerin heftig angekratzt. Es gehe ihr offenbar mehr um ihr eigenes Bild in der Öffentlichkeit als die Rettung von Menschenleben – so der unterschwellige Vorwurf in so mancher Berichterstattung. Selbstinszenierung in der Politik gilt demnach als unfein. Es müsse doch immer und allein um die Sache gehen. Dieses puristische Weltbild hat allerdings mit der Wirklichkeit wenig zu tun. Und das liegt schlicht an der Art, wie unsere Demokratie funktioniert. Und zwar notwendigerweise. 

Demokratie braucht Öffentlichkeit braucht Inszenierung 

Habermas hin, Habermas her: Man kann sich zwar wünschen, dass die repräsentative Demokratie wie ein Oberseminar an einer Universität funktioniert, aber es bleibt naiv. Nein, Parlamente sind keine Orte des Austausches der besten Ideen, in denen am Ende jene Recht bekommen, die die klügsten Argumente vortragen. In Parlamenten sind Gruppen von Interessenvertretern versammelt, die um Vorherrschaft im Staate kämpfen, um im Interesse ihrer Auftraggeber, der Wähler, zu handeln. 

Aber keine politische Partei kann Einfluss und Macht entfalten, ohne über Rückhalt in der Bevölkerung zu verfügen. In einer hochkomplexen und weitverzweigten Massengesellschaft ist dieser Rückhalt nur durch die Beeinflussung des öffentlichen Raumes denkbar. Er fungiert als jene Klammer, die politische Eliten und Wahlvolk aneinander kettet – oder voneinander entfernt. Öffentliche Kommunikation und, ja, auch Selbstinszenierung sind im Wettbewerb der Parteien um Zustimmung beim Wahlvolk daher eine conditio sine qua non. Wer darauf verzichtet, kann gleich ganz damit aufhören, Politik zu machen. 

Man kann den Spieß daher auch umdrehen: Die Mitarbeiter von Anne Spiegel hätten schlicht ihren Job nicht gemacht, wenn sie in einer Krise nicht auch über öffentliche Kommunikation und Inszenierung ihrer Chefin nachgedacht hätten. Gerade in einer Krise kann professionelle Kommunikation zu einem entscheidenden Schlüssel werden. Man muss dieser Tage nur einen gedanklichen Sprung in die Ukraine machen, um das zu verstehen. Was wäre die Ukraine ohne die öffentliche Selbstinszenierung ihres Präsidenten? Sie hat entscheidenden Anteil nicht nur an der Widerstandskraft der Ukrainer, sondern auch an der Reaktion des Westens auf den russischen Angriff. 

Politik als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln 

Das eigentliche Gschmäckle haftet daher auch etwas ganz anderem an. Nämlich der Unterstellung Spiegels, ihr Amtskollege Lewentz könne ihr die Schuld für das Ahr-Debakel in die Schuhe schieben. Und das klingt unweigerlich danach, als könnte sie versucht sein, den Spieß einfach umzudrehen. 

Aber auch eine solche Verhaltensweise wurzelt unausrottbar im Fundament unserer Demokratie. Ähnlich wie auf einem wirtschaftlichen Markt sind die Parteien einander im Medium des Wettbewerbs ausgesetzt. Das ist kein Konstruktionsfehler, sondern ausdrücklich gewollt. Nur durch diese Konkurrenzsituation entsteht die Balance zwischen Ausübung der Herrschaft und ihrer gleichzeitigen Kontrolle. 

Aber sie schafft auch spieltheoretische Unsicherheit, denn man weiß nie, ob der politische Gegner eine prekäre Situation gegen einen ausnutzen wird. Der alte Clausewitz hatte daher gar nicht Recht, als er sagte, der Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Es ist genau umgekehrt. Das könnte nur anders sein, wenn sich alle deutschen Parteien zum Buddhismus bekennen würden. Das indes ist bis auf weiteres wohl nicht geplant. 

Dass Anne Spiegel mit der Vermutung, die Katastrophe an der Ahr könnte auch für parteipolitische Zwecke instrumentalisiert werden, ganz richtig lag, zeigt dabei übrigens ausgerechnet die Veröffentlichung der Chats selbst. Sie wurden, offenbar von Abgeordneten, an die Presse durchgestochen. Dass das im Dienste der Wahrheit geschah und nicht zum Zwecke der Beschädigung eines politischen Gegners, wird man kaum im Ernst glauben. Und selbst, wenn es so wäre: Es handelt sich um Geheimnisverrat und damit eine Straftat. 

Untersuchungsausschüsse sind befangen 

Überhaupt muss man sich ja von der Illusion befreien, ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss sei eine objektive Angelegenheit. Das kann schon deshalb nicht so sein, weil alle Beteiligten im Unterschied zu einem Gerichtshof befangen sind. Die Opposition will die nächsten Wahlen gewinnen. Das geht nur, wenn die Regierung Schaden nimmt. Manchmal wird dann auch zu unlauteren Mitteln gegriffen. 

Die Regierungsfraktionen wiederum wollen die nächsten Wahlen nicht verlieren und werden nicht allein Argumente, sondern am Ende ihre Mehrheit im Ausschuss nutzen. Und wenn die Regierung aus mehreren Parteien besteht, wird es besonders spaßig: Der Gegensatz von Regierung und Opposition kann sich dann nämlich noch in die Regierung selbst verlagern, indem sich die Koalitionspartner die heißen Kugeln gegenseitig zuschieben. In Rheinland-Pfalz scheint dieser Zustand längst erreicht. Der Fraktionsvorsitzende der Grünen, Bernhard Braun, jedenfalls wies kürzlich darauf hin, die Umweltministerin hätte in die Befugnisse des Katastrophenschutzes „nicht eingreifen“ können, die lägen nämlich beim Innenministerium und damit der SPD. Und das ist nicht einmal falsch.

Medien müssen unabhängig bleiben 

Es gibt nur eine Kraft, die in solchen Situationen den Überblick behalten kann und nicht selbst „Kriegspartei“ werden sollte: die publizistische Öffentlichkeit. Es liegt an ihr, sich nicht von einzelnen Akteuren instrumentalisieren zu lassen. Bereits die Veröffentlichung der Chats legt allerdings nahe, dass genau dies von den Durchstechern beabsichtigt ist.  

Es wurden ja offenbar nicht alle Chats übermittelt, sondern nur jene, die Anne Spiegel bloßstellen können. Vor dem Untersuchungsausschuss wies Spiegel dieser Tage die gegen sie öffentlich erhobenen Vorwürfe zurück: „Es ist absolut falsch, dass ich zu irgendeinem Zeitpunkt eine andere Priorität hatte, als den Menschen vor Ort zu helfen.“

Die Diskussionen des Stabes von Anne Spiegel über mögliche Strategien der Kommunikation werden wohl tatsächlich einen nur sehr kleinen Teil der gesamten Korrespondenz ausmachen. In der Hauptsache wird es um die Bewältigung der Flut und ihrer Folgen gegangen sein. Alles andere ist schwer vorstellbar. Nur wenn es genau umgekehrt wäre, müsste an der politischen Integrität der Bundesfamilienministerin gezweifelt werden. Aber das wissen wir nicht. Und auch der Untersuchungsausschuss wird darüber kein objektives Urteil fällen. 

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