Breitscheidplatz Terroranschlag - „Das Thema Breitscheidplatz ist für die Regierung unbequem geworden“

Vor drei Jahren fuhr der Islamist Anis Amri mit einem Sattelschlepper über den Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz. Der Terroranschlag kostete zwölf Menschen das Leben. Sascha Klösters verlor an diesem Tag seine Mutter. Wie geht er damit um?

Zwölf Fotos, viele Fragen: Für die Opfer des Terroranschlags ist das Mahnmal ein wichtiger Ort / Sascha Klösters
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Sascha Klösters ist Pilot. Er wurde bei dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz vor drei Jahren schwer verletzt, seine Mutter verstarb noch vor Ort.  

Herr Klösters, am 19. Dezember jährt sich das Attentat auf dem Berliner Breitscheidplatz zum dritten Mal. Was machen Sie an diesem Tag?
Wir werden uns in der Gedächtniskirche versammeln – also alle die, die in irgendeiner Form Opfer des Anschlags wurden. Das sind Überlebende und Angehörige, aber auch Helfer. Es sind ungefähr 30 Leute, wenn nicht noch mehr.  

Ihre Mutter wurde bei dem Anschlag getötet. Wie schwer fällt es Ihnen, an diesen Ort zurückzukehren?
Es ist nicht mehr so schwer wie in den ersten beiden Jahren. Für mich ist es weniger problematisch als für viele andere. Ich bin auch da, um sie zu unterstützen.

Sie schöpfen Kraft daraus, anderen zu helfen?
Genau. Der Besuch dieses Ortes ist sehr wichtig, um das zu verarbeiten, was ich dort erlebt habe. Wenn ich den Breitscheidplatz betrete, ist der Moment des Anschlags wieder sehr präsent. Ich sehe plötzlich wieder alles vor mir.

Gibt es Geräusche oder Gerüche, die Sie damit verbinden?
Nein, es sind eher zwei Bilder, die sich mir eingeprägt haben: der Breitscheidplatz vor und nach dem Anschlag. Fast an derselben Stelle, wo ich schwer verletzt wurde und meine Mutter starb, steht heute wieder eine Glühweinbude.

Ein letztes Selfie mit seiner Mutter
Angelika Klösters kurz vor dem Anschlag / privat

Ihre Familie lebt im Rheinland. Sind Sie an jenem Tag extra für den Weihnachtsmarkt nach Berlin gekommen?
Nein, ich hatte meiner Mutter einen Städte-Trip geschenkt. Drei Tage Berlin, mit Checkpoint Charlie, Stasi-Knast Hohenschönhausen, East Side Gallery und allem, was dazugehört. Der 19. Dezember war unser letzter Tag. Wir waren ziemlich kaputt vom vielen Herumlaufen. Der Weihnachtsmarkt war unsere letzte Station. Wir waren um 18 Uhr schon einmal da, sind dann aber erstmal ins Hotel, um uns auszuruhen. Knapp zwei Stunden später waren wir zurück.

Dabei besteht dieser Markt fast nur aus Fress- und Trinkbuden. Was hat Ihnen daran gefallen?    
Die Atmosphäre vor der Glühweinbude, die war weihnachtlich. Wir haben dort sehr schnell andere Leute kennengelernt, mit denen wir uns angefreundet haben. Es war eine entspannte Runde. Meine Mutter hatte sich einen weißen Glühwein bestellt, ich einen roten. Wir saßen in der Bude.

Wie haben Sie den Anschlag erlebt?
Es war zwei Minuten nach acht, da dachte ich, hier wird ein Feuerwerk abgebrannt. Was nach kleineren Explosionen klang, das waren aber die Aufschläge, die entstanden, als der Attentäter mit seinem Lkw durch die Glühweinbuden fuhr. Dann gab es plötzlich einen großen Knall.

Was ist passiert?
Der Lkw fuhr genau durch die Bude, in der wir saßen. Es ging so schnell. Ich konnte nicht mehr zur Seite springen, weil der Gang viel zu eng war. Der Lkw hat mich frontal erfasst und durch die Bude geschleift. Ich habe nur noch Trümmer gesehen. Es war der totale Schock.

Was war Ihr erster Gedanke?
Ich weiß nicht, was hier passiert ist – aber irgendwas habe ich gerade überlebt.

Sie haben nicht das Bewusstsein verloren?
Nein, das war ja das Schlimme: Ich lag auf dem Boden und hab alles miterlebt. Andere Opfer, denen nicht mehr zu helfen war. Es war ein Ort der totalen Verwüstung. Ein kriegsähnlicher Zustand.

Wo war Ihre Mutter?
Ich habe sie später gesucht.

Wie konnten Sie mit gebrochenem Becken noch laufen?
Ich hab’s zumindest versucht. Der Gang war aber sehr wackelig. Ich hab’s nur Zentimeter für Zentimeter nach vorn geschafft.

Hatten Sie keine Schmerzen?
Doch, aber die kamen erst später, nach zehn Minuten. Ich war noch voller Adrenalin.

Wie haben Sie Ihre Mutter gefunden?
Ich hab ihren Namen gerufen. Sie hat auch geantwortet. Sie war halb bedeckt von Trümmern, nur ihr Arm ragte heraus. Ich habe sie halb aus den Trümmern befreit. Es schien alles in Ordnung zu sein.

Was ist dann passiert?
Erst als die Ersthelfer die restlichen Trümmer beseitigt haben, habe ich gesehen, wie schwer sie verletzt war. Wir lagen beide aufgereiht an der Straße zwischen anderen Verletzten in einem Zelt, das aufgebaut wurde. Ich hab aus dem Augenwinkel gesehen, wie Sanitäter versucht haben, sie zu reanimieren. Sie ist vor meinen Augen gestorben.

Konnten Sie glauben, was da geschah?
Nein, ich saß da wie betäubt und hab ins Leere geschaut. In dem Moment war alles zu viel.

Wann haben Sie erfahren, dass Sie Opfer eines Terroranschlags wurden?
Erst zwei Tage später, im Benjamin-Franklin-Krankenhaus. Zwei Tage lang bin ich untersucht und zig-fach geröntgt worden. In meinem Zimmer gab es einen Fernseher. Ich hab es aus den Nachrichten erfahren.

Kam keine Polizei?
Doch, zwei Männer vom Landeskriminalamt. Aber die wollten nur meine Bekleidung mitnehmen zur Untersuchung. Tja, dann hatte ich nicht mal mehr was zum Anziehen.

Hat Ihnen keiner geholfen?
Nein, ich war da ganz allein. Mein Vater und mein Bruder kamen erst zwei Tage später nach Berlin. Vorher ging es nicht, wegen der Untersuchungen. Ein Freund von mir hat mir was zum Anziehen gekauft und ins Krankenhaus gebracht.

Haben Sie sich allein gelassen gefühlt?
Da war nur eine große Leere. Man weiß nicht, was passiert ist. Und man weiß nicht, was mit einem selber passiert ist. Wie stehen die Heilungschancen? Werde ich wieder laufen können? Kann ich meinen Beruf als Pilot noch ausüben? Das  waren Fragen, die mich beschäftigt haben.

Gab es keine psychologische Betreuung?
Doch, schon einen Tag später war ein Seelsorger da. Der hat erstmal gefragt, was ich erlebt habe. Es ging darum, darüber zu sprechen, was passiert ist. Das hat sehr gutgetan.

Es war der erste islamistische Terroranschlag in Deutschland. Haben Sie in Ihrem Schockzustand begriffen, was das bedeutet?
Ich konnte es einordnen. Ich war kurz davor in Nizza gewesen, wo ein Terrorist mit einem Lkw die Promenade heruntergefahren war. Ich habe versucht, mir vorzustellen, wie das war. Ein fürchterlicher Gedanke.

Wem, glauben Sie, galt der Terroranschlag in Berlin?
Es war ein Anschlag auf Deutschland. Er hat den Staat mitten ins Herz getroffen, in Berlin, auf einem belebten Platz. Er sollte die Menschen verängstigen.

Und hat das in Ihrem Fall funktioniert?
Nein, mich hat dieser Anschlag eher noch stärker gemacht.

Brauchten Sie keine Therapie?
Nein, mich hat man in der Trauma-Ambulanz nach der zweiten Sitzung wieder entlassen. Ich fand's gut. Es ist wichtig, nach vorne zu gucken.

Haben Sie sich nie gefragt, warum das ausgerechnet Ihnen passiert ist?
Die Frage habe ich mir nur am Anfang gestellt. Das bringt nichts. Man macht sich nur verrückt. Wir waren halt zur falschen Zeit am falschen Ort. Ich werde wieder auf den Weihnachtsmarkt gehen. Ich lasse mich nicht einschüchtern.

In einem offenen Brief schrieben die Opfer an die Kanzlerin, der Terroranschlag sei „auch eine tragische Folge der politischen Untätigkeit der Bundesregierung“. Machen Sie Angela Merkel für den Tod Ihrer Mutter verantwortlich?
Schwere Frage. Es sind viele Fehler in den Behörden passiert, vieles wurde vertuscht oder geheim gehalten. Unterlagen wurden vernichtet und zum Teil auch gefälscht. Das alles kam aber erst durch die Untersuchungsausschüsse ans Licht. Die Fehlerkette, die sich durch alle Instanzen hindurchzieht, hat sie am Ende als Kanzlerin zu verantworten. 

Sie und die anderen haben damals auch beklagt, die Kanzlerin hätte Ihnen nicht kondoliert, weder schriftlich noch persönlich. Hat sie das inzwischen nachgeholt?
Ja, ein Jahr danach – und das war auch überfällig. Die Bundesregierung hatte uns ja unbürokratische Sofort-Hilfe versprochen. Also, die Hilfe, die wir bekamen, war weder unbürokratisch noch erfolgte sie sofort. Das haben wir der Frau Merkel auch gesagt. Wir hatten Härtefälle dabei, die dringend finanzielle Unterstützung brauchten.

Welche Hilfe hätten Sie sich gewünscht?
Die Beerdigung meiner Mutter mussten wir erstmal aus eigener Tasche bezahlen. Die ersten Raten kamen Monate später, wir mussten jedesmal ein Formular ausfüllen. Es war der reine Wahnsinn. Vom Weißen Ring gab es 300 Euro Soforthilfe. Das war vielleicht nicht viel, aber ein positives Signal. 

Für die Unterstützung der Opfer hatte die Bundesregierung den SPD-Politiker Kurt Beck als Opferbeauftragten eingesetzt. Konnten Sie dem nicht sagen, was Sie brauchen?
Richtig, der hat erste Gespräche mit uns geführt, um zu klären, wo unsere Probleme liegen – und wie es mit einer Entschädigung aussieht. Das war ein riesengroßes Problem.

Weil man ein Menschenleben nicht gegen Geld aufwiegen kann?
Genau. Wir Hinterbliebenen haben nach dem Opferentschädigungsgesetz anfangs eine so genannte Schockpauschale von 10.000 Euro bekommen. Viel zu wenig, haben wir gesagt. Auf unseren Druck hin ist diese Summe auf maximal 30.000 Euro aufgestockt worden.

Hat das Geld gereicht, um Ihre Kosten zu decken?
Nein, überhaupt nicht. Ich war fast ein Jahr lang arbeitsunfähig. Als Pilot verdient man ganz gut. Plötzlich hatte ich keine Einnahmen mehr, nur noch das Krankengeld von meiner Krankenversicherung.

Mussten Sie einen Kredit aufnehmen?
Nein, ich hab vom Ersparten gelebt. Das Geld hatte ich eigentlich fürs Alter zurückgelegt.

Konnten alle Opfer die Lücke so mühelos schließen?
Nein, ein Mann ist querschnittgelähmt, ein anderer sitzt im Rollstuhl. Einige Polizisten und Feuerwehrleute sind bis heute arbeitsunfähig. Deswegen ist der Zusammenhalt in der Gruppe so wichtig. Wir geben uns gegenseitig Halt.  

Der Täter, Anis Amri, wurde vier Tage später in Italien erschossen. Untersuchungsausschüsse haben herausgefunden, dass ihn die Sicherheitsbehörden schon lange vor der Tat als islamistischen Gefährder auf dem Schirm hatten. Wie haben Sie und die anderen auf diese Nachricht reagiert?
Es macht mich wahnsinnig wütend. Ich habe vor zwei Wochen den Untersuchungsausschuss des Landes NRW in Düsseldorf besucht und hab das selbst gehört: Die Behörden wussten, er würde einen Anschlag verüben. Sie wussten auch, es würde eventuell ein Weihnachtsmarkt werden. Sie wussten bloß noch nicht, wann und wo. Warum man so jemanden nicht einfach festnimmt und abschiebt, das verstehen wir alle nicht.

Warum gestalten sich die Untersuchungen so schwierig?
Die Politik ist schon entschlossen, diesen Fall aufzuklären. Aber ich hab das Gefühl, sie wird von oben gebremst. Das Thema „Breitscheidplatz“ ist für die Regierung unbequem geworden.

Woher rührt der Widerstand?
Niemand will Verantwortung für die Fehler übernehmen, die im Fall Amri begangen wurden. Es ist dasselbe Muster wie im NSU-Prozess.  

Wie wichtig ist die Aufklärung für Ihren Seelenfrieden? 
Sehr wichtig. Mit dem Anschlag sind viele Fragen verbunden. Die will man beantwortet bekommen.

Welche Frage treibt Sie heute am meisten um?
Warum hat man den Attentäter nicht schon vorher aus dem Verkehr gezogen?

Auf dem Breitscheidplatz erinnert jetzt ein Mahnmal an die zwölf Menschen, die bei dem Anschlag ums Leben gekommen sind. Wie wichtig ist dieser Ort für Sie?
Er ist wichtiger als das Grab meiner Mutter. Das ist der Ort, wo ich sie zuletzt lebend gesehen habe. 

Vor der Kirche steht auch ein Foto Ihrer Mutter. Wann ist es entstanden?
Zwei Tage vor dem Anschlag. Ich habe sie in unserem Hotelzimmer fotografiert. Sie war sehr glücklich. Wer hätte da ahnen können, dass auf dem Weihnachtsmarkt in zwei Sekunden alles vorbei war?

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt

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