Attentat am Breitscheidplatz - Dröhnendes Schweigen

Auch ein Jahr nach dem Terroranschlag am Berliner Breitscheidplatz werden immer neue Ermittlungspannen öffentlich. Zudem steht Angela Merkel in der Kritik für ihren Umgang mit den Angehörigen der Opfer. In beiden Fällen offenbart sich ein eklatantes Sprachversagen der Politik

Der Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz, ein Jahr nach dem Terroranschlag: die Versäumnisse endlich benennen / picture alliance
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Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Vermutlich jeder kennt das Beschwichtigungs-Bingo in Zeiten konkreter Terrorgefahr: „Ganz sicher sind wir nie. Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht.“ Oder das hanebüchene Argument: „Die Gefahr, bei einem Verkehrsunfall getötet zu werden, ist größer, als durch ein terroristisches Attentat zu sterben.“ Oder der Klassiker: „Es wäre das falsche Zeichen, sich vom Terror einschüchtern zu lassen und öffentliche Veranstaltungen zu meiden. Damit hätten die Terroristen ihr Ziel erreicht.“

Tatsächlich wäre an all diesen Aussagen etwas dran, wenn sie nicht so entkernt wären. Und die Entkernung ist das Versagen der Behörden, durch das derartige Sprüche wie eine fatale Verschiebung eigentlich rechtsstaatlicher Pflichten auf die individuell-trotzige Ebene wirken. Der Fall des Berlin-Attentäters Anis Amri bringt abermals zum Vorschein, dass persönlicher Trotz im Alltag nichts bringt, wenn er nicht rechtstaatlich gestützt wird.

Hinweise wurden nicht ernst genommen

Nach Recherchen des ZDF-Magazins „Frontal 21“ soll das Landeskriminalamt (LKA) Nordrhein-Westfalen bereits im Februar 2016 gewusst haben, dass Amri direkten Kontakt zum sogenannten Islamischen Staat (IS) hatte, sich mit dem Codewort „Dougma“ als Selbstmordattentäter anbot und von der Terrormiliz beauftragt wurde, „einen nicht bekannten Tatplan in die Tat umzusetzen“. Im März 2016 soll das LKA die Abschiebung des Tunesiers gefordert haben, da „nach den vorliegenden belastbaren Erkenntnissen zu prognostizieren ist, dass durch Amri eine terroristische Gefahr in Form eines (Selbstmord-)Anschlags ausgeht“.

Erschwerend kommt hinzu, dass ein syrischer Flüchtling das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) zweimal vor dem späteren Attentäter gewarnt haben soll. Schon im Herbst 2015 soll Mohammed J. einem Sozialarbeiter gesagt haben, dass Amri sich ihm gegenüber als radikaler Islamist mit falscher Identität geoutet habe. Die Polizei habe den Zeugen aber erst Wochen nach dem Berliner Anschlag vom 19. Dezember 2016 vernommen. Es sind nur zwei von vielen fassungslos machenden Pannen, die „Frontal 21“ in der 45-minütigen Dokumentation enthüllt – und die wiederum nur eine Verlängerung einer ohnehin schon langen Liste voller Pannen und Versäumnisse sind.

Schlechter Umgang mit den Hinterbliebenen

Überdies steht der Staat zusätzlich in der Kritik wegen des Umgangs mit den Verletzten und den Angehörigen der Verstorbenen, die Anis Amris Terroranschlag zum Opfer fielen. In einem offenen Brief an Angela Merkel, den der Spiegel in seiner aktuellen Ausgabe abgedruckt hat, werfen sie der Bundeskanzlerin Untätigkeit und politisches Versagen vor. Sie habe es versäumt, „die Reformierung der wirren behördlichen Strukturen“ voranzutreiben, es gäbe „eklatante Missstände“ in den Sicherheitsbehörden, kritisieren die Angehörigen.

Außerdem habe der Staat sie vernachlässigt. Merkel habe nie den Opfern und Angehörigen kondoliert. Es sei eine „Frage des Respekts, des Anstands und eigentlich eine Selbstverständlichkeit, dass Sie als Regierungschefin unseren Familien gegenüber den Verlust eines Familienmitglieds durch einen terroristischen Akt anerkennen“, heißt es in dem Schreiben. Zudem hätten Bürokratismus und Empathielosigkeit von Seiten der Behörden die finanziellen Zahlungen und Hilfeleistungen erschwert. „Wir sind der Auffassung, dass Sie damit Ihrem Amt nicht gerecht werden“, lautet ihr Urteil.

Drastische Vorwürfe

Das Kanzleramt hat inzwischen reagiert. Merkel hat angekündigt, sich mit den Hinterbliebenen treffen zu wollen – ein Jahr nach dem Attentat, auf Druck der Öffentlichkeit. Das Schreiben sei „in vielen Punkten ein berührender Brief und auch ein kritischer Brief“, verkündete Regierungssprecher Steffen Seibert. Während des Treffens wolle Merkel mit den Angehörigen über die Versäumnisse der Behörden sprechen. Außerdem wird sie an der Einweihung der Gedenkstätte am Breitscheidplatz teilnehmen.

Die Vorwürfe gegen die Kanzlerin sind drastisch, und natürlich trägt Merkel nicht die alleinige Schuld für das Behördenversagen. Doch sie steht als Politikerin symbolisch für die Umschweife und Ausflüchte im Fall Anis Amri, für die auch in den Medien allmählich die Geduld schwindet. In ihrer Ansprache letztes Jahr nach dem Attentat schloss die Kanzlerin mit den Worten: „Wir können nicht und wir wollen nicht damit leben, auf all das zu verzichten: auf die Weihnachtsmärkte, die schönen Stunden mit Familie und Freunden draußen auf unseren Plätzen. Wir wollen nicht damit leben, dass uns die Angst vor dem Bösen lähmt. Auch, wenn es in diesen Stunden schwerfällt: Wir werden die Kraft finden für das Leben, wie wir es in Deutschland leben wollen – frei, miteinander und offen.“

Merkel in Erklärungsnot

Die Aufforderung, dem Terrorismus individuell im Alltag zu trotzen, wird aber zynisch und leer, wenn der Staat seinem Sicherheitsauftrag nicht angemessen nachkommt. Persönlicher Trotz verhindert keine Anschläge. Angenommen, das Rechts- und Sicherheitssystem funktioniert solide, und ein rechtlich anerkannter Asylbewerber, der schutzbedürftig ist und immer der Terrorgefahr unverdächtig war, begeht ohne vorherige Anzeichen ein Attentat – dann, und erst dann, ist der Aufruf zu individuellem Trotz angebracht. Erst dann ist er ein wirksames Bekenntnis, mit dem die in einem liberalen Staat immer bestehende Lücke zur hunderprozentigen Sicherheit gefüllt werden kann.

Merkel ist nun in Erklärungsnot. Wenn die vagen Mutmach-Sprüche nicht mit konkreten Maßnahmen – etwa der Einführung eines Untersuchungsausschusses, wie von der FDP und den Grünen gefordert – gefüllt werden, sind sie nur wie die Gefühlsduselei eines Trunkenbolds, der am nächsten Tag, mit nüchternem Kopf, nicht mehr zu seinen Aussagen steht.

Das Kind beim Namen nennen

Allerdings gäbe es eine Aussage, die an sich schon eine Tat wäre: ein radikales Eingeständnis, ohne Umschweife und ohne Rührseligkeit. Dass es ein Fehler war, die Sicherheitsmängel und Pannen nicht klar zu benennen. Dass es ein Fehler war, die Angehörigen der Opfer zu vernachlässigen. Und dass es katastrophal ist, wenn das Asylrecht nicht wie vorgeschrieben umgesetzt wird. Bruno Jost, der Sonderermittler des Berliner Senats, resümiert am Ende der ZDF-Doku frustriert: Anis Amri war vorbestraft, er konnte mit verschiedenen Identitäten von Bundesland zu Bundesland reisen und es hat genügend Anlässe gegeben, um ihn aus dem Verkehr ziehen und abschieben zu können.

Menschlichkeit und konsequente Rechtsdurchsetzung sind nicht zwei getrennte Felder. Menschliche Bedingungen werden durch das Recht gewährleistet. Das Resultat des Behördenversagens ist verheerend, sowohl für die Angehörigen, als auch für die schutzbedürftigen Muslime, die nun ungerechterweise das wachsende Misstrauen in der Bevölkerung zu spüren bekommen.

Ein solches Eingeständnis wird wohl nur ein frommer Kinderwunsch bleiben. Doch es ist grotesk: Wir leben in Zeiten, in denen mit Verweis auf die Macht der Sprache ebendiese reglementiert und moralisch glattgebügelt werden soll. Gleichzeitig herrscht in der Politik jene moralisch fragwürdige Rhetorik des unverbindlichen Nichtssagens, egal wie drastisch der Anlass und die Vernachlässigung seiner Folgen sind.

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